Sexueller versus religiöser Missbrauch

Das Thema „sexueller Missbrauch“ findet in der Öffentlichkeit breiteste Aufmerksamkeit.
Wenig bekannt ist, dass religiöser Missbrauch mindestens ebenso schlimme Folgen hat. Die folgende Übersicht vergleicht sexuellen Missbrauch und religiösen Missbrauch im Detail.
religiöser Missbrauch

By Milliped (Own work) [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons

Vergleichspunkt sexueller Missbrauch religiöser Missbrauch
Feststellung beobachtbarer, leicht beschreibbarer Vorgang komplizierter, schwer durchschaubarer, in unauffälligen, kleinen Schritten kumulierender Prozess seelischer Zerstörung
Machtquelle Bedrohung des Kindes oder des Jugendlichen durch einen intellektuell oder kräftemäßig überlegenen Erwachsenen, Ausnutzung der wirtschaftlichen oder psychischen Abhängigkeit oder Schwäche eines Erwachsenen. Bedrohung durch eine unsichtbare Person, ausgestattet mit unbegrenzter Macht und zweideutigem (sowohl Gutes wie auch Bösartiges zeigenden) Charakter, die ein Höchstmaß an ethischer Leistung fordert, diese ständig überwacht und ungenügende Leistung mit ewiger Höllenqual bestraft.
Höchstmaß der Bedrohung  Angst vor Erniedrigung und vor körperlicher Schädigung durch einen Menschen Unablässig quälende Angst vor ewiger Folter und Verlassenheit in der Hölle und ewiger Trennung von allem, was lieb, gut und schön ist.
Psychologische Machtbasis Scham, schlechtes Gewissen, Befürchtung, durch Aufdeckung der Tat der Familie oder der Institution zu schaden. Zunehmende „Gewissheit“ wegen wiederholter Missachtung des ewigen göttlichen Gesetzes die Bestrafung mit der Hölle verdient zu haben.
Häufig unterstellte Ursachen Verdächtigung der Mittäterschaft (ab einem gewissen Alter) Behauptung, die Angst sei nur vorgespielt, um moralisches Versagen zu entschuldigen, oder: Behauptung, der Betroffene sei „geistig nicht normal“ oder „übersensibel“.
Zugrunde liegender Denkfehler „Ich habe das Recht, meine pädophile, sadistische, übergriffige Veranlagung gegenüber Kindern oder Erwachsenen auszuleben.“

„Kinder mögen solche frühzeitigen sexuellen Erfahrungen.“

Die wichtigsten Gebote Jesu (Mt 23,23) werden als zweitrangig eingestuft. Stattdessen erhält höchste Priorität bei der Auslegung der Glaubensurkunde (Bibel) 
a) in der kathol. Kirche: die Entscheidung des Papstes und der Konzile,
b) in evangelikalen Gemeinden mit einem buchstabenhörigen Bibelverständnis (2.Kor 3,6): ist die auf Wortsinn, Kontext und traditionelle Denktabus beschränkte Auslegung verpflichtet ausnahmslos alle, auch die destruktivsten und bösartigsten Berichte und Drohungen als unfehlbar, heilsam, dem göttlichen Charakter entsprechend und über jeder Korrektur stehend zu verteidigen.
Motiv der Täter sexuelle Gier, Machterlebnis Aufwertung der eigenen Person als Segensvermittler, Machterlebnis durch Teilhabe am Einfluss der eigenen Religion, Vermeidung eigener Bedrohung („Stockholm-Syndrom„)
Folgen der Tat im schlimmsten Fall untherapierbare Traumata, Beziehungsunfähigkeit, wirtschaftlicher Ruin, Suizid. untherapierbare Traumata, Beziehungsunfähigkeit, wirtschaftlicher Ruin, Suizid.
Position des Täters nach Aufdeckung der Tat Der Täter steht isoliert und alleine da, das Umfeld distanziert sich von ihm Die religiöse Gemeinschaft solidarisiert sich mit den Tätern, die sich auf die allgemein akzeptierte Ideologie berufen können.
Bildung von Einsicht in die Verwerflichkeit der eigenen Tat Der Täter kann die allgemeine gesellschaftliche Ächtung mildern, indem er Einsicht in die Verwerflichkeit seiner Tat zeigt. Die Täter zeigen keine Einsicht, sondern sind überzeugt, böswilliger Kritik ausgesetzt zu sein und unschuldig wie Märtyrer zu leiden.
Wiederholungsgefahr nach Aufdeckung Bedrohung kann minimiert werden durch Berufsverbot bzw. räumliche Trennung von Täter und Opfer. Die Bedrohung kann nicht beseitigt werden, da sie im Denken verankert ist und die Seele an jedem Ort weiter vergiften wird.
Rechtsfolgen für den Täter Strafrechtliche Ahndung (sofern die Tat nicht verjährt ist), evt. zivilrechtlicher Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz. Überhaupt keine! Schadenersatzregelungen wären möglich („Gemeinde-Haftpflicht„), waren aber bisher nicht durchsetzbar.
Selbsthilfegruppen Da sexuelle Nötigung ein Straftatbestand ist, macht die Bildung von Selbsthilfegruppen Sinn, in denen die Anliegen der Betroffenen von Anwälten gesammelt und an die Justiz weitergegeben werden. Selbsthilfegruppen machen keinen Sinn, da religiöse Nötigung kein Straftatbestand ist und die herkömmlich-bibeltreue Theologie nicht in der Lage ist, eine brauchbare Definition religiöser Nötigung zu liefern. Folglich wäre die einzige „Frucht“ einer Selbsthilfegruppe eine sinnlose Retraumatisierung, woran niemand Interesse haben kann.
Solidarität mit den Opfern Opfer können sich solidarisieren dank eines breiten öffentlichen Interesses. Opfer bleiben isoliert und vergessen. Ein öffentliches Interesse ist nicht vorhanden. Auch innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft finden Opfer kaum Gehör.

