Akualisiert: 28.9.23
Wer die Erkenntnis gewonnen hat, dass fromme Lüge keinen wirklichen Glauben, sondern vielmehr den Aberglauben gedeihen lässt, und sich dazu entschließt, der frommen Lüge in ihren vielfältigen Erscheinungsformen der Übertreibung, Verharmlosung, Leugnung, Fälschung mit offenem und ehrlichen Wort entgegenzutreten, der sieht sich zunächst mit einer gewissen Verunsicherung konfrontiert.
Denn die Alternativen sind manchmal nicht gleich offensichtlich: sie müssen manchmal durch „Anvisieren“ der geistlichen Koordinaten Liebe und Wahrheit erst gefunden werden. Dieses Auffinden ist nicht selten eine Inspirationserfahrung.
So mancher holt sich – so wie man es allgemein gewöhnt ist – dann bei Gläubigen Rat, die aufgrund ihrer Funktion gewohnt sind, mehr Beachtung und Respekt zu erwarten als andere – bei Gemeindeleitern und Theologen.
Hier ist es angebracht auf einen wichtigen Zusammenhang hinzuweisen. Hierarchie und Inspiration vertragen sich schlecht.
Paulus sah sich mit den Erwartungen seiner Gemeindemitglieder konfrontiert und war sich seiner Aufgabe bewusst, keine Verwässerung der Glaubensgerechtigkeit zuzulassen. „Wenn ich Menschen gefallen wollte, wäre ich Christi Diener nicht.“ (Gal 1,10).
Genau das ist das Dilemma, das mit der Funktion einer fest installierten Gemeindeleitung verbunden ist. Gemeindeleiter müssen doch der Mehrheit in der Gemeinde gefallen, sonst werden sie nicht gewählt oder gegenüber Konkurrenten bestätigt. Die Neigung der Gemeindeleiter, zu gefallen, ist umso größer, je größer die materiellen Vorteile sind, die sie aus ihrem Amt ziehen können. Die Inspiration hingegen macht sich nicht von Vorteilen abhängig: „Umsonst habt ihrs empfangen, umsonst gebt es auch!“ (Mt 10,8)
An den Gemeindeleiter werden von der Mehrheit der Gläubigen gewisse Erwartungen gestellt. Werden diese nicht erfüllt, so besteht das Risiko, dass sich die Gemeinde nach einer anderen Leitung umsieht. Und diese Erwartungen sind nicht selten sehr problematisch. Die Mehrheit der Gläubigen möchte schnelle und bequeme Gefühlsversorgung und keine Beunruhigung. Die Abneigung gegen „zu viel Wahrheit“ ist ein typisches Bedürfnis des Mainstreams. Die Neigung zu lieb gewordenen Lügen ist daher überaus hartnäckig und groß. Die Motivation zur Richtigstellung beliebter Glaubensillusionen ist erfahrungsgemäß gering.
Das dürften die Gründe dafür sein, dass die vielen Gläubigen des evangelikalen Mainstreams zeit ihres Lebens nicht ein einziges Mal erfahren werden, dass Martin Luther eindringlich vor der Werkgerechtigkeit im Hebräerbrief warnte.
Ja, der Druck des Mainstreams ist so groß, dass renommierte theologische Ausbildungsstätten nicht einmal dazu bereit sind, diese Warnung im Interesse der schwachen Geschwister gründlich zu überprüfen.
Sicherlich hat es dazu auch eine Stellungnahme des Heiligen Geistes gegeben. Doch die Kanäle, durch die die Inspiration hätte kommen können, blieben offenbar verrammelt und vernagelt.
Es ist nachvollziehbar, dass für einen Gemeindeleiter, der an einer langfristigen Anstellung interessiert ist, die Wahrung seines Images und des Ansehens seiner Gemeinde in der Regel eine große Rolle spielt. Weder er noch seine Gemeinde sollen unangenehm auffallen – auch nicht mit der Wahrheit. Wenn es zu ehrlich wird, könnten ja Leute empfindlich reagieren und scharenweise abwandern – das wäre für viele Gemeindeleiter eine Art Super-GAU. Deswegen ist ein „blinder Fleck“ in der Wahrnehmung geradezu unvermeidlich. Wer dagegen auf Inspiration von oben hofft, wird auf eine Unterscheidung zwischen Sein und Schein nicht verzichten können.
Ein Gemeindeleiter dürfte unter diesen Sachzwängen als Missbrauchsbeauftragter allzu oft eine völlige Fehlbesetzung sein.
