“Gemeindezucht” – ein archaisches Wort für die Disziplinierung eines Mitgliedes der Glaubensgemeinschaft. Sehr häufig ist es auch ein Synonym für die ideologische Dressur, die unerwünschte Fragen, Zweifel und Korrekturversuche mit Mobbing und Ausgrenzung bestraft.
Nun ist die religiöse Gemeinschaft eine Zweckgemeinschaft. Genauso wie zB ein Sportverein. Ein Fussballverein wird mit einem Mitglied, das Handballregeln einführen möchte, wenig anfangen können und ihm nahelegen, sich doch lieber an einen Handballverein anzuschließen. Das sollte natürlich mit Niveau und in freundlicher Weise geschehen. Es besteht auch kein Grund, den desorientierten Sportbruder in Zukunft wie die Pest zu meiden.
Die christliche Gemeinschaft hat das Ziel, dem Leben durch Liebe einen Sinn zu geben und zu diesem Zweck die spirituelle Kraftquelle der Bibel zu erschließen.
Jesus hat dazu mit seinen „wichtigsten Gebote“ eine indiskutable Qualitätsnorm gesetzt: “Barmherzigkeit, Liebe zum Recht, sowie Verlässlichkeit und Ehrlichkeit”. Es gibt keine Liebe ohne Beachtung dieser Qualitätsmaßstäbe – und keine echte Barmherzigkeit.
In der Gemeinschaft treffen nun, starke und schwache Persönlichkeiten aufeinander, zuverlässige und unberechenbare, sensible und weniger rücksichtsvolle. Es kann deshalb zu übergriffigem und schädigendem Verhalten kommen. Die Gemeinschaft kann hier nicht wegschauen.
Wenn Gläubige gegen die Maßstäbe Jesu ohne Reue verstoßen, dann sind sie ungeeignet, Mitglied einer christlichen Gemeinschaft zu sein. Insbesondere verurteilt Paulus den hartherzigen, unfairen Umgang mit Mitchristen: “Wisst ihr denn nicht, dass ungerechte Menschen keinen Platz in Gottes unsichtbarer Welt haben werden? Täuscht euch nicht: Menschen, die mal mit diesem, mal mit jenem ins Bett steigen, Ehen kaputtmachen, Lustknaben und Kinderschänder, Diebe oder Habsüchtige, reuelose Saufbolde, Lästerer oder Erpresser werden keinen Platz im Reich Gottes haben.” (1.Kor 6,9-10) Es macht Sinn, Mitglieder mit dieser Einstellung vorläufig aus der Gemeinschaft auszuschließen, um sie zu warnen, dass Bösartigkeit und die unsichtbare Welt Gottes nicht zusammenpassen. Damit appelliert er an das Gewissen, das ebenso wie ein Mindestmaß an Schamgefühl für die Charakterbildung wichtig ist.
Es gibt Gemeinschaften, die schon auf kleine Verstöße mit einem Ausschluss reagieren, und anderen Gemeinden, bei denen er allenfalls bei einem großen Skandal in Frage kommt, der das Ansehen der Gemeinschaft beschädigen würde.
Unsachgemäße Disziplinierung hat gefährliche Nebenwirkungen. Zum einen können die Gläubigen, die jemanden ausschließen, es in pharisäischem Hochmut tun. Sie “sehen den Splitter im Augen des Bruders, aber den Balken im eigenen Auge sehen sie nicht.”(Mt 7,3-5) Damit ist nichts gewonnen. Eine Gemeinde, die notgedrungen über das böse Verhalten eines Gläubigen urteilt, muss auch eine Kultur der ehrlichen Selbstkritik und Selbsterkenntnis pflegen. Tut sie das?
Wie viele evangelikale Gemeinden wissen, was zu tun ist, wenn erfolgreiche Gemeindeleiter gegen die Qualitätsmaßstäbe Jesu verstoßen? Soll dann die Gemeinde untätig bleiben? Wo die Folgen eines bösen Beispiels hier doch viel gravierender sind? Nach der Bibel ist es eine schwere Verfehlung, das Ansehen der Person bei rechtlichen Entscheidungen zu üben und aufgrund der Position eines Menschen mit zweierlei Maß zu messen. Die Entlassung eines Gemeindeleiters ist aber u.U. sehr problematisch, wenn dieser über eine starke Klientel in der Gemeinde verfügt. Dann drohen unter Umständen jahrelange Parteikämpfe.
