Ich bin abgespalten – ich geistere als verlorenes Atom durch ein leeres Universum. . Ich bin kein Teil des Leibes Christi mehr. Gibt es die „Gemeinschaft der Heiligen“ überhaupt- Der „Leib Christi“ – eine Fiktion?
Bei diesen Gedanken bin ich immer häufiger angekommen. Ich hatte lange Zeit gemeint, die Menschen in der Heimatgemeinde seien meine Freunde. Ich habe viele Jahre erkannt, dass sie mich benutzt haben und umgekehrt ich sie auch. Benutzt als Hilfsmittel, um schöne Glaubensgefühle zu sichern und um uns Fragen vom Leib zu halten, die eigentlich selbstverständlich waren. Ständig wurde dort gelehrt, um dort Lebenswichtiges zu verlernen, nämlich dass man die Verformung der Wahrnehmung durch eigene fromme Interessen vermeiden muss. Ich lernte dort ein frommes Neusprech, ein Sprache, die es leicht machte, den Wunsch nach einer ehrlichen Rechenschaft vor sich selbst noch im Keime zu ersticken. In dieser gedankenlos geklonten Gedankenwelt schrumpfte der Raum, in dem ich selber erkennen und denken konnte, immer mehr zusammen.
Allmählich habe ich gemerkt, dass ich eigene Worte und eigene Argumente brauchte, um diesem Gefängnis zu entkommen. Indem ich mein Leid in eigenen Worten ausdruckte, gelang es mir immer besser zu erkennen, wo das fromme System mich und andere belog. Zugleich aber musste ich erkennen, dass das Lügen und der Verrat, der die Seele so sehr schädigen konnte, immer weiter gehen würde.
Die evangelikalen Vordenker haben mich verraten. Mich und alle anderen, die von religiösem Missbrauch betroffen sind. Da ich mich nicht mehr für die Ziele der Gemeinschaft vereinnahmen lasse, ist man daran interessiert, dass mir möglichst niemand zuhört. Man hat mir die Rolle eines Störenfrieds zugewiesen, der allen anderen, die fröhlich ihres Glaubens leben, mit Penetranz ständig alte, ungenießbare Kamellen auftischt und nichts dazugelernt hat. Nirgendwo Mitgefühl. Der Missbrauch ist geblieben.
Wahr ist wohl: der Missbrauch ist viel unauffälliger geworden. Heute ist eine sanfte Art zu predigen Mode. Mit der Hölle wird nicht mehr gedroht. Alles Angstmachende in der Bibel wird in der Predigt weggelassen oder nach Möglichkeit entschärft. Ja das Thema geistlicher Missbrauch wird doch nun auch in der Ev. Allianz offiziell angesprochen. Initiativen wie „gesunde Gemeinde“ scheinen das Missbrauchsproblem im Visier zu haben. Die Chikago-Erklärung – früher heiß umkämpft – wird vielerorts gar nicht mehr erwähnt.
Sind nunmehr schöne Zeiten angebrochen? Hat der Buchstabe jetzt nicht mehr die Kraft zu töten – (2Kor 3,6b) dank der vorausschauend sanften Predigtweise der Pastoren?
Nein, der evangelikale Mainstream hat es verstanden, die Gläubigen wieder mit neuen Illusionen zu bedienen. Um dasselbe Ziel beharrlich anzustreben, möglichst viel Einfluss über die Gläubigen auszuüben. Gläubige, die wenig denken und viel fühlen sollen. Für Gläubige aber, die die Bibel fleißig und genau lesen, hat sich nichts geändert. Die Chikago-Erklärung herrscht nach wie vor in den Köpfen und soll weiterherrschen. Ihre Erwähnung ist zwar unerwünscht, aber ihre Entlarvung noch viel mehr.
Ein Befehl zum Massenmord an Frauen und Kindern, wie er in Num 31 Mose zugeschrieben wird, einen willkürlichen Massenmord, der in seiner Qualität den furchtbaren Verbrechen eines Heinrich Himmler in nichts nachsteht, wird bestenfalls als „dunkle Bibelstelle“ bezeichnet. Diese Art zu formulieren, dieses Neusprech ist der Geist der Chikago-Erklärung und nichts anders. Die Gemeinde wird damit aufgefordert, auf eine distanzierende Stellungnahme, die dringend nötig wäre, zu verzichten, da es sich ja angeblich auch bei diesem verbrecherischen Wahnsinn nur um echtes Gotteswort handeln kann, das unantastbar über jeder Kritik steht. Mit der Bezeichnung einer „dunklen Bibelstelle“ wird an den Gläubigen appelliert, mit Verdrängung zu reagieren und zu warten, bis Gott am Ende der Zeit erklärt, warum das alles heilig, richtig und gut gehandelt war. Und mit dieser Verdrängung gedeiht das monströse Gottesbild, ist dann auch der Verdrängung und Verharmlosung des Missbrauchs, der heute geschieht, Tür und Tor geöffnet.
Missbrauch ist heute besser getarnt. Wie sehr das Leid der Menschen, die man mit der Bibel missbraucht hat, immer wieder neu getriggert und fortgesetzt wird, ist völlig uninteressant. Sowenig wie die Würdelosigkeit stört, wenn Gläubige ihre Heilsgewissheit von den fragwürdigen Beteuerungen einer religiösen Amtsperson abhängig machen. So wenig wie der bibeltreue Gläubige Mitgefühl mit den zu Zeiten des Mose sinnlos ermordeten Frauen und Kindern hat, so wenig Mitgefühl hat er mit den Menschen, die heute von Missbrauch betroffen sind. „Wenn ein Glied des Leibes leidet, so leiden die anderen mit„? (1Kor 12,26) Ein guter Witz, Paulus. Wenn man sich für andere einsetzt, dann muss es doch zumindest dem eigenen Image dienen. Was kann es dem Image nützen, wenn man anfängt, auf Missbrauch zu achten?
Mitgefühl hat es für mich bitter wenig gegeben. Man ist im allgemeinen so naiv, zu glauben, dass der Schaden durch die Loslösung von einer destruktiven Gedankenwelt behoben sei. Dabei ist die Gefühlswelt dauerhaft schwer beschädigt. Der Boden ist durch die Zerstörungskraft der geistigen Hölle verstrahlt: auf ihm wächst kaum noch etwas – und kaum etwas so wie Lebensfreude.
Was soll ich in einer Gemeinschaft, die keine Empathie für Menschen wie mich hat? Die lieber zum tausendsten Mal dieselbe fromme Schallplatte auflegt, als einmal Lehren aus gründlichster Bemühung um Heilsgewissheit zu ziehen? Wo Empathie fehlt, wird der Mangel gewöhnlich durch Sentimentalität aufgefüllt. Sentimentalität statt Empathie, Verdrängung statt Klarheit, Taktik statt Rechenschaft – das sind genug Gründe, sich in der frommen Gemeinschaft der Erwählten als Fremdkörper zu fühlen.