Eine buchstabenhörige Theologie kultiviert den Wahn, dass sich durch eine eng am Wortlaut orientierende Auslegung biblischer Aussagen in „unfehlbarer Weise“ ein schlüssiges, widerspruchsfreies Gesamtbild (dogmatisches System) erarbeiten lässt, das anzuerkennen jeder Gläubige verpflichtet sei.
Wahr und leicht nachweisbar ist stattdessen:
Gottes Buch, die Bibel, liefert kein dogmatisches System und soll auch keines liefern. Denn …
Biblische Texte werden nur mit dem Herzen verstanden und richtig eingeordnet. Der Kopf darf das Herz nicht bevormunden. Und wer mit dem Herzen liest, deutet alles, was er liest, im Sinne der göttlichen Maßstäbe “Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit“ (Mt 23,23) Wer in dieser Weise in der Bibel liest, um göttliche Wahrheit kennenzulernen, darf erwarten, dass Gottes Freude in seine Seele einzieht und dass sein Frieden und seine Nähe spürbar wird.
Von etablierten buchstabenhörigen Theologen wird diese Reihenfolge gerne umgedreht. Der Kopf bevormundet das Herz. Der Kopf macht aus der Bibel ein frommes System, das angeblich durch qualifizierte Schriftgelehrte „wissenschaftlich„.abgesichert worden ist, in dem aber die prüfenden Maßstäbe Jesu (Mt 23,23) nur eine sehr eingeschränkte Gültigkeit haben.
Vorsicht!
Frommer Wahn!
Deshalb sabotieren die biblischen Texte die Bemühungen um ein frommes System. Sie erreichen das durch folgende Hindernisse:
1) der Wortsinn stiftet Verwirrung durch widersprüchliche Angaben über das Gottesbild, über die Forderungen Gottes und über die Heilszusage. Entsprechend ihrer Biographie und psychischen Prägung kommen Gläubige zu ganz unterschiedlichen Vorstellungen, einerseits ermutigend andererseits zutiefst deprimierend.
2) der Wortsinn ist manchmal nicht praktizierbar
3) der Wortsinn ist manchmal irreführend
4) der Wortsinn ist manchmal Unsinn bzw. die Deutung bleibt unsicher und umstritten.
All diese Beobachtungen weisen uns eindrücklich darauf hin, dass die Bibel nicht mit dem Kopf, sondern nur mit dem Herzen, mit einem stark entwickelten Sinn für Barmherzigkeit gelesen werden darf, und dass der Gläubige sich überlegen muss, wie sperrige Sätze der Bibel mit Hilfe des übergeordneten Maßstabes der Barmherzigkeit (Mt 23,23) beurteilt und korrigiert werden können.
Erläuterungen der Punkte 1 bis 4 im Detail:
zu 1) Bei „buchstabenhöriger“ Auslegung liefert die Bibel in allen für die seelische Stabilität relevanten Aspekten stark verunsichernde Informationen.(freundliches, verlässliches Gottesbild, Gültigkeit der Heilszusagen und erfüllbarer Pflichtenkatalog (Ethik)), Die Folge ist eine Instabilität der Seele und des sozialen Zusammenhalts in der religiösen Gemeinschaft.
zu 2) Der Wortsinn ist manchmal nicht praktizierbar. Etliche biblische Aussagen haben die Form eines strengen Befehls, werden aber von der Christenheit traditionell ignoriert, weil der Schaden der Anwendung größer wäre als der Nutzen, z.B. beim Gebot einer geistlichen Schiedsgerichtsbarkeit oder beim Gebot, dass Frauen nicht in der Gemeinde reden dürften. (1.Kor 14,34 – 35) Sodass wir eher annehmen müssen, dass es sich um eine starke Übertreibung mit dem Zweck der Betonung handelt. Auch andere Ursachen kommen für eine Überzeichnung in Betracht.
zu 3) Der Wortsinn ist manchmal irreführend. Hierzu gehören insbesondere Abweichungen von üblichen Interpretationsregeln. So schafft der Zusammenhang des unklaren Textes nicht immer Klarheit. Manchmal führt er bei der Interpretation einer Aussage in die Irre, wie zum Beispiel bei der missverstandenen Anweisung, Älteste doppelt so hoch zu entlohnen wie andere Mitarbeiter. Eine völlig unsinnige Deutung: jede Anspruchshaltung wirkt sich äußerst störend auf die Empfänglichkeit für das Reden Gottes aus („Hierarchie und Inspiration„) Auch Formulierungen der biblischen Stile („Pauschal-Stil“, „Fokussierungsstil“, „Perspektiv-Stil“ usw.) können zu fehlerhaften Interpretationen führen.
zu 4) Der Wortsinn ist manchmal Unsinn bzw die Deutung bleibt unsicher und umstritten.
Einige strikte Aussagen sind durch die weitere Gemeindegeschichte soweit in Frage gestellt worden, dass der Wortsinn keinen Sinn mehr ergibt. So sagte Jesus: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich.“ (Mt 5,17) Zwar hat sich Jesus selbst unter das jüdische Gesetz gestellt, aber hier spricht er von einer Gültigkeit dieses Gesetzes bis zum Ende der Welt.
Trifft das wirklich zu? Was geschah im folgenden? Es dauerte nicht lange, da durften die Speisegebote des mosaischen Gesetzes ignoriert werden – nicht nur durch heidnische, sondern auch durch jüdische Gläubige (Apg 10) und auch die Beachtung des Sabbats – auf dessen Missachtung einst die Todesstrafe stand (Ex 31,14) – wurde dem Gläubigen freigestellt. (Rö 14,5)
Sollte Jesus sich geirrt haben? Wenn wir annehmen, dass er sich damals nicht geirrt hat, so geht das nur, wenn wir eine Bedeutung für seine Worte finden, die nicht (!) dem Wortsinn entspricht. Könnte es nicht sein, dass die ganze Redeweise Jesu darauf hinweist, dass auch in unscheinbaren Geboten nach dem zunächst verborgenen Sinn zu forschen ist, der der Liebe entspricht (das Ergebnis kann sehr überzeugend, aber auch sehr überraschend sein, wie das Beispiel der Fütterung der Ochsen zeigt: 1.Kor 9,9. Welcher Theologe wäre wohl auf die Idee gekommen, zwischen Ochsen und Ältesten eine Parallele zu ziehen?). Noch einmal: der wörtliche Sinn, dass die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes ohne Abstriche fortbesteht, führt in die Irre. Wer aus dieser sehr freien, an die Barmherzigkeit gebundenen Argumentationsweise ein theologisches System konstruieren will, muss sich nicht wundern, wenn es immer unehrlicher wird.