Gift Nr. 09

9. Behauptung: “Da der Gläubige die Kraft des Heiligen Geistes empfangen hat, ist er fähig, vollkommen sündlos zu leben. Umso strenger wird der Gläubige bestraft, wenn er sich dann noch kleine Sünden leistet. Er kann und darf sich nicht mehr auf menschliche Schwachheit berufen.”

Da steht es zweifellos geschrieben: “seine Gebote sind nicht schwer, denn alles, was von Gott geboren worden ist, überwindet die Welt” (1.Joh 5,3-4)

Ist es nicht der Ausdruck tiefsten Gottvertrauens, wenn Gemeindelehrer aus dieser Verheißung ein strenges Verbot ableiten und dem Gläubigen auch über der kleinsten Unvollkommenheit ein schlechtes Gewissen machen ? Es ist doch „ganz logisch“: wenn der Heilige Geist dem Gläubigen ermöglicht, alle Gebote zu halten, weil “die Gebote nicht schwer sind“, dann kann der Gläubige nicht nur alle Gebote einhalten, sondern muss es auch.

Und schon wieder taucht der eben kommentierte, so oft in fataler Weise als verbindliches Gebot missverstandene Satz auf:“Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.” (Mt 5,48), das den Gläubigen angeblich verpflichtet, alles zu tun, was irgend gut ist: “Wer etwas Gutes zu tun weiß, und tut es nicht, für den ist es Sünde…” (Jak 4,17), auch wenn es ihn die materielle Existenz oder gar das Leben kosten sollte.

Natürlich weiß der Gläubige, dass ihm „gelegentlich“ eine Sünde passieren kann. “Wenn wir behaupten, wir wären ohne Sünde, dann lügen wir.” (1.Jo 1,8) Doch Sünde ist nach dieser Anschauung eine sehr seltene Ausnahme, die kaum vorkommt. Sie muss sofort bereut und repariert werden, damit sie eine seltene Ausnahme bleibt. Und wenn man etwas Gutes weiß, das zu tun wäre, dann darf das Gute nicht ungetan bleiben, denn auch damit wäre die Sünde keine seltene Ausnahme mehr.

Der Umkehrschluss ist fatal: wer nicht “alle Sünde lässt”, wer nicht alles „was er Gutes tun könnte“, tut, wer nicht (fast) vollkommen lebt, wer nicht all sein Hab und Gut für Notleidende opfert, wer nicht allzeit bereit zu lebensgefährlicher Mission ist, der nimmt Gottes Kraftquelle, den heiligen Geist, nicht in Anspruch. Er nimmt Gottes Erlösungsgeschenk nicht an und ist deshalb Gottes Feind. Was mit den Feinden Gottes geschieht, ist klar: auf sie wartet die ewige Qual der Hölle.

Und schon kippt die herrliche Verheißung, dass für den Heiligen Geist keine Aufgabe zu schwer ist, dass er den Gläubigen zu allem, was gut ist, ausrüsten und bevollmächtigen möchte, in das grauenhafte Gegenteil um: in ständige Bedrohung, in seelische Erpressung und Verzweiflung.

Warum erkennen manche Gläubigen nicht, dass diese Interpretation der Bibel nicht lebensfördernd (Mt 4,4), nicht konstruktiv, sondern scheinheilig und destruktiv ist ? Warum erkennen sie nicht, dass diese Interpretation im Widerspruch zur den Qualitätsmaßstäben Jesu steht ?

In diesen Zusammenhang gehört auch die wahnwitzige Behauptung, mit jeder neuen Sünde “schlüge der Gläubige Christus erneut ans Kreuz“. Welch gefährlicher Unsinn! “Christus wiederum kreuzigen” (Hebr 6,6) ist ein endgültiger Absturz aus dem Glauben heraus. Er betrifft den seltenen Fall, dass ein Mensch noch einmal zum Glauben kommen will, der den Glauben bereits als befreiend erkannt und erlebt und ihn dennoch endgültig weggeworfen hat. Welcher Wahnsinn, diese Formulierung für kleine Fehler und Schwächen zu gebrauchen, doch bei gewissen perfektionistischen Bibellehrern ist auch solcher Blödsinn möglich.

