Stell Dir vor, ein guter Bekannter spricht dich an und erzählt Dir in begeistertem Ton von einer Möglichkeit, das Hundertfache einer Investition zu verdienen. Aber die Chance biete sich nur kurz und auch nur für Leute, die mit wenigstens 200.000 Euro einsteigen. Viele hätten das schon gemacht und wären in kurzer Zeit sehr reich geworden. Auch für den, der nicht über diese Summe verfügen könnte, lohne es sich unbedingt, einen Kredit aufzunehmen. Das hört sich gut an und allmählich packt auch dich die Begeisterung und der Wunsch, auf dieses Angebot einzugehen. Dann aber erfährst du, dass der Anwerbende mit einer hohen Summe für jede Person, die er anwerben kann, belohnt wird. Wie wirst du dann denken?
Fällt die Antwort schwer? Du erkennst natürlich, dass es sich bei der Anwerbung nicht um eine sachliche Information handelt. Die Zuverlässigkeit der Meldung ist durch die Vorteile, die der Anwerbende erhält, stark in Frage gestellt.
Das genau ist das Vertrauensproblem, das mit einem Bibelwort wie Römer 10,9 verbunden ist. Dort heißt es: „Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet.“
„Gerettet“ vor der Hölle – ist das nicht ein unendlich hoher Gewinn, zumal sich sehr leicht Gründe finden lassen, an der Ankunft im Himmel zu zweifeln? Luther entdeckte durch gründlichstes Bibelstudium, dass Heilsgewissheit bei Gültigkeit aller Bibeltexte unlogisch ist. Insbesondere der von ihm scharf kritisierte Hebräerbrief wirkt stark verunsichernd. Es ist nachweislich unmöglich, sich seines Heils durch einen unanfechtbaren „Schriftbeweis“ gewiss zu werden. Von Gläubigen bibeltreuer Couleur wird das bestritten, allerdings ist auffällig, dass Gläubige dieser Denkrichtung ihre Bibel nur selektiv lesen und wirklich verstörende Textstellen schon gar nicht.
Wer wird dann nicht diese Chance nutzen und Christus bekennen, um seine Verunsicherung in der Frage „Himmel oder Hölle“ ein wenig abzubauen? Natürlich jeder. Es wäre ja geradezu dumm, diese Chance nicht zu nutzen. Es wird also bezeugt, gelobt, gejubelt – je mehr desto besser.
Es ist schon erstaunlich. Kommt eigentlich niemandem der Gedanke, welche Auswirkung diese Motivation auf den objektiven Wert des Zeugnisses hat? Wenn das Zeugnis die Funktion hat, eine unendlich hohe Bedrohung abzubauen, dann ist doch das Urteil des Bezeugenden durch Eigennutz massiv korrumpiert. Wie soll es da noch eine ernstzunehmende Auskunft sein? Das Gegenteil ist der Fall: Je eifriger das Zeugnis des Gläubigen ist, desto näher liegt die Vermutung, wie sehr er verunsichert ist.
So wird ein Verhalten gefördert, das als ethisch wertvoll gilt, aber de facto das ethische Urteilsvermögen lähmt. Dieses Phänomen betrifft in der evangelikalen Ideologie viele fundamentale Werte („Ethikparadox„)
Ich habe hin- und her überlegt, aber ich finde wirklich nichts, was mir einen wohltuenden und heilsamen Sinn dieses Bibelwortes erschließt. Selbst die eventuell beruhigende Wirkung wird relativiert durch die Worte Jesu: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.“ (Mt 7,21)
So wie es sich mir bisher darstellt, enthält Röm 10,9 einen fatalen Irrtum. Nun ist es ja in der bibeltreuen Szene tabu, an der Lichtgestalt des Apostels Paulus Kritik zu üben. Dass Paulus selbst massiv Kritik an Petrus, dem Gründungsapostel und „Gemeindefelsen“ übte (Gal 2, 11 ff), mag ja noch hingehen. Petrus hatte sich aus Angst vor Kritik wieder an die Gesetzlichkeit der Judenchristen angepasst und damit den verbindlichen Beschluss des Apostelkonzils (Apg 15) über die Distanzierung vom jüdischen Gesetz missachtet. Nun enthält der biblische Kanon viele Briefe des Apostel Paulus, aber keine einzige Schrift, die ihm einen Fehler nachweist. Kann man daraus schließen, dass er keine Fehler beging?
Jedermann erwartet von einer redlichen Empfehlung, einer Anwerbung, dass sie allein aufgrund der Qualität des Inhalts erfolgt. Erst recht, wenn mit dem Vertragsschluss erhebliche Risiken verbunden sind. Von erheblichen Risiken darf man bei der Urgemeinde sicher ausgehen, die der Verfolgung durch die jüdische Konkurrenz und später auch durch die römische Obrigkeit ausgesetzt war.
Durch Röm 10,9 wird die Informationsqualität des christlichen Zeugnisses jedoch praktisch zerstört.
