Zurückgeblieben?

Kann es eine glaubwürdige Stellungnahme zu destruktiven Bibelstellen in buchstabenhörigen Gemeinden geben?

Immer wieder macht man dieselbe Erfahrung: sobald die Rede auf problematische Bibelstellen kommt, wird nicht informiert, sondern taktiert. So wird  zB. behauptet, der unsägliche Befehl des Mose, alle Kinder und Frauen eines heidnischen Volkes totzuschlagen – die Frauen ausgenommen, die noch Jungfrauen sind und geheiratet werden können. (Num 31,17-18) und anschließend die .Kleider zu waschen, um wieder „rein“ zu werden (V.24), dieser bösartige Befehl stamme gar nicht von Gott, sondern von Mose. Dabei ist doch völlig klar, dass diese angeblich eigenmächtige Anordnung des Mose – auf dem grauenhaften Niveau eines Heinrich Himmler ! -als sinnloser Massenmord  ein monströser Verstoß wäre gegen das Gebot zu töten (2Mo 20, 13) sowie gegen das Schutzgesetz, das verbietet, Kinder für die Sünden der Eltern büßen zu lassen (5Mo 24,16). Jeder Religionslehrer hätte mit einer solchen Aktion seine Autorität für alle Zeiten demontiert, und müsste es sich gefallen lassen, dass hinfort jeder Gläubige einen großen Bogen um ihn macht und sich von ihm überhaupt nichts mehr sagen lässt.

Und selbst wenn man den Befehl des Mose als privates Verbrechen abtun könnte, so bleiben immer noch andere destruktive Bibelstellen, bei denen das nicht möglich ist. Selbst dann bliebe noch die Frage im Raum stehen, warum es kein einziger der angeblich inspirierten Verfasser es für nötig hält, sich wenigstens später von solchen grauenhaften Verbrechen zu distanzieren!

In buchstabenhörigen Gemeinden lernen die Gläubigen, solche Inhalte mit einer Sprachregelung zu tarnen. Sie werden als „dunkle“ Stellen bezeichnet. „Dunkel“, „schwierig“ – das klingt harmlos. Doch diese typischen Vernebelungsphrasen dienen der Ablenkung. Sie sollen dem Gläubigen vorgaukeln, dass eine Distanzierung überflüssig wäre. Es ist derselbe alte Hut, der Missbrauch des Vertrauensbegriffs.  Gerade die „dunklen“ Stellen sollen weiterhin über jeder Kritik stehen, denn der Gläubige habe nicht genug Licht, um den angeblich guten (!) Sinn zu erkennen. Er sei aufgerufen darauf zu „vertrauen“, dass Gott ihm diesen Sinn später offenbaren wird. So wird die Schizophrenie, dass Gott Liebe fordert und selbst grenzenlos Böses tut, weiterhin zu einem vertrauensstörenden Gottesbild führen. 

Dieses Verhalten wird sogar als besondere Glaubenstreue bewertet. Was daran charakterstark sein soll, erschließt sich nicht direkt. Es ist doch kein Kunststück einer Person mit unbegrenzter Macht, die jederzeit furchtbar strafen kann, nach dem Mund zu reden. Unter dem Begriff „Stockholm-Syndrom“ ist das Phänomen bekannt, dass sich Entführungsopfer die Anschauungen ihrer Entführer zu eigen machen, weil dadurch die eigene Situation erträglicher wird. Man redet sich die üble Tatsache schön, erst recht, wenn man zuvor mit ungeahnt schönen Gefühlen versorgt wurde. Freude über die Vergebung sowie Erwählungs- und Sendungsbewusstsein, sind Gefühle, die suggerieren: wer so schön versorgt, könne nichts Unrechtes tun. Auch die gut versorgten Günstlinge eines Diktators pflegen bei dem Unrecht, dass dieser andernorts anrichtet, wegzuschauen. Das soll man nun im Ernst glauben, dass Jesus eine ähnlich schmierig-servile Einstellung, die man nur als charakterliche Fehlprägung bezeichnen kann, bei seinen Jüngern haben wollte?

Zur Vernebelung der Tatsache der Charakterschädigung haben sich verschiedene fromme Phrasen bewährt. So wird behauptet, dass unschädlich seien, weil der Gläubige alles, an Christus, dem „Zentrum der Schrift“, an seinem Liebesgebot messen müsse. Das klingt sehr fromm. Aber es ist wieder dieselbe alte scheinheilige Methode. Denn ein wirkliches Messen, d.h. Beurteilen findet ja  gar nicht statt. „Messen“ ist hier ein Tarnwort für „verdrängen“. Es soll verdrängt werden, dass verdrängt wird. Eine Distanzierung von dem Bösartigen in destruktiven Bibelstellen wird auch jetzt vermieden. Die bösartigen Inhalte bleiben damit weiter unfehlbare Aspekte des göttlichen Charakters, die nur zur Zeit „nicht verstanden“ werden. Wie soll da der Eindruck eines Gottes verschwinden, der mit zunehmender Bibelkenntnis immer mehr als moralisches Zwitterwesen, als unberechenbares Monster nach dem Vorbild des „Mr Jekyll und Mr Hyde“ wahrgenommen wird? Wie soll der Gläubige Vertrauen fassen, dessen Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit und Liebe ohne vernünftigen Grund mit sinnloser Brutalität erschüttert wird?

