Wie können Seelsorger und Therapeuten Gläubigen helfen, die aus ihrer religiösen Depression nicht herausfinden?
Der destruktive Einfluss geht häufig von einer überfordernden Ethik aus. Schuldgefühle und Selbstvorwürfe werden immer weiter gesteigert durch Ängste vor der Feindschaft Gottes. Schließlich quälen Ängste vor der finalen Zerstörung des Glaubens.
Es ist nachvollziehbar, dass Therapeuten wenig helfen können, die dem Betroffenen versuchen, den Glauben auszureden. Dieser Versuch wird nur die Verlustängste verstärken.
Der Gläubige leidet, weil der Glaube, der ihm nun abhanden zu kommen droht, wesentlich zu seinem Leben gehört. Ihm kann nur neues Vertrauen helfen. Doch wie kann neues Vertrauen gebildet werden?
Es versteht sich eigentlich von selbst, dass für ein Umdenken in erster Linie die konstruktiven Ressourcen des Gläubigen ausgelotet und genutzt werden müssen. Ein brauchbarer Lösungsansatz wird immer eine solide Brücke zu den vorgegebenen zentralen Werten des Betroffenen herstellen.
Das ursprüngliche Vertrauen entstand durch die Hoffnung, dass die Glaubensurkunde (Bibel) eine transzendente Mitteilung ist, die zuverlässige Informationen über das Entstehen und das Bewahren einer Beziehung zu Gott enthält.
Deswegen fungiert eine Glaubensurkunde als Maßstab: was immer Menschen später im Namen Gottes behaupten, muss an ihr gemessen werden. Ob „richtig gemessen“ wurde, bleibt allerdings eine schwierige Frage, weil verschiedene Traditionen über die Rangfolge biblischer Aussagen nicht einer Meinung sind und deshalb sie deshalb unterschiedlich deuten können. Damit das neu Gesprochene oder Geschriebene Vertrauen verdient, muss es in einer gewissen harmonischen Beziehung zum traditionellen Verständnis des bisher Geschriebenen stehen.
Tradition und Rangfolge biblischer Aussagen sind diskutierbar und hinsichtlich ihres konstruktiven Potentials vergleichbar. Hier liegt der große Handlungsspielraum für die Seelsorge und für therapeutische Ansätze.
Befürchtungen lassen sich am effektivsten entkräften, wenn ein Interpretationsverfahren zur Verfügung steht, das sich wiederum überzeugend an biblische Autorität anbinden lässt und nicht von subjektiven, optimistischen, rein spekulativen Sichtweisen abhängig ist. Die Argumentation sollte immer für die Grenzen des bibeltreuen Denkrahmens sensibel bleiben (systemimmanente Argumentation), um Abstoßungsreaktionen zu vermeiden („Update“).. Sie orientiert sich am Grundgedanken der Validation von Naomi Feil: „Das Gefühl, das du nach außen trägst, ist wahr, ist gültig. Und ich erkenne es an.“ Ungeachtet dieser notwendigen Sensibilität muss ein effizientes Entgiftungsverfahren alle destruktiven Prozesse ohne Rücksicht auf traditionelle Vorgaben untersuchen und beschreiben und überzeugende (.d.h. auf hochrangige biblische Aussagen gestützte) Alternativen anbieten.
Der Vertrauensbildung dienen folgende religiöse Grundbedürfnisse, die berücksichtigt werden müssen:
1. Sicherung der Vertrauenswürdigkeit der Glaubensurkunde als exklusive Tür zur unsichtbaren Welt Gottes.
2. Bewusstsein einer persönlichen freundschaftlichen Beziehung zu Gott, die über den Tod hinaus ewig andauert.
3. Glaubwürdige Begründung dieser Beziehung, da die Glaubensurkunde (Bibel) die Menschheit in 2 Gruppen einteilt, die „Freunde“ und die „Feinde“ Gottes.
Nun kann gerade die Erkenntnis, in der Bibel eine zuverlässige Glaubensurkunde zu haben, bei Gläubigen intensive und chronische Ängste hervorrufen, wenn sie nämlich der Glaubensurkunde entnehmen, dass sie die Bedingungen für eine positive Verbindung mit Gott und für die Teilhabe an seinem Segen nicht erfüllen können.