 

Starke und chronische Ängste können entstehen, wenn Gebote des Neuen Testamentes so interpretiert werden, dass der lebensfördernde Sinn (Mt 4,4) verlorengeht.

Leider hat sich aber gezeigt, dass der Versuch, diese Informationen unter Gläubigen bekanntzumachen, von theologischer Seite häufig behindert wird. („Gesetz der 50-jährigen„).

Die Sorge um den eigenen Einfluss, Angst vor der Kritik anderer Gläubiger, Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit haben immer wieder einen viel höheren Stellenwert als die Freude, einen Mitchristen vor der Psychiatrie bewahrt zu haben.

Deshalb ist als erste dringliche Maßnahme ist die Verpflichtung zur Transparenz geboten.

augefisch_136Transparenz kann jede Gemeinde unverzüglich herstellen, nämlich durch Zulassen einer zensurfreien Diskussionskultur, ggf. auch durch Änderung der Gemeindeordnung und durch Anpassung der Arbeitsverträge der lehrenden Gemeindemitarbeiter.

Auch der Staat kann hier einen wichtigen Beitrag leisten: indem er nämlich überprüft, ob eine evangelikale Hochschule bzw Ausbildungsstätte das Kennenlernen anderer Sichtweisen zulässt oder ob sie in manipulativer Weise aussortiert.

 

 

 

 

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Artikel aktualisiert am 14.10.2024

4 thoughts on “Sexueller versus religiöser Missbrauch”

  1. Hallo Benignus,
    ich finde die Darstellung auch sehr eindrucksvoll, aber ich finde es schade, dass sexueller Missbrauch dort ein bisschen “runtergespielt” wird. Als ich mir den Vergleich durchgelesen hab, habe ich das Gefühl bekommen, dass die religiöse Gewalt viel schlimmer als sexueller Missbrauch ist. Ich denke aber, dass solch eine Abstufung nicht geschehen sollte. Ich habe das Gefühl, dass viele Punkte in der Tabelle vergessen wurden, denn nur weil der Täter bestraft werden kann, heißt es nicht, dass das Opfer nicht noch das ganze Leben unter den physischen Folgen leidet. Außerdem fände ich es interessant Gemeinsamkeiten hinzuzufügen, wie dass beide Arten des Missbrauches allen Altersgruppen passieren können. Nichtsdestotrotz sollten beide Themen (noch) mehr Aufmerksamkeit bekommen, um Opfern zu helfen.
    Bei diesem Thema finde ich es vor allem problematisch, wie die Bibel als Werkzeug benutzt wird um Leute einzuschüchtern und Angst zu machen. In den Erfahrungsberichten ist mir aufgefallen, wie viele konstant Panik und Angst haben, etwas falsch gemacht zu haben und zu sündigen. Ich bin der Meinung, dass kein Mensch das Recht zu hat, zu bestimmen, wie anderen ihren Glauben ausleben sollten. Dieser Art von Missbrauch finde ich sehr beängstigend und deswegen finde ich diese Seite sehr wichtig, um Menschen Mut zu geben und zu helfen.