Wenn eine dilettantische Theologie diese Worte auf den Gläubigen bezieht, so wird der Sinn des Opfers Jesu ins Gegenteil verdreht. Es wird eine ständige Quelle des Schreckens und der Bedrohung – von Freude und Befreiung keine Spur.

So balanciert der Gläubige mit ständig schlechtem Gewissen auf einem schmalen Grat: wieviel darf an der Vollkommenheit fehlen, damit er noch seines Heils gewiss sein darf ? Schon die Frage zeigt, dass hier etwas Wesentliches ganz falsch verstanden wurde.

Fragen wir besser: Was soll denn Gott davon haben, wenn ihm seine Gläubigen vor Angst schlotternd wie einem Diktator dienen ? Eine ähnliche Frage stellt Gott übrigens auch den Gläubigen im Alten Bund: „was habe ich denn davon, wenn ihr mir ständig Tiere opfert ? Doch ich nehme deine Opfer nicht an. Ich brauche keinen Stier aus deinem Stall und keinen Bock aus deinem Pferch! Denn mein ist alles Wild im Wald, die Tiere auf den tausend Bergen. .. Hätte ich Hunger, müsste ich es dir nicht sagen, denn mein ist die Welt und was sie erfüllt.“ (Ps 50, 9-12) Das mosaische Gesetz gebot zweifellos viele Opfer.

Wenn Gott ein Gebot verfasst, so hat der Gläubige die Aufgabe, den Zweck zu verstehen. Das Gebot soll eine Hilfe sein, die Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen herzustellen oder zu vertiefen. Wenn es mit Hilfe der Qualitätsmaßstäbe JesuBarmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit“ interpretiert wird, so versteht der Gläubige diese Charaktereigenschaften Gottes besser und erwirbt auch selbst mehr von diesen Eigenschaften. Er wird innerlich verändert. Das ist die “Beschneidung des Herzens” (Rö 2,28-29), auf die Gott großen Wert legt.

Menschen dagegen neigen dazu, die äußerliche Beschneidung für das entscheidende Merkmal zu halten. Man kann Gottes Gebote äußerlich einhalten, aber ohne innerliche Überzeugung. Dieser “Gehorsam” hat bei Gott überhaupt keinen Wert. „Sie ehren mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir.“ (Jes 29,13)

“Gutes tun”, weil das schlechte Gewissen erpresst, ist selbst Sünde, wie alles, was nicht aus dem Vertrauen auf Gott kommt. (Rö 14,23) Es ist scheinbare Heiligung, Werkgerechtigkeit und Selbsterlösung. Es ist sozusagen Falschgeld, das dem echten Geld täuschend ähnlich sieht und aus dem Verkehr gezogen werden muss.

Die stärkste Willensanstrengung ändert an dieser Tatsache nichts. Der werkgerechte Gläubige ist leider davon überzeugt, dass die verbissene Willensanstrengung, die “Entschiedenheit” etwas Heiliges sei, dass auch die fromme Leistung “heilig” mache. Welcher Wahn!

Man durchschaut diesen Wahn erst, wenn man die Qualität der Früchte prüft.

Was kommt dabei heraus? Wird dadurch die Liebe größer? Wird die Dankbarkeit tiefer? Vermehren sich auf diesem Wege Freude und Frieden?

Durch diesen Unsinn wird der Glaube eine Quelle ständiger Frustration. Er kann so unerträglich werden, dass man ihn am Ende aufgibt. Eben das steht in der Bibel: Werkgerechtigkeit hat keine Verheißung, sondern steht unter einem Fluch: “Ihr habt Christus verloren, weil ihr euch selbst durch die Erfüllung der göttlichen Normen retten wollt. Ihr lebt wieder ohne Gnade! ” (Gal 5,4)

Zweifellos ist Werkgerechtigkeit ein sehr naheliegender, allzumenschlicher Gedanke: “hilf dir selbst, dann hilft dir Gott…” Echter Glaube ist immer wieder in Gefahr, durch werkgerechte Gedanken wie mit Sauerteig durchdrungen und vergiftet zu werden (Mt 16,6 / Gal 5,9).

