Lieber Bruder M.
ich habe die Dateien auf deinem Stick angehört – aber ich denke nicht, dass das das optimale Format ist, in dem wir uns austauschen sollten. Die Datei _59 war akustisch so verzerrt, dass ich nur die ersten 10 Minuten auswerten konnte. Und dann ähnelt eine lange akustische Mitteilung einer Predigt, die mit Wiederholung versucht einzuprägen, ohne dass der Hörer irgendwo nachhaken kann. Macht es Sinn zu „prägen“, bevor die Inhalte überhaupt auf dem Prüfstand gestanden haben? Würdest du das zulassen? Nun habe ich dir geschlagene 4 Stunden zugehört. Bist du bereit, mir in gleichem Umfang Aufmerksamkeit zu schenken?
Zum Hebräerbrief: ich habe Bruder Liebi meine Bedenken geschrieben, aber er hält eine Antwort für überflüssig. Die relevanten Punkte will er nicht sehen, auch keinen Austausch, sondern – wie sollte es anders sein – auch hier gibt es nur eine Einbahnstraße. Er hat ja seine Schallplatte, die er weiter abspielen kann. Eine längere, selbstkritische Suche nach Wahrheit, das Ertragen offener Fragen – viel zu anstrengend. Er meint, er habe immer schon das gefunden, nach dem sich alle anderen richten müssen. Dass die Argumente bisweilen dumm sind – wen stört es? „Der Hebräerbrief sei „nur“ an die Juden gerichtet!“ Wieso soll das die drohenden Schriftstellen zuverlässig entschärfen? Auch das Matthäusevangelium und der Jakobusbrief sind in erster Linie an Juden gerichtet. Und dennoch können dort Sätze enthalten sein, die alle betreffen.
Fakt ist: Ich habe jahrzehntelang der traditionell bibeltreuen Spur meines Vaters gutgläubig folgend versucht die Ängste vor Gott loszuwerden. Es hat nicht funktioniert. Gibt dir das nichts zu denken? Tausende demütigster Unterwerfungs- und Hingabegebete meinerseits haben an der seelischen Erpressung und Bedrohung nichts geändert. Für mich war es nicht schwer, einzusehen, dass ich ein Sünder bin, aber eine Befreiung ist dem nicht gefolgt, wie du sie erlebt hast, obwohl ich gerne daran geglaubt hätte. All das was du an Theologie mir hier bietest, habe ich in der einen oder anderen Form längst gehört – der Knoten soll sich angeblich dadurch lösen, dass man bis zum Exzess auf der eigenen Verdorbenheit herumreitet. Bei mir löst sich nichts. Ist es nicht etwas billig, alle Not mit „unverbesserlicher Selbstgerechtigkeit“ zu erklären und mich mit Leuten in einen Topf zu werfen, die eigenes Versagen mit Psychologie rechtfertigen und aus Tätern Opfer machen? Aber wenn man in Schubladen denkt, dann passt ja diese Schublade vielleicht auch für mich oder wird passend gemacht.
Bei mir (und vielen anderen, die mir schrieben), hat dein „Rezept“ nicht funktioniert. Jahrzehnte (!) habe ich unter der Angst vor der unvergebbaren Sünde gelitten, bis die Familie schwer beschädigt und auch mein Leben ruiniert war. Ich weiß: für entschiedene Fromme ist das immer noch kein Anlass, nach besseren Hilfen zu suchen, die rechtzeitig wirken und nicht erst, wenn man sein Ruhe in der Urne gefunden hat. Was hat man denn in den letzten Jahrzehnten durch solche Schicksale dazugelernt? Kürzlich schreibt mir ein Vorstandsmitglied einer als Vorreiter geltenden bibeltreuen Gemeinde, wer Angst habe diese Sünde begangen zu haben, hätte sie „wahrscheinlich nicht“ begangen. Wahrscheinlich nicht = vielleicht doch. Er ist Akademiker, sollte eigentlich mit Niveau denken können, ist aber dank jahrelanger Indoktrination so abgestumpft, dass er nicht mehr erkennen kann, wie wenig hilfreich sein „Trost“ ist. Eine Unfähigkeit zur Selbstkritik, die ganze Gemeinden prägt. Auch eine Unfähigkeit zum Mitgefühl. Es zählen ja nur seine Gefühle, die ihn in höheren Etagen herumschweben lassen, sodass er sich sogar noch von Gott selbst beauftragt fühlt, dergleichen Blödsinn unter die Leute zu bringen. Unter diesen Bedingungen konnte bei Betroffenen nur selten mehr Gewissheit entstehen als die vage Hoffnung, dass Gott sie VIELLEICHT liebt. Vielleicht auch nicht!
Eine nachhaltig wirksame Eindämmung der Verdammungsangst gelang erst durch die Bewertung biblischer Aussagen mit dem Qualitätsstandard Jesu in Mt 23,23. Das ist ein bescheidener, aber unbestreitbarer Erfolg. Und ein Erfolg, der es mir zumindest ermöglicht, einen – wenn auch kleinen – positiven Beitrag zu leisten, während ich vorher Jahrzehnte nur Belastung war. Für mich ist dieser Unterschied gewaltig, den auch mein Vater in seinen Lebenserinnerungen bezeugt, den du aber nicht anerkennst. Warum eigentlich nicht?