Was nützt es da, wenn Therapeuten ersatzweise ihre subjektiven Sichtweisen anbieten, etwa die Beteuerung, dass es Himmel und Hölle gar nicht gäbe, dass beides nur „starke“ Bilder seien und nicht mehr oder dass es nach dem Tod nur den Himmel gäbe, in den Gott alle Menschen aufnehmen würde. Dies käme dem Anspruch gleich, der Therapeut könne in die Zukunft und in die unsichtbare Welt nach dem Tod hineinsehen und verbindlich Auskunft erteilen. Dass diese Fähigkeit mit einem Medizinstudium vermittelt wird, glaubt niemand.
Was diese Beteuerung tatsächlich anbietet als Lösung ist nichts anderes als die Aufforderung zur Verdrängung. So wie jeder weiß, dass er irgendwann einmal sterben wird und diese Tatsache verdrängt und folglich auch keine Todesangst empfindet, so wird hier dem Gläubigen angeboten, das Thema „Himmel und Hölle“ auf die lange Bank zu schieben.
Die Chance, das dieses gelingt, ist nicht sehr groß, denn das Bedürfnis, Freund Gottes zu sein und Teil an seinen Segnungen zu haben, bleibt bestehen. Die Befürchtung, den Zugang zu Gott verlieren oder gar bereits verloren zu haben, ist schon eine Art Vorhölle, ein Vorgeschmack auf die endgültige Trennung von allem, was gut, wahr und liebevoll ist.
Das theologische Denkmodell der Irrtumslosigkeitsdoktrin (Chicago-Erklärung), das in vielen sich „bibeltreu“ nennenden Gemeinschaften ausdrücklich oder stillschweigend die indiskutable Grundlage der dort angebotenen Seelsorge ist, erhebt den Anspruch, glaubensstärkend zu wirken, indem es „erklärt“, dass die Glaubensurkunde in jedem Detail „irrtumslos und unfehlbar“ wie Gott selbst sei, und dass es die Pflicht des Gläubigen sei, an der Irrtumslosigkeit biblischer Aussagen nicht zu zweifeln, selbst bei Aussagen, die ihm als mangelhaft erscheinen.
Wer genau hinsieht, der bemerkt, dass dieser Denkansatz nur das Grundbedürfnis Nr. 1 unterstützt. Die Erfüllung des Bedürfnisses Nr. 3 wird dagegen deutlich erschwert.
Wie leicht zu sehen ist, werden durch die Behauptung der ausnahmslosen Irrtumslosigkeit nicht nur glaubensstärkende Aussagen der Bibel bekräftigt, sondern auch glaubensstörende, die ein destruktives Gottesbild und destruktive Ethik vermitteln. Sie werden aufgewertet, da ihnen das Attribut der Irrtumslosigkeit, das inhaltlich „göttliche“ Qualität impliziert, gleichermaßen zugestanden werden muss. Umgekehrt werden die Heilszusagen der Bibel abgewertet, da sie in unauflöslichen Widerspruch zu Warnungen und Drohungen geraten. In der Praxis hat diese Widersprüchlichkeit zu absurden Heilsicherungskonzepten geführt.
Mit einem buchstabenhörigen Bibelverständnis wie der Chicago-Erklärung wird man Gläubigen, die durch Aussagen der Bibel verunsichert und geängstigt werden, kaum mehr als Behauptungen bieten können, zusammen mit der Empfehlung, diese ungeprüft zu übernehmen. Was bleibt Gläubigen anderes übrig, als sich an diese tröstlichen Behauptungen wie an einen Strohhalm zu klammern und sich einzureden, dass sie sich voll und ganz auf das Charisma und die Glaubenserfahrung anderer, die zu wissen meinen, verlassen können?
Für Gläubige, die ihren Glauben nicht von der theologischen Meinung anderer abhängig machen können und das – mit einigem Recht – als mit der Würde des Gläubigen unvereinbar empfinden, ist in diesem System nichts vorgesehen. Da auf destruktive Aussagen nur mit Verdrängung reagiert werden darf, kann es eine tiefere Untersuchung der Zusammenhänge nicht geben, obwohl sie mit wenig Aufwand durchführbar wäre. Im Gegenteil, Verdrängung wurde ja als moralische Tugend aufgewertet.
Die Folge ist, dass verzweifelte Gläubige jahrelang Hilfe in einer Seelsorge suchen, in denen ihnen nichts anderes angeboten wird, als ihre Zuversicht am Selbstbewusstsein des Seelsorgers und an seinen kurzschlüssigen, nicht zu Ende gedachten Behauptungen und Phrasen festzumachen. (Ein typisches Beispiel für diese Art „Seelsorge“). Auf die Idee, sich einmal zu fragen, warum die Seelsorge nicht geholfen hat, kommt offenbar kaum jemand.