Üblicherweise wird lieber gänzlich auf Disziplinierung verzichtet. Entsprechend wenig Erfahrungen wurden auf diesem Gebiet gemacht. Vielleicht genügt zur Disziplinierung eine öffentliche Rüge. Vielleicht ist es auch möglich und sinnvoll, in einem Zusatzprotokoll der Gemeindeordnung von vornherein für typische strafbare Handlungen abgestufte Maßnahmen (z.B. Geldstrafen) festlegen, die dem Gemeindeleiter auferlegt werden können und diesen schon bei seiner Einstellung auf Anerkennung des Zusatzprotokolls zu verpflichten. Irgendeine fühlbare Konsequenz sollte Fehlverhalten eigentlich haben – selbst wenn man der Leitung das Vertrauen nicht völlig entziehen will. Doch all das ist reine Theorie.
Auf der anderen Seite droht die Gefahr der Spalterei von allen Mitchristen, die irgendein Gebot anders auslegen und verstehen und es nicht ertragen können, dass andere Mitglieder andere Prioritäten setzen. “Spalterei” und selbstgerechte “Zänkereien” sind aber selbst wieder bösartiges Verhalten (Gal 5,20), das . nicht bereut wird und den Frieden in der Gemeinschaft zerstört.
Strenggläubige Gemeinden, die sich immer weiter aufspalten und verkleinern, weil ein Bruder dem anderen nicht mehr „heilig genug“ erscheint, hinterlassen ein ganz üblen Eindruck. Auch wenn hier ein möglichst strenges oder möglichst wortgetreues Bibelverständnis im Hintergrund steht, sind die destruktiven Nebenwirkungen deutlich zu erkennen.
Ist es das, was Jesus und Paulus gemeint haben?
Deswegen ist es sinnvoll, über den (vorläufigen!) Ausschluss eines Mitglieds nur nachzudenken, wenn ein Mitchrist geschädigt, verletzt, massiv übervorteilt wird – und nicht aufgrund der Abweichung von frommen Idealvorstellungen. Der quälende Unrecht muss beseitigt werden – die Gemeinde darf nicht wegsehen.
Ein Ausschluss aus der Gemeinschaft war zur Zeit des Paulus in der damaligen Stadtgemeinde eine wirksame Maßnahme. Heute aber hat der betroffene Gläubige in der Regel keine Mühe, eine andere Gemeinschaft aufzusuchen, wo man von seinem Verhalten nichts weiß. Er kann sich der Mahnung seines Gewissens sehr leicht entziehen.
Umso wichtiger ist es, dass die Gemeinschaft gegenüber eigenen Fehlern sensibel bleibt. Ein Ausschluss erreicht das Gewissen überhaupt nicht, wenn die Glaubwürdigkeit durch Pharisäismus, Scheinheiligkeit, blinde Traditionsgläubigkeit, Buchstabenterror in Frage gestellt ist.
Ein Ausschluss kann auch dazu führen, dass der Betroffenen gar nicht mehr zur Gemeinde kommt und keine Warnung oder Mahnung mehr zu ihm gelangt.
Disziplinierungsmaßnahmen müssen deutlich machen, dass jemand sich außerhalb des echten „Jüngerkreises“ gestellt hat. Wer zum Freundeskreis Jesu gehören möchte, der kann Dienste und Spenden in die Gemeinde einbringen. Wer das nicht will, sollte davon ausgeschlossen werden, bis tätige Reue vorhanden ist. Insbesondere vor Spenden (“Opfer”) von bösen Menschen warnt die Bibel ausdrücklich, da sie leicht als Kompensation für böses Verhalten angesehen werden: “Mich widern eure Opfer an … Lasst lieber das Recht wie Wasser fließen und die Gerechtigkeit wie einen immer fließenden Bach. ” (Amos 5,22)
Ein Gläubiger, der böse mit anderen umgeht, kann nur den Status eines Gastes oder Hörers haben. Warnungen der Bibel, die er hört, können ihn vielleicht zur Umkehr bewegen.
In vielen Gemeinschaften wird eindringlich vor dem Fremdgehen oder der Unversöhnlichkeit gewarnt, mit deutlichen Hinweisen auf die möglichen Folgen. Doch leider geschieht es quasi “mit der Gießkanne” – ganz unpersönlich. Nirgends wird dem Gläubigen, der am Unrecht festhält, klar gemacht, dass er nicht mehr zum inneren Kreis der Freunde Jesu gehört. Er nimmt das Abendmahl, er spendet, er arbeitet mit. Dies erzeugt bei ihm den Eindruck, dass die Gemeinde nicht auskommt ohne ihn. Sie braucht seine Spenden und seine Mitarbeit. Dann liegt der Fehlschluss nahe, dass Gott selbst auch nicht auf ihn verzichten möchte und dass die Warnung auf der Kanzel nur unterhaltsame Dramatik war.