Das elende Zeugnis der Kirchengeschichte
Jahrhundertelang hat das Dogma der Irrtumslosigkeit und Unantastbarkeit jedes Bibelworts zu starker Bindung der Interpretation an den wortwörtlichen Sinn geführt und damit zu hartnäckigen fatalen Missverständnissen.
So wurde noch bis ins 19.Jahrhundert hinein die Duldung von Menschenjagden und Sklavenhandel mit den diesbezüglichen Ermahnungen des Apostels Petrus in der Bibel gerechtfertigt, der forderte, dass „auch ungerechten Sklavenherren zu gehorchen“ sei (1.Pet 3,18-19)
Des weiteren hat der wortwörtliche „Sinn“ biblischer Anweisungen (wie dem Genozidbefehl des Mose (4.Mo 31,17 ff), oder dem Verstümmelungsgebot für Frauen (5.Mo 25,12), für viele der in der Kirchengeschichte geübten Verbrechen an Andersdenkenden und Andersgläubigen quasi die Vorlage geliefert.
In der Gegenwart hat das Tabu einer Distanzierung nach dem Vorbild Jesu (Luk 9,55) seinen Ausdruck in der sogenannten „Chikago-Erklärung“ gefunden. Artikel XVII der Chikago-Erklärung besagt, dass aufgrund der Irrtumslosigkeit der Bibel „nichts, was der Bibel widerspricht, von Gott sein könne„.
Tatsächlich? Dann wäre also auch der Genozidbefehl, der die massenhafte Tötung von männlichen Kindern und verheirateten jungen Mädchen anordnete, nach der Chikago-Erklärung „richtig, untadelig und gut“ und die Kritik daran „gottlos„.
Soweit die Theologie den Gläubigen nicht erlaubte, sich vom wortwörtlichen Sinn solcher Befehle öffentlich zu distanzieren, konnten solche Textstellen das theologische Denken weiter stark beinflussen und zur seiner Brutalisierung beitragen, wie z.B. bei Luther zu sehen ist, der bei aller tiefen Gläubigkeit nicht nur zur Verfolgung von Juden und Wiedertäufern aufrief, sondern auch mit bestem Gewissen die Hinrichtung rechtgläubiger Prediger forderte, die ohne landesherrliche Lizenz auftraten. Indem das Dogma der Verbalinspiration willkürlich erscheinende Einschränkungen des Liebesgebots impliziert, hat es auch heute noch bedenkliche Folgen für die Seelsorge für Gläubige, die von religiöser Depression oder Angst vor der Hölle betroffen sind.
Leider sind bis heute viele Evangelikale bemüht, dass über diese Nebenwirkungen ebenso Stillschweigen gebreitet wird wie über die finsteren Seiten kirchlicher Persönlichkeiten.
Nach biblischer Priorität gilt: “Der Inhalt ist wichtiger als die Form” (Rö 2). Die Prüfung des Inhalts stellt immer einen Bezug zu den Qualitätsmaßstäben Christi her.
Die Christen Wesley und Wilberforce haben mühsam den Weg zur Überwindung der Sklaverei im Jahre 1807 gebahnt, indem sie 18 Jahre lang immer wieder auf die überragende, indiskutable Bedeutung des Barmherzigkeitsgebots hingewiesen haben. Jesus selbst hatte die Anerkennung von Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Treue als Gebote mit höchster Priorität gefordert. (Mt 23, 23). Mit Hilfe dieser Maßstäbe kann der Gläubige alle Sätze der Bibel bewerten und rangmäßig einordnen. Der Gläubige ist befähigt, und aufgefordert, diese Arbeit zu tun (1.Kor 2,15-16). Auf diesem Weg wird Eindeutigkeit des Gottesbildes, der Ethik und der Heilszusagen hergestellt. Das Gewissen des Gläubigen bleibt geschützt und er wird nicht verführt, wider besseres Wissen zu reden.
Nur wenn man diese biblische Ordnung ignoriert, kann der Gläubige in den Wahn geraten, er würde dem Willen Gottes desto besser entsprechen, je enger er sich an den Wortlaut der Bibelstelle hält. Der Grad der formalen Übereinstimmung soll dann für die Heiligkeit der Auslegung garantieren. Ein Irrtum ! Wenn die formale Übereinstimmung die Heiligkeit, Irrtumslosigkeit und Unantastbarkeit der Auslegung garantiert, kann sie durch den Hinweis auf schädliche Folgen nicht mehr in Frage gestellt werden. Ist der Hinweis auf schädliche Folgen tabu, so ist der Inhalt der Form nachgeordnet. Damit stellt man – ohne es zu merken – ein grundlegendes biblisches Prinzip auf den Kopf und erliegt den typischen gesetzlichen Illusionen. Die Folge sind gefährliche, aber auch harmlose Missverständnisse.