Ja, der Gläubige wird durch Hebr 6, 4-6 und Offb 20,4 sogar gezwungen, sich trotz Androhung von Folter und Tod weiter zum christlichen Glauben zu „bekennen“, wenn er nicht ewig in der Hölle gefoltert werden will. Gibt es wirklich jemand, der Respekt vor dieser Art „Bekenntnis“ empfinden kann, sobald er erfährt, welch widerliche Erpressung die Ursache dafür war? Aus der Geschichte sind die bedauerlichen Schicksale von Christen bekannt, die diese Prüfung nicht bestanden haben und „verdientermaßen“ den Rest ihres Lebens als seelische Krüppel dahin vegetierten.
Nicht weniger schädlich ist es, Jugendliche zum Zeugnisgeben anzutreiben, indem man ihnen weismacht, sie wären andernfalls dafür verantwortlich, wenn Menschen in die Hölle kommen. Diese Sichtweise lässt sich mit der Bibel begründen: „Wenn ich dem Gottlosen sage: Du musst des Todes sterben!, und du warnst ihn nicht und sagst es ihm nicht, um den Gottlosen vor seinem gottlosen Wege zu warnen, damit er am Leben bleibe, – so wird der Gottlose um seiner Sünde willen sterben, aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern. Wenn du aber den Gottlosen warnst und er sich nicht bekehrt von seinem gottlosen Wesen und Wege, so wird er um seiner Sünde willen sterben, aber du hast dein Leben errettet.“ (Hes 33,18-19) Muss man sich wundern, wenn ein junger Mensch, dessen Seele man mit so tonnenschweren Gewichten belastet hat, schließlich psychisch erkrankt? .
Für den Erfolg der christlichen Glaubensgemeinschaft hat sich seelische Erpressung sehr häufig gelohnt. Das ist wirklich Mitgliederwerbung um jeden Preis ohne Rücksicht auf Verluste!
Was das mit Liebe und Barmherzigkeit, dem wichtigsten Gebot Jesu (Mt 23,23) zu tun hat – darf man danach noch fragen?
Es wird also bezeugt, gejubelt und gelobt – je mehr desto besser – um Verunsicherung abzubauen. Das Bedürfnis, Behauptungen nachzuprüfen, schrumpft. Es ist auffällig, wie oft fromme Märchengeschichten, die leicht zu widerlegen sind, immer wieder neu mit Erfolg aufgetischt werden.
Wer sich in irgendeiner Form an frommer Unehrlichkeit beteiligt, signalisiert damit seine Bereitschaft, zum Wachstum der Gemeinschaft beizutragen. Dafür wird er mit sozialer Anerkennung belohnt. Die hanebüchenen Behauptungen der Chicago-Erklärung sind längst unanfechtbar widerlegt und als Aktion des „frommen Fleisches“ erwiesen. Doch wer unter den unter buchstabenhörigen Gläubigen, die sich erfolgreich um die Abschottung ihrer Mitglieder bemühen, weiß davon? Die Gefährlichkeit des Hebräerbriefs – längst im Detail nachgewiesen! So wichtig das für die seelische Stabilität auch ist – wer weiß davon?
So wie beim Zeugnisgeben die Quantität weit wichtiger ist als die Qualität geworden ist, so ist für den Gläubigen bibeltreuer Prägung für die Gewissheitsbildung nicht die Unanfechtbarkeit der Argumente, sondern eine möglichst große Anzahl gleichgesinnter Gemeindeglieder maßgeblich. Für ihn ist sehr bald der Gedanke unvorstellbar, dass ein einzelner Mensch, der sich gegen den Mainstream stellt, recht haben könnte.
Unter diesen Bedingungen ist es kaum möglich, über seelische Nöte und Schäden zu berichten, die die hauseigene Theologie verursacht hat. Erfahrungsgemäß wird so jemand automatisch als Querulant eingestuft, der den religiösen Genuss der Gemeinschaft stört. Wie soll man dann aus Fehlern lernen, wenn eine Untersuchung etwaiger Mängel der Theologe von vornherein nicht erwünscht ist? Dies ist auch der Grund für die Flut dilettantischer Vorträge über das Thema der Heilsgewissheit auf Youtube und anderen Plattformen. Kommentare, die auf Schwächen in der Argumentation hinweisen, finden kein Gehör. Sie werden ignoriert oder gar aussortiert und gelöscht oder durch die zahllosen gedankenlos zustimmenden Mails in der Kommentarliste sofort nach ganz hinten verschoben .
Mir ist leider bisher nichts bekannt, was für einen produktiven Sinn von Röm 10,9 sprechen könnte, das die genannten Nachteile überzeugend kompensiert. Es spricht viel dafür, dass Paulus hier einer Anfechtung nachgegeben hat, Mitgliederwerbung mit fleischlichen Mitteln zu betreiben, ein Fehlverhalten. das heute in den Gemeinden des evangelikalen Mainstreams selbstverständliche Routine geworden ist.