    1. liebe Nachfragende
      dein Beitrag bringt eine sehr wichtige Ergänzung, die in den tabellarischen Vergleich hineingehört. Es lag nicht in meiner Absicht, den Eindruck entstehen zu lassen, dass sexueller Missbrauch „harmloser“ sei als religiöser Missbrauch. Das ist gar keine Frage, dass beides schlimmste Folgen haben kann – bis hin zum Ruin und zum Suizid. Es besteht auch keine Frage, dass sehr viele Menschen religiöser Übergriffigkeit ausgesetzt waren, die ohne ernste Folgen geblieben ist. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied, den die Tabelle aufzeigt: da vergleichsweise sehr viele Menschen von sexuellem Missbrauch betroffen sind, gibt es eine öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema. Die Bürger, die Politik, die Presse sind sensibilisiert, sodass ein Prozess angestoßen worden ist, der sich um fortschreitende Verbesserung des Opferschutzes kümmert. Für die Opfer des religiösen Missbrauchs gibt es gar nichts. Im Land Bremen habe ich nicht einmal eine einzige Selbsthilfegruppe gefunden – vom Opferschutz ganz zu schweigen.
      Kirchliche Autorität hat sich in der Geschichte immer als wichtiger Faktor für die Eindämmung des „Volkszorns“ erwiesen, der als Reaktion auf ungerechte Verhältnisse sehr schnell entstehen kann. Auf dieses Beruhigungsinstrument will die Politik nicht verzichten und hat sich daher aus Streitigkeiten um Gebrauch und Missbrauch von kirchlicher Autorität stets herausgehalten. Sie ist auch deshalb um gutes Einvernehmen bemüht, weil religiöse Gemeinschaften große Wählergruppen mobilisieren können. Wie weit das geht, sehen wir an dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2005, das der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas das Recht zugestand als Körperschaft öffentlichen Rechts Kirchensteuern zu erheben. Alle Hinweise von Aussteigern auf die Opfer des Bluttransfusionsverbots, auf die Folgen rigider Erziehungspraxis änderten daran nichts – sie wurden vor dem Gericht wohl als „bedauerliche Einzelfälle“ eingestuft. Auch wenn so ein bedauerlicher Einzelfall dann Suizid begeht, es bleibt dennoch ein „bedauerlicher Einzelfall“, der kaum größeren Eindruck hinterlässt als der Krimi am letzten Samstagabend.
      Das ist auch die Ausrede der Kirche, die es ablehnt, sich mit religiösem Missbrauch zu befassen. Wenn ein Mensch dank ihrer Lehre psychisch beschädigt wird, dann sei der Grund eben eine krankhafte Übersensibilität, die der Betroffene schon von vornherein mitgebracht hätte. Dafür sei die Kirche nicht verantwortlich.
      Es ist daher sinnvoll, zu beweisen, dass der Fehler in der Lehre liegt. Und das ist auch nicht schwer. Wenn eine Glaubenslehre ein Glaubensdokument wie die Bibel in allen – auch unzweifelhaft destruktiven – Aussagen für unfehlbar und irrtumslos erklärt, dann ist es nachvollziehbar, dass zuvor stabile Menschen verunsichert, geängstigt und psychisch instabil werden können.
      Der Wahn der irrtumslosen Bibel wird von einer einflussreichen Institution weltweit vertreten und verteidigt. In Deutschland ist es die Evangelische Allianz Deutschland (EAD). In Bremen die Evangelische Allianz Bremen (EVAB), der sich viele Freikirchen und etliche Filialen der Landeskirchen angeschlossen haben. Letzteres ist in Bremen möglich, da es dort keine Hierarchie mit Bischof gibt, sondern alle Gemeinden Glaubens- Lehr- und Gewissensfreiheit genießen. Wer in einer Gemeinde der EVAB lehren will, der muss zuvor eine Ausbildung an einer „bibeltreuen“ (d.h. dem Dogma der biblischen Irrtumslosigkeit verpflichteten) Hochschule mit Erfolg absolviert haben, die ihn auf Linie trimmt. Das Wort „bibeltreu“ hat sich als ein sehr wirksames Schlagwort erwiesen. So soll jeder Gläubige, der an diesem Dogma zu zweifeln wagt, gleich wissen, dass er der Bibel untreu, damit Gott untreu, überhaupt ein Verräter des Glaubens ist und mit einem Bein in der Hölle steht.
      Wie aber leicht nachzuweisen ist, hat Jesus den frommen Bibellehrern seiner Zeit vorgeworfen, dass sie die Glaubensurkunde zwar verehrten und penibel auslegten, aber gegen seine wichtigsten Grundsätze verstießen (Mt 23,23). Sie hielten sich also für „bibeltreu“ und „Gott wohlgefällig“ aber waren es gar nicht. Somit lässt sich falschverstandene destruktive Bibeltreue durch das konstruktive Konzept „Bibeltreue Update 2.0“ ersetzen, dass die konsequente Einhaltung des Qualitätsmaßstäbe Jesu fordert und alle anderen Aussagen in der Glaubensurkunde damit beurteilt.