Das Problem lässt sich sehr gut am Beispiel des mosaischen Sabbatgebotes verdeutlichen. Das Gebot besagte: “Wer am Sabbat Arbeit tut, soll ausgerottet werden aus meinem Volk” (Ex 31,14). Aus der rigorosen Formulierung zogen die damaligen Bibelexperten den Fehlschluss, dass man am Sabbat gar nichts tun dürfe, nicht einmal etwas Gutes.
Jesus aber setzte dagegen, dass man am Sabat Gutes tun darf (Mt 12,12) und nennt gleich das Grundprinzip auch der strengsten Gebote: “Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.” (Mk 2,27).
Dieser Satz beschreibt sehr eindrücklich den Unterschied zwischen bloß wörtlich-formalem und inhaltlichem Verstehen. Die folgenden schlimmen Beispiele zeigen uns, wie oft die Anweisung Jesu in der Kirchengeschichte ignoriert wurde. Man machte genau das Gegenteil: das Gebot wurde wichtiger als der Mensch. Statt ihm zu nützen und zu helfen, schadete es ihm. “Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig” (2.Kor 3,6) Gott will solche Auslegung nicht!
Indem die Bibel ist uns missverständlich gegeben ist, gibt sie den Gläubigen die Möglichkeit, Machtmenschen und Machtmissbrauch in der Gemeinde zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Machtmenschen werden sich an der tödlichen Wirkung des Buchstabens nicht stören, sondern sie für ihre Zwecke nutzen. Jesus sah den Missbrauch kommen: „Von den Tagen des Johannes des Täufers an bis heute leidet das Reich Gottes unter der Gewalttätigkeit. Die Gewalttätigen reißen es an sich.“ (Mt 11,12)
Weitere Beispiele für gefährliche Missverständnisse in der Kirchengeschichte:
“Wer Sünde tut, ist vom Teufel” (1.Jo 3,8). Der Apostels Johannes hat biblische Wahrheit in dem für ihn typischen „holzschnittartigen“ Stil herausgearbeitet. Das wortwörtliche Verständnis führte zum Fehlschluss, dass der Christ einen Zustand der Heiligkeit erlangen muss, in dem er sich keiner Sünde mehr bewusst wird. Das erscheint irgendwie „logisch“ aus dem Bibeltext hergeleitet – und doch ist man erstaunt, dass Menschen diesen Unsinn glauben konnten.
Was ist nun die Folge dieses Wahns? Nachvollziehbar ist, dass Gläubige massiv seelisch unter Druck gesetzt und überfordert werden. Wer diesen hohen Anspruch an sich stellt, kann nur verzweifeln. Man kann sich andererseits vor Überforderung schützen, indem man sich mit einer sehr oberflächlichen Vorstellung von “Vollkommenheit” begnügt. Macht das Sinn? Paradoxerweise kann diese Lehre also auch zur Unfähigkeit führen, sich auf Fehlverhalten hinweisen zu lassen. Wie merkwürdig: derselbe Autor schreibt auch: “wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst” (1.Jo 1,8).
Da die Bibel vom Gläubigen “Vollkommenheit” (Mt 5,48) verlangt, liegt auch der folgende fatale Schluss nahe: “fortgesetzte Unvollkommenheit” ist ein Beweis für die Zugehörigkeit zum Teufel, mithin für den Verlust des Heils.
In einer Welt, in der selbst der bemühte Gläubige immer mit einem Bein in der Hölle steht, wundert es nicht, wenn ihm dabei gründlich das Lachen vergeht. Ja, wer ein deprimierendes Gottesbild hat, kann selbst das Lachen zur Sünde erklären. “Närrische Scherze ziemen euch nicht” (Eph 5,4). Da steht es ja geschrieben! Manche Fromme meinten sogar, dass Christus nie gelacht habe, weil es nicht in den Evangelien berichtet wird. Besonders wohlgefällig wäre Gott eine verkrampfte Lebenseinstellung, die zum Trübsinn neigt.