Weil ich nicht so frohgestimmt wie du sein kann? Reicht das Einfühlungsvermögen bei dir nicht aus, um eine chronische Schädigung der Seele für möglich zu halten, die auch nach Wegfall der Ursachen nur wenig Raum für Freude lässt? Jahrelang ohne eine einzige Sekunde Pause in Todesangst auf die eigene Hinrichtung und Verdammung zu warten, das ist ein solches Übermaß an Aggression und Brutalität, dass es eigentlich plausibel sein sollte, dass nicht nur sanfte Winde in meiner Seele wehen, sondern gelegentlich auch heftige. Ich kann es nicht nachvollziehen, wieso dich das berechtigt, daraus ein finales Urteil über meine charakterliche Haltung abzuleiten („Hochmut“, „Rebellion“). Zudem gibt es viele Depressionsquellen, die weiter fortbestehen, nicht zuletzt die Borniertheit der ev Allianz, die sich bis heute weigert einen offenen Austausch über religiöse Risiken zuzulassen, damit die Menschen sich gutinformiert entscheiden können. Wir würde mich das freuen, wenn dem religiösen Missbrauch wenigstens in Zukunft ein zuverlässiger Riegel vorgeschoben werden würde! Dann hätte das erlittene Leid wenigstens einen Sinn. Doch es bleibt weiter dem Zufall überlassen, ob junge Menschen durch frommen Fanatismus geschädigt werden. Das ist grob fahrlässig und objektiv wirkliche Schuld.
Ich kann deswegen niemandem mehr unbesehen glauben, keinem Pastor, keinem Bibellehrer noch irgendeiner anderen von sich überzeugten Lichtgestalt, sondern frage selbstkritisch, was eher Wunschdenken ist, was wir sicher wissen können und welche nachvollziehbaren Prozesse in der Seele ablaufen. Das ist besser als der Wahn, gar nicht nach der Wahrheit suchen zu müssen, weil man sich von vornherein als Vertreter der alleinseligmachenden Wahrheit einstuft. Trittst du mir nicht in dieser Haltung seit Jahrzehnten gegenüber? Auch wenn du dich in einem langsamen Prozess selber korrigierst ( und mir folglich Jahre lang Blödsinn aufgetischt hast) – Immer bin ich derjenige, der von dir zu lernen hat.
Ich bin der emotionale Rollstuhlfahrer, der von dir, der noch gesunde Glieder hat, belehrt wird, wie einfach es doch ist, durch die Landschaft zu joggen. Du hältst lange Monologe und ich komme kaum zu Wort. Berechtigt dich deine emotional bessere Ausstattung wirklich dazu? Zwar könntest du meine Internetseite www.matth2323.de (oder: glauben-ohne-angst.de) besuchen, um zu verstehen, was mich tatsächlich bewegt und warum ich immer wieder so deprimiert bin. Doch es interessiert dich schlicht und einfach nicht. Du tust das alles ungelesen als „Hochmut“ ab, obwohl du eigentlich weißt, dass mein lieber Vater, dem viele das gute Zeugnis ausstellen, dass er sich sein Leben lang um Demut, Treue und Liebe und Respekt vor Gott bemüht hat, diese Erkenntnisse dort als wertvoll und hilfreich bestätigt hat und solange er es konnte, beratend begleitend hat. Warum hat denn diese Einschätzung bei dir kein Gewicht? Ich halte es für völlig unangemessen, etwas abwertend einzustufen, was man nicht gelesen hat. Wenn jemand antwortet, bevor er gehört hat, das ist schändlich…… (Spr 18,13) So steht es in der Bibel, aber was bedeutet dir dieser Satz?
Es wäre nett, wenn du – wo du nun sowieso schon jede Menge Zeit hast, viele dicke evangelikale Bücher zu lesen, die deine Sicht bestätigen – dich auch mit meinen relativ kurzen sorgfältigen Ausarbeitungen befassen könntest, die Wert darauf legen, zwischen Behauptung, Beweis und Vermutung zu unterscheiden. Ich denke, dass gehört zur Fairness und zum Respekt vor dem Gesprächspartner. Ich habe dir nicht nur die 4 Stunden vom USB Stick zugehört, sondern noch viele viele Stunden mehr. Darf ich von dir nichts Gleichwertiges erwarten? Nimm dir mal etwas Zeit, mein Konzept zu durchdenken. Du bist eingeladen alles zu prüfen. Alle deine Kommentare und Kritiken sind willkommen und werden gerne veröffentlicht. Ich halte in Zukunft eigentlich nur einen Austausch von Argumenten in Augenhöhe für sinnvoll und nicht die Berieselung mit Inhalten, die ich widerstandslos zu schlucken habe, wenn ich nicht als „verstockt“ und „hochmütig“ eingestuft werden will.