20. Behauptung: “Das Textverständnis, das sich am engsten an den Wortlaut der Bibel hält, ist das beste.”
Selbstredend ist die Grundlage des seriösen Bibelstudiums das sorgfältige Lesen des Urtextes oder von Übersetzungen, die sich eng am Urtext orientieren.
Doch das reicht für eine Interpretation nicht immer aus. Denn biblische Aussagen sind nicht gleichwertig. Sie stehen in einer Rangfolge. Aussagen mit geringerem Rang sind im Lichte höherwertiger Aussagen zu deuten. Höchste Autorität haben die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi: “Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit” (Mt 23,23). Man kann keinen biblischen Satz richtig einordnen, wenn man dabei diese Maßstäbe nicht berücksichtigt. Ergänzend sollte man beachten, dass es nicht genügt, über diese Maßstäbe theoretisch nachzudenken. Wenn der Übersetzer ihren tieferen Sinn erfassen will, dann sollte er sie in seinem täglichen Verhalten, insbesondere im Umgang mit Andersdenkenden respektieren.
Die Funktion des Buchstabens illustriert ein schöpfungsgemäßes Inspirationsmodell. Der Buchstabe enthält das Leben nicht selbst. Er selbst gibt kein Leben, sondern “tötet“. (2.Kor 3,6). Aber wenn der Gläubige sich um die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi bemüht, die geistliches Leben aufschließen, kann der Buchstabe selbst wieder zu Leben und Wachstum beitragen.
Es gibt hier eine Ähnlichkeit mit dem biologischem Leben. Die DNS selbst lebt nicht. Sie ist ein Eiweißmolekül, das für das Leben wesentliche Informationen enthält. Aber wenn die DNS eingebettet wird in eine lebendige Zelle, wenn sie mit Leben verbunden wird, dann beginnt sie zu arbeiten und ihre Informationen kommen dem Leben und dem Wachstum zugute. Kommt die DNS nicht in eine lebende Zelle, wird sie ein lebloses Eiweißmolekül bleiben. Nichts wird geschehen.
Offensichtlich lehrt uns das inspirierte Wort Gottes, die Rangordnung seiner Aussagen als unveränderliche Eigenschaft zu erkennen und zu respektieren. Um die tatsächliche Bedeutung einer Aussage zu erschließen, müssen wir als erstes eine Verbindung zu den Qualitätsmaßstäben Christi herstellen.
Auf diese Weise schützt das inspirierte Wort Gottes seine Autorität gegenüber Auslegern, die Auslegung als pure Denksportaufgabe betrachten, die mit linguistischen und theologischen Instrumenten zu lösen ist. Viele Gläubige meinen ja, dass deshalb ein Professor oder Doktor der Theologie die Heilige Schrift am besten auslegen könne.
Wenn wir der Schrift glauben, dann müssen wir entgegnen: auch wenn wir gewiss von mancherlei Detailkenntnissen der Theologie profitieren, versteht ein Professor oder Doktor der Theologie die Bibel so schlecht oder so gut wie andere Gläubige auch. Erkenntnis Gottes hängt nicht vom Wissen ab, sondern vom Geist Gottes. Deswegen sagt Jesus auch: “ihr sollt euch nicht “Lehrer” nennen lassen. Ihr seid alle Brüder” (Mt 23,8) und Paulus sagt durch den Heiligen Geist: “der geistlich gesinnte Gläubige beurteilt alles.” (1.Kor 2,15). Der Heilige Geist kann einen Laien mit besonderem Bibelverständnis begaben. Wer eine intellektuelle Schulung oder Ausbildung über die Erläuterungen solcher Laienboten stellt, versteht von biblischer Inspiration wenig bis gar nichts.
Das Gegenteil ist wahr. Die Bibel hat ihre spezielle Weise, intellektuellem Hochmut zu widerstehen. Sie zeigt uns in vielen Beispielen, dass geistloser Intellektualismus immer wieder haarsträubenden Unsinn oder gefährliche Halbwahrheiten erzeugt. “Gott widersteht den Hochmütigen. Aber den Demütigen schenkt er seine Gnade.” (James 4:6)
Auch wenn der Ausleger oder Übersetzer eines Bibeltextes immer zuerst auf den genauen Wortlaut achten wird, so ist diese Vorgehensweise kein Patentrezept, um biblischen Text immer richtig zu verstehen. Der Sinn, den der “Geist Christi” (1.Kor 2,16) nahelegt, kann in Einzelfällen erheblich davon abweichen.
FĂĽr diese Tatsache gibt es zahlreiche Hinweise, die im folgenden genannt werden
Eine wortwörtliche Auslegung, die allen Textteilen gleichen Rang zuerkennt, führt zu keinem sinnvollen und praktikablen Verständnis von 1.Kor 6,1-6. Die Ermahnung des Paulus, Rechtskonflikte durch Gläubige entscheiden zu lassen, wird deshalb traditionsgemäß in bibeltreuen Gemeinden ignoriert. (“Dilemma“)
Eine am Buchstaben klammernde Auslegung hat zur absurden Annahme einer „Pauschalhölle“ geführt, in der alle Menschen bis auf wenige Ausnahmen unaufhörlich gefoltert werden.