Tatsächlich? Wer genau liest, erkennt den Unsinn. In den Psalmen wird berichtet, dass Gläubige lachen sollen (Ps 126,2). Kinder lachen gerne und sollen Christen in ihrem Verhalten (1.Kor 14,20) – nicht in ihrem Denken! – ein Vorbild sein (Mt 18,3). Das erste Zeichen das Jesus tat, war das Herstellen von etlichen Hundert Litern Wein für eine Hochzeitsfeier (Joh 2). Am Ende der Weltgeschichte wird das Reich wieder beginnen mit einer großen Hochzeitsfeier (Offb 19,7)
Der ethische Vollkommenheitswahn belastete die Seele mit künstlichen unlösbaren Problemen, lähmte den Selbsterhaltungstrieb und drängte in die Resignation. “Wer dich schlägt, dem halte die andere Backe auch hin” (Mt 5,39). Wortwörtliches Verständnis: der Gläubige ist zu feigem Duckmäusertum verpflichtet und muss bei Unrecht tatenlos zusehen. Heute noch wird in vielen christlichen Gemeinden Unrecht gleichgültig geduldet.
Der ethische Vollkommenheitswahn konzentrierte sich insbesondere auf die sexuellen Bedürfnisse des Menschen und vergiftete jahrhundertelang bis heute die Gewissen. “Wenn dich dein Auge zur Sünde verführt, steche es aus” (Mt 5,30). Das wortwörtliche Verständnis brachte einen Menschen wie Origines in eine unmenschliche Zwangslage. Er kastrierte sich selbst, um nicht durch sexuelle Begehrlichkeit in die Hölle zu kommen.
Hat Jesus das gemeint? Das Wort “begehren” (grie: επιθυμησαι) in Mt 5,28 verweist aber auf das im Zehngebot genannte Verbot des “Begehrens”, mit dem der Wille, etwas Unerlaubtes in seinen Besitz zu bringen, gemeint ist, was nicht nur die Frau des Nachbarn (Septuaginta: ουκ επιθυµησεισ την γυναικα), sondern auch sein Haus oder sein Esel sein kann (2.Mo 20,7). Es gibt also keinen Beweis, dass hier sexuelle Phantasien gemeint sind, sodass der Gläubige nicht daran verzweifeln muss, dass er mit Hormonen geschaffen worden ist. (Details)
Die Frau wurde als Quelle der Versuchung und Unordnung stark abgewertet. Dem Wortsinn der Bibel folgend war ihr nicht einmal erlaubt, in der Gemeinde „Fragen zu stellen„. (1.Kor 14,34-35) “Das Weib fürchte (φοβηται) den Mann” (Eph 5,33). Das wortwörtliches Missverständnis führte zur Rechtfertigung von Tyrannei und Machotum des Mannes in der Familie! Manche Gemeindelehrer zwingen sogar heute noch eine Christin in ein Martyrium, indem sie die Scheidung unter Berufung auf Mt 5, 32 grundsätzlich verbieten und lehren, dass es eine schwere Sünde sei, einen prügelnden Ehemann zu verlassen.
Fromme Brutalität machte auch nicht vor den Kindern halt. “Wer seine Rute schont, hasst seinen Sohn” (Spr 13,24). Etliche Gläubige rechtfertigten mit diesem Satz eine primitive Prügelpädagogik, die dank völliger Einschüchterung der Überzeugungskraft nicht mehr bedarf, und wunderten sich dann, dass die Kinder – kaum erwachsen geworden – vom christlichen Glauben nichts mehr wissen wollten.
Der massive seelische Druck, der auf die Gewissen mit ethischem Rigorismus, insbesondere dem Reinheitswahn sowie mit der Androhung ewiger Höllenstrafe ausgeübt wurde, erzeugte in den Seelen der Menschen reichlich Aggression und das Bedürfnis, Sündenböcke zu identifizieren, gegen deren „Schlechtigkeit“ man selbst wohltuend kontrastieren konnte.
“Sein Blut komme über uns und unsere Kinder” (Mt 27,25). Mit dieser Selbstverfluchung, die Jesu Ankläger vor Pilatus äußerten, wurde später immer wieder die Verfolgung der Juden gerechtfertigt, im Wahn, dass Christen diesen Fluch an allen Juden vollstrecken dürften.
Mit dem Gebot, „Zauberinnen nicht am Leben zu lassen“ (Ex 22,18) wurde die Anklage wegen Hexerei und Ermordung tausender Frauen und Mädchen begründet.
Der Genozidbefehl des Mose ließ die erbarmungslose Vernichtung des Gegners, die keinen Unterschied mehr zwischen Zivilisten und Soldaten machte, in einem politischen Konflikt als mögliche, ja im Interesse der nachhaltigen Schwächung des Gegners gebotene Option erscheinen.“Seid untertan der Obrigkeit” (Rö 13,1). Wie oft hat das wortwörtliche Verständnis dieses Satzes zur Rechtfertigung schrecklichster Greuel gedient! Er nährte auch den Wahn, dass der Gläubige nichts zum Sturz einer verbrecherisch handelnden Regierung beitragen dürfe. Die Mehrheit der Christen Deutschlands haben sich im dritten Reich entsprechend verhalten.