Als anschauliches Beispiel für die etablierte Verdrängungs- und Lügenkultur im evangelikalen Mainstream mag Markus Spiekers Buch „Jesus – eine Weltgeschichte“ dienen, das ohne die geringste Bedenklichkeit geschichtliche Fakten unterschlägt, verharmlost, leugnet und somit nach Wunsch und Phantasie neu erfindet. Die Rezensionen in bekannten christlichen Zeitschriften nahmen daran keinen Anstoß. Sie blieben meines Wissens durchweg positiv und bemängelten allenfalls Nebensächlichkeiten.
Indes – Gemeindeleitung muss sein. Es ist eine notwendige organisatorische Aufgabe, durchaus eine sehr kreative, gestalterische Aufgabe, aber nicht automatisch eine spirituelle. Auch wenn sich Gemeindeleiter gewöhnlich als spirituelle Fachleute sehen. Sie beanspruchen ganz selbstverständlich für sich die höchste Kompetenz in der Gemeinde. Das lange Studium lässt ja vermuten, dass sie vergleichsweise am tiefsten in die Materie eingedrungen sind. Sind sie das tatsächlich? Und ist damit automatisch eine überragende Autorität verbunden?
Die vermittelten Inhalte, die kurzweilig und gefällig präsentiert werden sollen, entsprechen in etwa dem Inhalt und Niveau einer Kinderbibel. Diese Art der Lehre entspricht am besten den Erwartungen der Mehrheit der Gläubigen, die den Besuch einer Gemeinde im Großen und Ganzen dem Wellness-Bereich zuordnen.
Aus der Wellness-Orientierung folgt, dass eine kritische Wahrnehmung und Reflexion der seelisch-religiösen Prozesse und Motive (religiöse Gruppendynamik) unerwünscht sein wird. Dass die Bibel vom Mainstream gründlich gelesen wird, ist heutzutage angesichts der kaum noch zu steigernden Sogwirkung eines uferlosen Angebotes an Filmen, Nachrichten und Musik nicht zu befürchten.
Wenn nun bei einzelnen Gläubigen durch schweres Leid oder doch durch gründliches Bibelstudium Ängste vor der Ungnade Gottes entstehen sollten, so ist auf der Wellness-Basis keine überzeugende und zuverlässige Antwort möglich.
Die Gemeinde pflegt dieses Defizit durch die Hoffnung zu kompensieren, dass Gemeindeleitern besondere „Vollmacht“ zuzutrauen ist. Weil diese sich auf den Glauben spezialisiert haben, wird ihnen am ehesten zugetraut, als „Stellvertreter Christi“ zuverlässig Heilsgewissheit, Vergebung und Gnade zuzusprechen. Können sie das tatsächlich? Wie sollen sie das können, wenn sie angesichts der verstörenden Aussagen der Bibel nur die Empfehlung geben können, diese zu verdrängen? Doch können sie es sich leisten, diese Erwartungen zu enttäuschen? Indes wird das Selbstbewusstsein durch diese Erwartung natürlich enorm gesteigert. Und das ist nicht ungefährlich. Echte Spiritualität kann dabei gänzlich verlorengehen. „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre von einander annehmt?“ (Joh 5,44)
Wäre es nicht sinnvoll, der Illusion einer angeblichen spirituellen Überlegenheit der theologisch Gebildeten entgegenzutreten? „Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemand euren Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater: der im Himmel. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus.“ (Matth 23, 8 – 10) Man blicke einmal in die ersten Seiten der Chicago-Erklärung, wo nahezu sämtliche Verfasser mit ihren Doktor- und Professorentiteln prunken. Schon zu Beginn macht man genau das, was Jesus verboten hat. Zur angeblichen Sicherung des „Glaubens“.
Und die Gläubigen des frommen Mainstreams merken nichts. Ja – schlimmer noch – sie sind so abgerichtet und dressiert, dass sie sich auch an diesem Widerspruch nicht mehr stören, sodass es vergebliche Mühe sein dürfte, sie darauf hinzuweisen.
Würde sich nicht die Empfänglichkeit für Inspiration wesentlich verbessern, wenn man sich zu folgenden präventiven Maßnahmen entschließen würde?
