Blinder Fleck der Werbungsabteilung
Zu Unrecht verlassen sich viele Ärzte darauf, dass Gemeindeleiter als “Fachleute” das Problem der seelischen Gefährdung durch destruktive Theologie am besten bearbeiten. Schön wäre es, wenn das wahr wäre.
Hier gibt es einen prinzipiellen Interessenkonflikt. Gemeindeleiter haben ein starkes Interesse am zahlenmäßigen Wachstum der Gemeinde. Viele Mitglieder heißt: viele Mitarbeiter, viele Spenden, viele Möglichkeiten, etwas zu bewegen. Deswegen werden sie den Glauben immer auf möglichst attraktive Weise präsentieren. Sieht man die Gemeinde als Unternehmen an, das die religiösen Bedürfnisse seiner Kunden befriedigt, so sind Gemeindeleiter in der Marketing- oder Werbeabteilung tätig.
Es liegt auf der Hand, dass eine Qualitätskontrolle nicht von denselben Personen geleistet werden kann. Die Qualitätskontrolle befasst sich nämlich nicht mit der “Schokoladenseite” des Unternehmens, sondern mit der “Schattenseite”, mit Versäumnissen, Risiken, und Schäden, die bereits eingetreten sind. Diese Arbeit hängt man nicht an die große Glocke, man macht sie möglichst nicht öffentlich. Sie muss aber intern zuverlässig und selbstkritisch getan werden.
In christlichen Gemeinden ist es nun nicht selten so, dass Gemeindeleiter meinen, auch dafür zuständig zu sein. Sie erkennen nicht oder wollen es nicht sehen, dass hier ein fundamentaler Interessenkonflikt besteht, der zu Lasten der Qualitätskontrolle gehen muss.
Zu diesem grundsätzlichen Konflikt kommt, dass für sorgfältige Untersuchungen die Zeit fehlt. In der Regel stehen Gemeindeleiter unter hohem Zeitdruck. Eine Aktivität jagt die nächste. Sie haben alle Hände voll zu tun, Dutzende oder gar Hunderte Menschen zufriedenzustellen, denen es relativ gut geht und die sich in zahlreichen Programmen in der Gemeinde betätigen und entsprechend ihren religiösen Bedürfnissen versorgt werden wollen.
Um den Interessenkonflikt einmal anschaulich zu machen, haben wir einen sehr aufschlussreichen Briefwechsel mit einem Gemeindeleiter abgedruckt.(„Hilflose Helfer„)
Wir haben dutzendweise dünne Broschüren verschickt, die sich eingehend mit dem größten anzunehmenden Unfall des Glaubens befassten – mit der unvergebbaren Sünde nach Mt 12,36 – und Mängel bei den üblichen Antworten diskutierten. Die Resonanz war – bis auf ganz wenige Ausnahmen – praktisch gleich Null. Es reichte meistens nicht einmal zu einer Empfangsbestätigung – von einer Korrektur unserer Argumente ganz zu schweigen.
Natürlich war das keine umfassende Erhebung, sondern eine Stichprobe. Doch ein gewisser Trend ist zu erkennen.
Was mögen weitere Gründe dafür sein?
In Gemeinden, die durch enge theologische Tradition geprägt sind und an der (leicht zu widerlegenden) Behauptung festhalten, dass das wortwörtliche Verständnis den Sinn immer am besten wiedergibt, tut man sich sehr schwer, eine überzeugende Rangfolge biblischer Aussagen zu erarbeiten. Sehr schnell entsteht die Angst, dass in diesem Argumentationsprozess die Autorität der Bibel Schaden nehmen könnte. Lieber nimmt man dann in Kauf, dass sich das Problem nicht auflösen lässt mit allen Nachteilen für die seelische Gesundheit. Man tröstet sich damit, dass ja nur einzelne in schlimmer Weise betroffen sind. Statt mit Beweisen behilft man sich mit Provisorien, zitiert dem Bauch heraus ein paar ermutigende Bibelstellen, auch wenn sich Bibelstellen widersprechen und sich insoweit gegenseitig entkräften. Deshalb ist es oft gerade dort, wo die Not am größten ist, so schwer zu helfen.
In Gemeinden, deren Tradition weniger eng ist, wird die Notwendigkeit nicht gesehen, vor destruktiven theologischen Lehrsätzen zu warnen, weil sie in der Gemeinde offiziell nicht gelehrt werden. Dem ist entgegenzuhalten, dass Gläubige immer wieder mit destruktiven Impulsen konfrontiert werden, die von ganz anderer Seite und unkontrollierbar kommen können.