Der Hinweis auf Christus als „Maßstab“ ändert daran nichts. Nicht zuletzt Christus, der doch soviel von Liebe predigte,  selber werden die grausamsten Aussagen zugeschrieben: Das stärkste Seelengift, die Drohung, man könne sich schon zu Lebzeiten durch ein despektierliches Wort unwiderruflich die ewige Verdammnis einhandeln, stammt ja von ihm. Wieviel Christen haben sich im Laufe der Jahrhunderte sinnlos damit herumgequält! Denken wir nur an das grausame Schicksal von Francesco Spiera.

Eine weiteres Totschlagargument ist der Satz: “ Christus hat am Kreuz seine Liebe zu uns bewiesen. Mehr konnte er nicht tun.“ Das soll den  Eindruck der destruktiven Bibelstellen aufheben? Christus hätte für uns sehr leicht etwas tun können, was ihn weder Schmerzen noch Blut gekostet hätte. Der Apostel Johannes nennt ihn „das Wort“ (1.Joh 1,1). Er selbst bezeugt seine ewige Existenz noch vor seiner Geburt.  (Joh 8,58) Wenn die Bibel tatsächlich Wort für Wort von Gottes Geist eingegeben ist – wie bibeltreue Gläubige behaupten – , dann hatte Jesus von Anfang an den maßgeblichen Einfluss bei der Abfassung der Bibel. Wenn ihm an einer fehlerlosen Bibel gelegen wäre, hätte er dafür sorgen können, dass destruktive Bibelstellen erst gar nicht in die Heilige Schrift hineingelangen. Wie vielen harmlosen Gläubigen hätte er damit unnötige Ängste erspart!

Aber da es nicht geschehen ist, gibt es drei Möglichkeiten: a) Jesus hatte nicht diesen Einfluss, er ist nicht das Wort, auch wenn ihn der Apostel Johannes so genannt hat b) Jesus hat diesen Einfluss, aber es ist ihm egal, ob diese Texte ein Vorbild für gewalttätiges Verhalten bieten und ob sich Gläubige mit diesen sinnlosen brutalen Texte herumquälen, oder c) destruktive Bibelstellen sind menschlicher Einfluss und Jesus erwartet von seinen Jüngern Rückgrat, dass sie sich davon selbständig distanzieren, und solche Texte nicht als Nahrung betrachten, sondern als Impfstoffe, die eine allergische Reaktion hervorrufen sollen..  In dieser Erwartung wurde er leider von buchstabenhörigen Gläubigen, die es schon zu allen Zeiten gab,  bitter enttäuscht.

Sehen wir uns die einzelnen destruktiven Bibelstellen einmal an und vor allem die verheerenden Auswirkungen in der Geschichte, so erkennt jeder, der guten Willens ist, dass man nicht einmal große Salbung braucht , um klarzusehen, sondern dass das Bösartige vielmehr offensichtlich ist. Auch dass wir uns dumm stellen müssten, und so tun als gäbe es nichts zu verstehen, sagt die Bibel nicht. Hören wir zu: „Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt. 16 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen«? Wir aber haben Christi Sinn.“ (1Kor 2,16-17) – „Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehre; … “ (1Jo 2,27) So sagen die Apostel Paulus und Johannes also das Gegenteil. Aber wer glaubt es?

Weil frühere Generationen eben das gedacht haben, dass „niemand verstehen könne“, haben destruktive Bibelstellen eine verheerende Spur durch die Geschichte gezogen, Menschen falsch geprägt, und die Existenz zahlloser unglücklicher Menschen vernichtet. Darüber wissen die Gläubigen buchstabenhöriger Gemeinden nichts. Sie sollen es auch nicht wissen. Sie wissen gewöhnlich auch wenig oder gar nichts über die Entgleisungen sogenannter Gottesmänner wie zB. Martin Luther, der die Destruktivität der biblischen Prägung in seinen Empfehlungen erkennen ließ, Bauern, Baptisten, Hexen und behinderte Kinder umzubringen.

Zudem gibt es in der Bibel etliche Texte, deren Bösartigkeit auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen ist ( „no comment“ Texte ) An diesen Texten könnte man sein Urteilsvermögen üben, denn dazu sind sie da. Worauf aber die dressierte Gemeinde gerne verzichtet.

Über die Auswirkungen destruktiver Texte auf den Charakter wird erst nicht nachgedacht: die Unfähigkeit zu ehrlicher Rechenschaft, die Unfähigkeit, das Leid von Menschen zu biblischen Zeiten nachzuvollziehen, die Unfähigkeit, bessere Argumente zu ertragen, die Unfähigkeit, fair zu diskutieren, der emotionale Egoismus („was meinen Gefühlen nützt, ist die Wahrheit“), die penetrante Rechthaberei und Nörgelei, die Selbstüberschätzung, das Bedürfnis andere mit Bibelworten unter Druck zu setzen, usw. usf.