Paulus, der erst ähnlich dachte, erkannte durch die Begegnung mit Jesus, welch schlimme Selbsttäuschung die Werkgerechtigkeit ist. Er erkannte, dass selbst seine frömmsten Taten vom Eigennutz vergiftet waren. Auch der frömmste Mensch hat nichts anderes verdient als den Tod und die Hölle. Eine Zeitlang verzweifelte an dieser Erkenntnis, bis er dann ihren Segen erkannte. Eben weil es unmöglich ist, sich das Heil zu verdienen, hat der Gläubige das Recht, sich allen faulen Kompromissen in dieser Richtung zu verweigern und sich auf die neue Lebensweise einzulassen, die Gott all seinen Freunden schenkt.

Sie beginnt mit dem Vertrauen, dass Gerechtigkeit nicht durch eigene Bemühungen erworben wird, sondern dass sie “zugerechnet” wird. Jesus allein war ohne Sünde, und die Sündlosigkeit rechnet Gott jedem Menschen, der auf Jesus Christus vertraut, zu (Rö 4,3 ff /Phil 3,9).

Wer Jesus vertraut, nimmt aber nicht nur diese Zurechnung in Anspruch, sondern er hat auch den Wunsch, die Kraft des geistlichen Lebens zu erfahren, innerlich zu wachsen und durch das Vorbild seines Herrn geprägt und ein Segen für seine Mitmenschen zu werden.

Mehr als diesen Wunsch zu stärken durch engen Kontakt mit seinem Herrn, mit seinem heiligen Wort und mit der christlichen Gemeinde und immer im Gebet zu sein, dass ihm doch Gott die Weisheit geben und ihm zeigen möge, wie auf glaubwürdige Weise mehr von diesem Wunsch verwirklicht werden könne, kann und darf er nicht bringen.

Aber weniger auch nicht! Andernfalls wäre es gar kein echtes Vertrauen, sondern wieder dreistes Anspruchsdenken, wieder Aberglaube.

Es ist und bleibt wahr und für viele Gläubige schwer zu fassen: der Christ, der in der rechten Weise Jesus Christus vertraut, ist vom Gesetz und seinem Zwang befreit. Allerdings kann er sein Recht innerhalb der Gemeinde nur innerhalb der Grenzen in Anspruch nehmen, die ihm das gültige Recht der Gemeinschaft setzt. Dieses Recht der Gemeinde sollte sich strikt an den Qualitätsstandards Jesu Christi orientieren und andernfalls baldmöglichst korrigiert werden.

Es ist wichtig für sein geistliches Wachstum, immer sensibler zu werden für die Qualität, die das Wirken des Heiligen Geistes kennzeichnet und sich immer mehr Urteilsvermögen anzueignen. Was der Gläubige “aus Glauben” tut, entspringt seiner Überzeugung. Er tut es freiwillig, weil ihn die Liebe dazu motiviert. Je öfter er es tut, desto stärker wird die Liebe. “Wer hat, dem wird gegeben” (Mt 13,12) Nur mit echter Heiligung kann der Gläubige Gott würdig repräsentieren.

Leider versuchen nicht wenige Gläubige Werkgerechtigkeit auf eine unehrliche Weise zu vermeiden, indem sie den Glauben zur unverbindlichen “Religiosität“ verwässern und so selbstbezogen leben wie alle Welt, aber zugleich darauf „vertrauen“, dass das Opfer Jesu auch diesen Lebensstil kompensiert.

Toter Kopfglaube ist mit einer freundschaftlichen Verbindung zu Jesus Christus unvereinbar. Er beleidigt die teuer bezahlte Würde dieser Freundschaft. Diese Einstellung kann dazu führen, dass Gläubige eines Tages keinen Zugang mehr zum Glauben haben, dass sie – im Bilde gesprochen – vor verschlossenen Türen stehen. (Mt 7,21-23 / 25,1 ff)

Es gibt einen bibelgemäßen Weg aus der Werkgerechtigkeit, der den Glauben stärkt, anstatt ihm zu schaden. Es ist besser, die Sensiblität für die unsichtbare Welt Gottes zu trainieren und wach zu bleiben.

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Artikel aktualisiert am 02.03.2018

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