Auch ist die Abstoßungsreaktion zu bedenken. Ist eine Gemeinde nach Einschätzung mancher Gläubiger zu liberal, zu wenig am Wort und dadurch unglaubwürdig geworden, so suchen sie nach neuer Glaubwürdigkeit in nunmehr engen Traditionen, die ihre Mitglieder einem stärkeren Druck aussetzen, weniger Argumentation und Prüfung erlauben und insoweit weniger Widerstandskraft gegenüber “werkgerechten“ Lehrmeinungen haben. Auch für diese Gläubigen sollte sich eine Gemeindeleitung verantwortlich sehen und sie über die betreffenden Gefahren informieren können.
Dazu kommt, dass es allzu leicht ist, sich das Problem vom Leibe zu halten. Ein Seelsorger macht sich wenig Gewissen über ungenügende Aufklärung oder mangelhafte Seelsorge, wenn er optimistisch davon ausgeht, dass der Ratsuchende im eigenen Interesse viele Leute fragen und dann schon irgendwann auf eine befriedigende Antwort stoßen wird.
Und wenn er niemand finden sollte, dann ist nach Ansicht etlicher keinesfalls die Theologie verantwortlich zu machen, sondern eine irrationale Depressionsneigung des Betroffenen, „dem ohnehin nicht zu helfen gewesen wäre“.
Tatsächlich?
Wenn die Bedürfnisse der vielen, denen es relativ gut geht, Vorrang vor der größten Not eines einzelnen Gläubigen haben, dann darf man mit einiger Berechtigung von theologischer Oberflächlichkeit oder – um ein anschauliches Bild zu verwenden – vom “blinden Fleck” sprechen.
Da die Qualitätskontrolle durch Gemeindeleiter erfahrungsgemäß problematisch ist, sollte diese Aufgabe in erster Linie an andere Gläubige delegiert werden.
Doch vor dieser Delegation scheut so mancher zurück, da der Eindruck mangelnder Kompetenz entstehen könnte. Etliche sehen sich als unumschränkten Chef der Gemeinde, über dem es – von einem Gott, der zu allem vorläufig schweigt, abgesehen – nichts mehr gibt. Etliche haben gewissermaßen ein “monarchisches Selbstverständnis”.
Von den Fähigkeiten der übrigen Gläubigen, die kein theologisches Examen vorweisen können, denken sie vergleichsweise gering: sie betrachten sie allenfalls als bemühte Dilettanten, selbst wenn sie im Glauben gereift sind und fleißig die Bibel studieren. Einen objektiven Vergleich, wer nun gründlicher arbeitet, können sie nicht erlauben.
Jesus hat eine derartige Selbstüberhöhung strikt zurückgewiesen: “ihr sollt niemanden Vater, Meister oder Lehrer nennen. Einer ist eurer Vater und Lehrer, ihr aber seid alle Brüder.“ (Mt 23,8-10)
Wenn sie damit recht hätten, hätte dann Jesus seine Apostel berufen können, die alle – mit Ausnahme des Paulus – keine Theologen waren ?
Die Bibel sagt anderes. Gottes Geist kann den Gläubigen befähigen, “ALLES zu verstehen“. (1.Kor 2,15) Der Gläubige darf ihn “um Weisheit bitten“ – und Bitten dieser Art erhört Gott gern (Jak 1,5). Die Bibel sagt ausdrücklich, dass Gott das Recht hat, „Laienboten“ zu schicken, um das theologische Establishment zurechtzuweisen.
Ein theologisches Abschlusszeugnis macht dieses Recht nicht überflüssig oder unwirksam. Wenn man theologische Seminare besucht, so ist das möglicherweise hilfreich, aber nicht unerlässlich. Manche Seminare taugen wenig, manche auch gar nichts, sind zu oberflächlich oder zu wenig selbstkritisch.
Gläubige mit intensiver religiöser Angsterfahrung können die Bibel sehr gründlich auf mögliche Hilfe untersuchen. Sie kennen die Schwächen der üblichen Antworten in der Regel sehr genau. Wenn sie in jahrelanger Arbeit Teilergebnisse oder gar tragfähige Antworten finden, so sollte man ihnen zuhören.
Leider haben wir eine neue, erschreckende Erfahrung gemacht, nämlich dass es Gemeindeleitungen gibt, die untersagen, vor destruktiver Theologie zu warnen. Gründe werden regelmäßig nicht genannt (Ausnahme: der übliche fadenscheinige Scheingrund, dass “man der Gemeinde Unruhe ersparen will”.)
Ist das je ein Grund für Jesus und die Apostel gewesen, den Mund zu halten ?
Ob der Grund für das Verbot nicht vielmehr darin liegt, dass die Methode, Prioritäten bibelgemäß zu setzen, einem Gläubigen tiefere Einsicht in den religiösen Betrieb schenkt und ihn mündiger und widerstandsfähiger gegen Manipulationsversuche macht?