“Gehorcht euren Lehrern und folgt ihnen” (Hebr 13,17) Die Wurzel allen Übels, nahezu aller fatalen Missverständnisse in der Kirchengeschichte ist das wortwörtliche Missverstehen dieses Satzes. Es ist ein gefährlicher Wahn, dass ein Christ sich der Gemeindeleitung kritiklos unterwerfen (“Obrigkeit“) müsse, selbst wenn sie falsch handelt, selbst wenn sie selbst geistliche Autorität außerhalb des Amtes nicht respektiert (Laien-Bote). Es ist ein gefährlicher Wahn, dass er ihr Verhalten und ihre Lehre nicht an den Maßstäben Jesu prüfen dürfe. Paulus tadelt die Mitglieder der Gemeinde in Korinth, dass sie sich ausnutzen und für dumm verkaufen lassen: „Ihr duldet es tatsächlich, wenn euch jemand versklavt, wenn er euch sinnlos wehtut und eure Freiheit kaputt macht und sich dabei noch nicht einmal korrigieren lässt, sondern dann erst recht brutal wird.“ (2.Kor 11,20).
Die Autorität des Gemeindeleitung ist immer an die treue Erfüllung seelsorgerlicher Pflichten gebunden “…denn sie wachen über eure Seelen und müssen dafür später Rechenschaft ablegen” (Hebr 13,17). Sie nimmt spezifische Aufgaben der seelsorgerlichen und materiellen Versorgung der Gemeinschaft wahr. Gott hat Christen unterschiedlich ausgestattet und einigen die spezielle Begabung zur Leitung oder zur Lehre gegeben (1.Kor 12:28-30), um der Gemeinde mit ihren Gaben zu dienen.
Auch wenn sich die Gemeinde bei der Auswahl der Leiter vom Heiligen Geist leiten lässt, können diese Begabungen schlecht genutzt oder missbraucht werden – zum Herrschen statt zum Dienen. „Wir jedenfalls wollen nicht Herren über euren Glauben sein, sondern vielmehr Diener, die für eure Freude arbeiten.“ schrieb der Apostel Paulus. (2.Kor 1:24) Wie weit ist davon doch das „monarchische Selbstverständnis“ etlicher Gemeindeleiter mit seinen typischen destruktiven Motiven – dem ichbezogenen Streben nach Einfluss, Macht, Geld, Ansehen, Beliebtheit – entfernt!
Deshalb bleibt die eigentliche Autorität in der Gemeinde die Gemeinschaft der Gläubigen (Konvent). Sie hat das Recht, die Gemeindeleitung an den Maßstäben Jesu zu prüfen und ggf. mit Hilfe des schiedsgerichtlichen Dienstes Mitglieder der Gemeindeleitung sowie Gemeindeleiter, die Unrecht im Amt begehen, zu disziplinieren oder – wenn nötig – aus dem Amt zu entfernen. Sie delegiert Autorität an die Gemeindeleitung, die sie wählt, ergänzt oder ganz neu besetzt.
Erst die Trennung zwischen Kirche und Staat hat viele der hier skizzierten Ausprägungen der frommen Gewalt nachhaltig eingedämmt.
Gleichwohl wurde den Kirchen weiter das Recht der schulischen Erziehung und Gewissensbildung zugestanden. Naiv wurde ihnen von vornherein aufgrund ihrer (vermeintlich) guten Absichten Unbedenklichkeit unterstellt – ohne auf einem öffentlichen Prozess kritischer Selbstprüfung zu bestehen. Deshalb beinhaltete die theologische Autorität der Kirche immer zugleich ein Nötigungsprivileg, d.h. das selbstverständlich beanspruchte Recht, Gläubige nach eigenem Ermessen mit Androhung göttlicher Strafen, insbesondere der Strafe ewiger Verdammnis zu bedrohen und zu ängstigen.
Infolgedessen können auch heute noch einzelne Menschen unter ungünstigen Bedingungen gesundheitlich schwer geschädigt werden. Unter der Überschrift “Giftige Theologie“ werden mehr als 30 gefährliche Lehrsätze kommentiert, die heute noch das Leben von Gläubigen destruktiv beeinflussen können. Bis heute noch tun sich die Kirchen sehr schwer, Gläubige über diese Gefahren angemessen zu informieren – zu ehrlich darf es nicht werden, damit „der Glaube“ möglichst werbewirksam präsentiert werden kann. („Blinder Fleck„)
Danke für diese Klarstellungen!