Ausnahmen von üblichen Interpretationsregeln beachten!

Im allgemeinen wird der Sinn eines Textabschnitts am besten erschlossen, wenn sich der Ausleger möglichst eng an den Wortsinn hält und auch den Kontext der Aussagen berücksichtigt.

Die Bibel ist ein einzigartiges Buch – vom heiligem Geist Gottes inspiriert. Bei der Interpretation sind wichtige Besonderheiten zu beachten:

Die innere Einstellung geistlicher Disziplin wird vorausgesetzt – ohne die sich die Bibel dem Leser verschließt (Selbstverstärkung).

Jede Auslegung muss ein lebensfreundliches, dem geistlichen Wohl dienliches Ergebnis haben. (Mt 4,4) Ein destruktives Ergebnis wird korrigiert, indem Einzelaussagen mit Hilfe der übergeordneten Qualitätsmaßstäbe Jesu der richtige Rang zugewiesen wird.

Auch sind die speziellen Stile der Bibel bei der Interpretation biblischer Aussagen zu beachten.

In manchen Fällen muss der Ausleger vom Wortsinn abweichen, um Unsinn zu vermeiden.

Der Sinn eines Satzes steht im allgemeinen zwingend im Einklang mit dem umgebenden Kontext. Meistens ist das so – aber in der Bibel nicht immer.

Das kürzeste Beispiel für die Abweichung von dieser Regel ist die messianische Verheißung „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ (Mt 2,15). Die zugehörige alttestamentliche Stelle (Hos 11,1) bezieht sich ganz klar auf das sündige Israel. Ein Kandidat der Germanistik, der sich dieser Art des „Schriftbeweises“ in einer Prüfung bedienen würde, würde – wegen mangelnder Einsicht in die Regeln der Hermeneutik – durchfallen.

Anderes Beispiel: In 1.Tim 5,17 werden die Gläubigen ermahnt, die Ältesten, die gute Arbeit leisten, “zweifacher Ehre (Διπλης τιμης) wert zu halten“. Der vorangehende und der folgende Vers spricht über die materielle Versorgung, sodass manche Ausleger hieraus geschlossen haben, dass Älteste nach dem Willen Gottes „doppeltes Gehalt“ zu beanspruchen hätten im Vergleich zu anderen Gemeindemitarbeitern.

Und doch ist der Schluss aus dem Kontext falsch! Hätten Jesus und die Apostel die Menschen überzeugen können, wenn sie sich selbst vorab doppelten Lohn zugemessen hätten? Am schnellsten hatte sich das Evangelium unter den Sklaven verbreitet. Wäre das möglich gewesen, wenn die Verkünder des Evangeliums sich selber üppige materielle Vorteile reserviert hätten?

Paulus  ermahnt die  Hörer des Briefes ein Kapitel weiter, dass Timotheus wie auch allgemein Gläubige sich an “Nahrung und Kleidung genügen lassen sollten” (1.Tim.6,8), weil aus der Frömmigkeit “kein Gewerbe” gemacht werden darf. Und selbst darauf verzichtete er, und arbeitete selbst für seinen Unterhalt, um sich bloß nicht dem Vorwurf des Eigennutzes auszusetzen. “Gute Arbeit” mit einem hohen Einkommensvorsprung zu belohnen, steht mit der Tatsache in Widerspruch, dass sich gute Arbeit eben besonders durch Uneigennützigkeit auszeichnet. Paulus weist genau darauf hin, damit die Gemeinde in Korinth die erbärmlichen Motive seiner Konkurenten in Korinth erkennt.

Was stimmt denn nun ? Man kann natürlich vermuten, dass in Ephesus die Prediger bisher sehr kläglich bezahlt wurden und durch eine Verdoppelung dieses Defizit aufholten. Von etlichen Auslegern (z.B. von Thomas Schirrmacher in seiner Ethik zum Selbststudium, Neuhausen-Stuttgart, 1994, Band 2, Seite 537) aber wird die Mahnung des Paulus auch auf heutige Verhältnisse bezogen: Predigern und Ältesten steht doppeltes Gehalt zu im Vergleich zu den „einfachen“ Gemeindemitarbeitern. Welcher Unsinn! Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg betont Jesus, dass diejenigen, die tagsüber vergeblich Arbeit suchten und erst abends eine Stunde arbeiten konnten, derselbe Lohn gegeben wurde, wie die, die den ganzen Tag gearbeitet hatten.Jeder würde gerne hochqualifizierte gut bezahlte Arbeit tun, aber vielen sind die Begabungen nicht gegeben oder die Arbeitsmöglichkeiten. Beides sind Gnadengaben und kein Verdienst. (Siehe dazu S.Zimmer, das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.)

Wie sollte man auch “gute Arbeit” definieren ? Soll man Bekehrungen zählen, die möglicherweise durch das Zusammenwirken von mehreren Gläubigen zustandegekommen sind ? (1.Kor 3,6) Ist die harte Arbeit von Streetworkern und Diakonen z.B., die sich verstärkt um Menschen in sozialen Notlagen mühen, oder die von Strapazen geprägte Arbeit von Missionaren in Gebieten fernab der Zivilisation weniger “gute Arbeit” ?

Wird der Gemeinde auferlegt, den Zehnten zu geben, so ist die Gewährung doppelten Lohnes sehr unfair. Soll armen Gläubigen auferlegt werden, von dem, was für einfachste Bedürfnisse der Familie kaum ausreicht, 10% abzugeben, damit Gemeindeälteste über diesen Bedarf hinaus Luxuseinkommen anhäufen können? Hat Paulus das in der Tat empfohlen ?

Nach dem Wortlaut könnte man das meinen, doch sicherlich hat er das nicht gemeint: es wäre ein klarer Verstoß gegen den Qualitätsstandard der Fairness. Deswegen kann man “doppelte Ehre” nicht guten Gewissens mit “doppeltem Einkommen” übersetzen. Man kann hier deutlich sehen, dass das Wort Gottes dem Übersetzer nahelegt, Erkenntnisse aus dem praktischen Glaubensleben bei der Übersetzung zu berücksichtigen. Erst im Zusammenwirken von Bibeltext und geistlicher Lebenspraxis erschließt sich ein vernünftiger Sinn („schöpfungsgemäßes Inspirationsmodell„)

Der biblische Fokussierungsstil liefert weitere Beispiele.

 

Artikel aktualisiert am 19.04.2021

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