1. Es wäre heilsamer, wenn Gemeindeleitung kein höher bezahltes Amt ist. Alle in einer Gemeinde Beschäftigten erhalten denselben Stundenlohn, u.U. aufgestockt nach Bedürftigkeit, falls Kinder zu versorgen oder Härtefälle auszugleichen sind. Ansonsten ist es sinnvoll, den Lohn jedes Gemeindelehrers um den Betrag zu erhöhen, der in eine Haftpflichtkasse zum Ausgleich für Missbrauchsschäden einzuzahlen ist. Wer Sensibilität für die Inspiration der Liebe ausbilden will, wird sich für einen angemessenen Schadensausgleich einsetzen. „Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt dann die Liebe Gottes in ihm?“ (1Joh 3,17). Das ist fair und barmherzig gedacht – das andere nicht.
1b. Es wäre heilsamer, wenn die Dauer des theologischen Studiums erheblich gekürzt wird und Schwerpunkte auf mehrere Personen verteilt werden. Das einzige, was eine lange Studiendauer sicher fördert, ist Anspruchsdenken, Dünkel und der Wahn, aufgrund der Ausbildung spirituelle Führung ausüben zu können. Was hat denn das Studium von Kirchengeschichte, Philosophie, Psychologie und Ethik genützt, wenn man hinterher nicht einmal in der Lage ist, die Werkgerechtigkeit im Hebräerbrief zu durchschauen und die Gemeinde über fromme Illusionen aufzuklären? Es wäre heilsamer, wenn das erste Halbjahr einer theologischen Ausbildung dazu dient, Inhalte nach dem praktischen Nutzen zu bewerten, um den Erwerb von „Totwissen“ zu vermeiden.
Paulus dazu: „der Schatz des Evangelium wird weitergegeben in zerbrechlichen, geringwertigen Gefäßen, was jedem zeigt, dass der Inhalt, diese überaus große Kraft, nicht dem Gefäß, sondern Gott zu verdanken ist.“ (2.Kor 7,4) Ist es da nicht unsinnig zu glauben, dass spirituelle Autorität durch eine theologische Karriere geschaffen wird? Luther dazu: „Gott schafft alles aus nichts, und wen er zu seinem Werkzeug machen will, den macht er zuerst zu nichts!“ Leer sein, frei von bremsenden Ballast – das ist die beste Voraussetzung für ein brauchbares Gefäß!
Es wäre überhaupt gut, wenn jeder, der eine Gemeinde leiten möchte, zuvor einen Beruf erlernt, in dem er jederzeit wieder Anstellung findet, falls die Mitglieder seiner Gemeinde auf seine Wahrheitsliebe allergisch reagieren sollten. Dazu eigenen sich Berufe im pädagogischen, künstlerischen oder karitativen Bereich – technische Berufe, in denen die Kenntnisse schnell veralten, indes wohl kaum. Jedem, der ernsthaft Lohn für seine Arbeit in Gottes unsichtbarer Welt erhofft, wäre es nicht nur gut, sondern dringend zu empfehlen (!). Dann auf was kann man ernsthaft hoffen, wenn man am Ende seines Lebens einsehen muss, dass man zugunsten der eigenen Beliebtheit vor dem Mainstream eingeknickt ist und nicht das Nötige gegen die Gefährdung durch den „tötenden Buchstaben“ (2Kor 3,6) getan hat? „Ein strengeres Urteil“ (Jak 3,1) wird man zu erwarten haben.
2. Es wäre heilsamer, wenn religiöse Belehrung nie eine Einbahnstraße ist, sondern jede Gemeinde eine Möglichkeit des offenen Austausches über angebotene religiöse Inhalte und evt. Nebenwirkungen hat. Dadurch erst wird die Gefahr vermieden, sich den Erwartungen des Mainstreams anzupassen, was in Gemeinden mit herkömmlich-bibeltreuer Prägung zu einer Kontamination der Inhalte mit unsauberer Theologie und Unehrlichkeit geführt hat. Jedoch bleibt ein ehrlicher Austausch unmöglich, solange das Monopol des Irrtumslosigkeitswahns nicht überwunden ist. Ist diese Doktrin einmal als Wahn entlarvt, dann kann hier eine zensurfreie Webseite gute Dienste leisten.
3. Es wäre heilsamer, wenn Gemeindegliedern eine solide Kenntnis religiös-psychologischer Gesetzmäßigkeiten vermittelt wird, um religiöse Gruppendynamik zu erkennen und als unzureichenden Inspirationsersatz bzw. ggf. als religiösen Missbrauch zu identifizieren. Es wäre heilsamer, wenn sie die Merkmale geistlicher und vermeintlicher Autorität unterscheiden könnten.