Die Vertreter eines buchstabenhörigen Bibelverständnisses haben ihr Versprechen, der Glaubenssicherung zu dienen, nicht einlösen können. Sie haben dafür gesorgt, dass Unehrlichkeit und Manipulation in vielen christlichen Gemeinden gar nicht mehr als störend empfunden wird. Sie haben ihre Methode der Verdrängung zur allgemeinen Pflicht des Gläubigen erklärt und den Zweifel daran zur Sünde und damit die christlichen Gemeinden tief gespalten. „Wer diese Lehre nicht bringt, den grüßt nicht“ (2.Joh 2,10) Damit haben sie die Möglichkeit nach Kräften erschwert, die in vielen Gemeinden übliche Seelsorge einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
So ergibt sich die Frage: wie sieht eine Sicherung der Vertrauenswürdigkeit der Glaubensurkunde aus, die mit dem Charakter Jesu Christi, mit seinen Absichten und Grundsätzen vereinbar wäre?
Auffällig ist, dass die Warnung der Heiligen Schrift, dass „der Buchstabe tötet“ (2.Kor 3,16), ungeachtet der Absicht, Leben zu geben (Mt 4,4), in der Chicago-Erklärung nicht angemessen berücksichtigt wird. Wenn wir nach „Wahrheit“ suchen, so reicht der Sinn des Buchstabens offenbar nicht aus. „Wahrheit“ ist einer Art „Zwei-Komponenten-Wirkstoff“ vergleichbar. Die zweite Komponente ist der „Geist, der lebendig macht„. (2.Ko 3,16).
Dem Geist Gottes ist wichtig, was Christus wichtig ist. Was Jesus besonders wichtig war, hat er uns mitgeteilt: „Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit.“ (Mt 23,23 / Joh 1,47) Jede Deutung des Buchstabens muss sich daher im Einklang mit diesen Maßstäben befinden. (Prioritätenorientiertes Bibelverständnis) Während die Chicago-Erklärung Ausnahmen duldet (und damit die Qualitätsmaßstäbe Jesu relativiert), sind Ausnahmen im verbesserten prioritätenorientierten Denkansatz (Update) nicht mehr erlaubt: „Dies ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben: Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis.“ (1.Jo 1,5)
Erst durch diesen Ansatz lockert sich der eiserne Griff des „Buchstabens“ um das Gewissen. Er ist nicht mehr allein bestimmend, sondern wird einer höherrangigen Autorität untergeordnet, unter deren Schutz Freiraum für ehrliche Bewertung nach bestem Wissen und Gewissen geschaffen wird..
Dadurch ist dem Gläubigen endlich möglich, sich von destruktiven biblischen Aussagen im Auftrag Jesu unmissverständlich und ausdrücklich zu distanzieren. (vgl. (Mt 19,8 / Luk 9,55 / Joh 8,1 ff) – während er sich unter der Chicago-Erklärung nur mit Verdrängung behelfen kann.
Dabei sollte das Denken – wie bei Jesus – immer an die Grundsätze geistlicher Disziplin gebunden bleiben, da andernfalls dem vernünftigen Urteil hier ein Handlungsspielraum eingeräumt würde, der zum Schaden des Glaubens missbraucht werden kann. Auf diese Weise wird auch sorgfältig Distanz zu einer eigenmächtigen Entwertung biblischer Texte gehalten, eine Entwertung, die Jesus nie akzeptiert hätte, die aber in der materialistischen Theologie üblich ist. Diese Entwertung würde nicht nur die Angst vor den Drohungen, sondern auch das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Zusagen Gottes allmählich auflösen (Nichterfüllung des Grundbedürfnisses Nr 1) – wodurch der Gläubige „auf der anderen Seite vom Pferd herunterfallen würde“ und nichts für seine Glaubensfreude und Glaubenshoffnung gewonnen wäre.
Auch hier ist wieder die systemimmanente Argumentation, die Aussagen der Glaubensurkunde nicht negiert, sondern in eine überzeugende nachvollziehbare Rangfolge zu bringen versucht, die Methode, die den Gläubigen am wenigsten überfordert und seine Ressourcen zur Problemlösung nutzt.
Jeder Seelsorger, der ihm hierbei wirklich helfen möchte, wird auf der Basis der Glaubensurkunde nachvollziehbar argumentieren und bewerten müssen.