  2. Hallo Benignus,
    die Gegenüberstellung finde ich total eindrücklich und aufschlussreich! Mir stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie Betroffene dahingehend unterstützt werden können, dass sie die Gemeinden wechseln. In einem mir bekannten Fall wurde das von Menschen, die in ihrer Gemeinde massive Probleme mit Lehrmeinungen hatten, überhaupt nicht in Betracht gezogen, da auf andere Gemeinden eher „herabgeschaut“ wurde und deren Mitglieder nicht als „wahre Christen“ angesehen wurden. Diese Lehrmeinung der eigenen Gemeinde wurde dermaßen verinnerlicht und verhinderte einen Umzug in eine andere, obwohl dies eine Art Befreiung gewesen wäre. Sicher gibt es hier keine Patentantwort, aber der religiöse Missbrauch von einzelnen Gruppen mit bestimmten Lehrmeinungen scheint Teil eines „Gesamtkonzepts“ zu sein, leider.

    1. Ich sehe eine Chance eigentlich am ehesten in einer möglichst frühen Immunisierung junger Menschen. Die Schule ist ein sehr guter Ort dafür, da man dank der Schulpflicht kaum gegen unerwünschte Information abgeschirmt werden kann wie es in der Familie oder religiösen Gemeinschaft leicht möglich ist. Die Nutznießer des religiösen Missbrauchs versuchen natürlich, die Aufnahmebereitschaft für religiöse Korrektur durch Schürung irrationaler Ängste zu stören. Um so wichtiger ist, dass man in einer sensiblen und barmherzigen Weise argumentiert, die den Gesprächspartner möglichst niemals überfordert. Nur wenn Vertrauen entsteht, wird die allergische Schockreaktion vermieden, „kann die Kugel weiter rollen,“ sodass mehr und mehr Information übermittelt werden kann. Man sollte deshalb selbst bereit sein, alles, was bei dem anderen irgend gut oder vertretbar sein könnte, anzuerkennen, und Bereitschaft zeigen, auch von ihm zu lernen. Es ist überhaupt von Vorteil, viel mit Fragen zu arbeiten, und möglichst nie mit Behauptungen. Eine brauchbare Vorgehensweise ist daher indirekt: zB das Studium von Leidensberichten Betroffener oder die Thematisierung von vorsätzlicher Täuschung in der religiösen Argumentation. Man kann auch erörtern, warum das religiöse Selbstbestimmungsrecht als unverzichtbarer Schutz für seelische Stabilität angesehen werden kann. Überhaupt nicht zielführend ist dagegen die plumpe Herabwürdigung der Bibel. Es gibt viel Gutes in ihr, dass fairerweise nicht ignoriert werden darf. Wenn man es dennoch tut, ist der andere nur im Recht, wenn er seinerseits alles Weitere ignoriert. Zudem werden dadurch die andressierten Ängste getriggert und die scheinheiligen Warnungen der Manipulateure „bestätigt“. Wenn man vorsichtig verfährt, so erntet man vielleicht die Freude, einem Mitschüler den entscheidenden Hinweis gegeben zu haben, der ihn vor späterem Schaden bewahrt.

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