Schrumpfendes Gottvertrauen belastet die Seele. Die psychische Schädigung, die der charakterlichen Schädigung folgt,  muss nicht gleich offensichtlich sein. Die deprimierenden Impulse kommen zwar immer häufiger, werden aber gewöhnlich  im buchstabenhörigen Umfeld zunächst kompensiert durch religiösen Aktionismus und Erfolgserlebnisse, durch den persönlichen Zuspruch religiöser Amtspersonen, denen man eine größere Nähe zu Gott und größere Einsicht unterstellt, und nicht zuletzt durch die Gehirnwäsche, dass Verdrängung die einzige und richtige Antwort wäre. Eine Zeit lang funktioniert das. Doch bei etlichen Menschen erreicht die Beschädigung des Vertrauens bald ein solches Ausmaß, dass der Glaube nur noch als Belastung empfunden wird. Die Tausende Menschen, die davon betroffen sind, ersparen sich in der Regel das Zwischenstadium der Psychiatrie und geben den Glauben lieber ganz auf.

Die dressierte Gemeinde ist weit entfernt davon, sich an diesem Prozess eine Mitschuld einzugestehen. Warum sollte man sich für die Personengruppe der Ausgestiegenen interessieren, die ja sehr wahrscheinlich für die ewige Verdammnis vorherbestimmt sind? Da dürfte es ja wohl auch vergeudete Zeit sein, die Leidensberichte in den Aussteigerforen auszuwerten. Wie es als vergeudete Zeit betrachtet wird, daraus Erkenntnisse über den Schaden durch  Verdrängung zu gewinnen.

Die Gemeindemitglieder buchstabenhöriger Gemeinden wissen nichts über die Stärken und Schwächen verschiedener Bibelverständnisse, schon gar nicht sollen die Schwächen der nach wie vor offiziell völlig unangefochtenen Irrtumslosigkeitsdoktrin (Chikagoerklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel) gesehen werden. Während offiziell durchaus über Themen wie „Mündigkeit des Christen“ und viel über „Vertiefung der Erkenntnis“ referiert wird, achten etablierte Bibellehrer darauf, dass das Publikum an dieser Stelle auf möglichst dummem Niveau gehalten wird.

Wer es wagt, destruktive Bibelstellen seinem Gewissen folgend zu beurteilen und als schädlich für Charakter und Glauben zu indizieren, wird angegriffen, beschimpft und diffamiert. Für die bildungsresistente Mehrheit, die genaueres Hinschauen ablehnt, gilt er als unreif und „im Glauben zurückgeblieben“.

 

 

Artikel aktualisiert am 24.11.2022

1 thought on “Zurückgeblieben?”

  1. Lieber Bruder im Herrn Benignus,

    aus „bibeltreuen“ Kreisen, welche ja meist der Chicago- Erklärung huldigen, kenne ich hauptsächlich die Lesart, wonach die fremden Völker, die vernichtet werden sollten nach Gottes Willen, es eben so ( und nicht anders !) „verdient“ hätten, weil sie halt „durch und durch böse“ gewesen seien und sich eh „nicht mehr zum Positiven geändert“ hätten… Gott hätte ihnen „sicherlich“ vorher genug Möglichkeit zur Umkehr gegeben, die sie aber ausgeschlagen hätten… ( was nur leider so nicht in der Bibel steht)

    Oder eine andere Lesart:
    Was der biblische Gott will, ist automatisch „gut“ und daher nicht zu hinterfragen. Es gäbe keine Kategorien wie „ gut“ oder „böse“, die außerhalb bzw. sogar über (!) Gott stünden… die Definition von gut und böse habe sich ausschließlich nach Gott bzw. Gottes Willen zu richten und sonst nach nix anderem.
    Es gelte demnach:
    „gut“ = entspricht Gottes Willen.
    „böse“= widerspricht Gottes Willen.

    Im Gegensatz dazu habe ich neulich bei dem ( konservativ-evangelikalen) deutschen YouTuber Markus Voss noch eine alternative Erklärung gehört: Wenn im AT die Rede von einer „vollständigen Vernichtung“ eines Volkes war, dann sei das „ nur eine damalige Redewendung“ gewesen, die nicht so absolut und kompromisslos zu verstehen sei wie im heutigen Sprachgebrauch… das sehe man schon allein daran, dass im AT Völker, deren Vernichtung eigentlich befohlen war, später auf einmal wieder auftauchten, als sei nix gewesen… (leider blieb er da ein konkretes Beispiel schuldig) Ansonsten ist besagtem YouTuber aber schon sehr dran gelegen, dass er Gott nicht so „ kuschelig“ darstellt, wie man es von konservativer Seite ja gerne der „ liberale“ Theologie bzw. den „lauwarmen“ Landeskirchen vorwirft. Ich persönlich bin derzeit stark hin- und hergerissen in diesen Fragen…

    Beste Grüße & Segenswünsche
    thomas

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