Eine sklavisch am Buchstaben klebende Interpretation der Worte Jesu ĂĽber die Ehescheidung kann notwendige MaĂźnahmen der Gemeindezucht unglaubwĂĽrdig und unwirksam machen.
Eine Auslegung der Worte „zweifacher Ehre“ in 1.Tim 5,17 als „doppeltes Gehalt“ – entsprechend dem Zusammenhang der Versorgung der Ältesten – wäre höchst ungerecht.
Mit Hilfe der Qualitätsmaßstäbe Jesu erkennen wir, dass heute die Anweisungen des Paulus und des Petrus zur Sklaverei (1.Tim 6,1-2 / 1.Pe 2,18) nicht mehr verbindlich sind und wir fragen nach den Gründen, warum sie damals mit diesen Maßstäben verträglich waren.
Wäre das nicht so, dann müssten wir heute die Sklavenhaltung in moslemischen Ländern sowie die Sklaverei der Kinder in Indien nicht nur als gottgegeben tolerieren, sondern sogar unterstützen.
Anderes Beispiel. Paulus schrieb: “Es hat einer ihrer eigenen Propheten gesagt: “Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche.” Dieses Zeugnis ist wahr.” (Tit 1,12-13) Das ist ziemlich genau Wort für Wort übersetzt.
Fahre nie nach Kreta! Dort wirst du nur betrogen und belogen! Tatsächlich ?
Wie könnte man die Sätze treffender wiedergegeben?
Ein Versuch: “Mancher von euch wird das Paradoxon des griechischen Denkers (Epimenides) kennen, der sagte: “ein Kreter sagte: ein Kreter lügt immer.” Seht ihr den Widerspruch? So gibt es Leute, bei denen weiß man nie, woran man ist. Sie sind nicht nur ans Lügen gewöhnt, sondern sie sind zudem gefährlich wie Raubtiere und immer zu faul, wenn es darum geht, das Richtige zu tun.”
Wie man sieht, haben die Empfänger des Paulusbriefes Kenntnisse, die man für den Leser heute ergänzen muss, wenn er die Sätze richtig verstehen will.
Wörtliche Auslegung hat zu dem gefährlichen Missverständnis geführt, dass der Gläubige keinen Arzt konsultieren dürfe und Heilung nur von Gott erwarten dürfe.
Noch grotesker ist das Missverständnis, zu dem wörtliche Interpretation von Mk 16,18 geführt hat. Dort heißt es: “Die Zeichen, die denen folgen, die glauben, sind folgende: in meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Sprachen reden, Schlangen vertreiben und falls sie ein tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden…” Rund 100 Kirchen pfingstlerischer Ausrichtung in Tennessee und benachbarten Bundesstaaten im Südosten der USA hantieren unter Berufung auf das Markus-Evangelium im Gottesdienst mit Giftschlangen, um ihre Glaubensstärke zu demonstrieren. (http://aktuell.evangelisch.de/artikel/91409/keine-anklage-gegen-schlangen-pastor-den-usa, eingestellt am 10.01.2014) Ein neues Opfer dieser wahrlichen “giftigen Theologie” war der Prediger Jamie Coots, der in den USA durch die TV-Serie “Snake Salvation” bekannt wurde. Auch er hantierte er im Gottesdienst mit Schlangen herum und starb, nachdem er ärztliche Behandlung nach einem Biss zurückgewiesen hatte. (http://www.youtube.com/watch?v=ZZUdKAYdeeU, eingestellt am 18.02.2014) Immer wieder hört man von solchen Beispielen destruktiver Schriftauslegung. Es gibt eine Internetseite, die für diese Philosophie werben darf. (http://holiness-snake-handlers.webs.com/)
Weiter ist zu beachten, dass der Wortlaut den irreführenden Eindruck vermitteln kann, dass es keine einzige Ausnahme gibt. Das trifft nicht zu. Auch bei einer Formulierung, die eine Ausnahme eigentlich ausschließt, kann sie dennoch möglich sein (biblischer Pauschalstil). Die Gesamtaussage der Bibel muss bei der Interpretation einer Bibelstelle berücksichtigt werden, wobei die Qualitätsmaßstäbe Jesu Christi höchste Priorität haben.
Wer die Schrift auslegen möchte, sollte über die biblischen Ausnahmen zu üblichen Auslegungsprinzipien der weltlichen Literaturbetrachtung Bescheid wissen.
Leider stellen wir immer wieder bedauernd fest, dass die üblichen Verfahren der Schriftinspiration die überragende Bedeutung der Qualitätsmaßstäbe Jesu für die Auslegung sträflich vernachlässigen und folglich gegen wörtliches destruktives Missverstehen unzureichend abgesichert sind.
AusfĂĽhrungen von Werner Gitt in seinem Buch „Fragen, die immer wieder gestellt werden“ (26. Auflage 2018) im dortigen Anhang „Anmerkungen zur Bibel“ Seiten 134 ff. erleichtern mir das Verständnis der Rangfolge von Bibeltexten, sowie die GrĂĽnde hierfĂĽr. Ich lege deren Kenntnis nahe.