Nicht selten wird behauptet, die schrecklichen Worte des Hebräerbriefes, die vor Unglauben und Verstockung (3, 13 – 4,1), Abfall (6, 4 – 8), mutwilliger Sünde (10, 26 – 31) und dem unwiderruflichen Verlust des Erstgeburtsrechts (12, 15 – 21) warnen, wären nur an Judenchristen gerichtet, die in Gefahr wären, sich wieder vom Opfer Jesu zu distanzieren und zum alttestamentlichen Opferkult zurückzukehren. Durch diese Behauptung versuchen manche, die deprimierenden Worte des Hebräerbriefes für Gläubige heute zu entschärfen.
Hier stellt sich die Frage: inwiefern schließt die Tatsache, dass der Brief an die Hebräer gerichtet war, die Möglichkeit zuverlässig aus, dass die Drohungen im Hebräerbrief auch anderen Gläubigen gelten? Jesus sagte von sich: „ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Volkes Israel“ (Mt 15,24). Obwohl fast alle seine Reden zu Juden gesprochen wurden, gibt es wohl kaum einen gläubigen Christen, der Jesu Mahnungen, Verheißungen und Warnungen in den Evangelien nicht auch als für sich gültig anerkennt. Ja, Jesu Wort „Ehe Himmel und Erde vergehen, wird nicht der kleinste Buchstabe, ja Tüttel im Gesetz vergehen, bis das alles geschehe.“ (Mt 5,18) – ein Wort, dass sich nun eindeutig auf das mosaische Gesetz bezieht – wird von sehr vielen bibeltreuen Gläubigen als Hinweis auf die wortwörtliche Inspiration und Unkorrigierbarkeit auch der Briefe des Paulus betrachtet, die an Heidenchristen gerichtet sind. Weiter sind Geschichten im Alten Testament überliefert „um der Gemeinde willen“. Paulus begründet seine Ermahnung, für das Wohl der Gemeindelehrer zu sorgen, sehr weitläufig und großzügig mit einem alttestamentlichen Gebot. „Denn im Gesetz Mose’s steht geschrieben: „Du sollst dem Ochsen nicht das Maul verbinden, der da drischt.“ Sorgt Gott für die Ochsen? Oder sagt er’s nicht allerdinge um unsertwillen? Denn es ist ja um unsertwillen geschrieben.“ (2.Kor 9,10) Hätte Paulus es nicht gesagt – wie viele Christen wären darauf gekommen, dass die Sorge für die Ochsen im AT ein Hinweis auf die Sorge für alle (!) , d.h. auch für die heidenchristlichen Prediger ist? Im folgenden Kapitel erzählt er vom Zug der Israeliten durch das rote Meer und durch die Wüste und wendet die Geschichte – obwohl sie eindeutig nur Juden des alten Bundes in ihrer einmaligen geschichtlichen Situation betrifft – auf die Gläubigen in Korinth an. Gleichermaßen berichtet der Hebräerbrief vom Murren der Juden damals und ihrer Weigerung, das gelobte Land zu erobern. (Hebr 4,1-3) Wie will man zuverlässig ausschließen, dass nicht auch diese Geschichte eine Lehre und Warnung für Heidenchristen sein soll? Wo ist der Beweis? Erst wollten sie nicht kämpfen, dann durften sie nicht mehr, obwohl sie nun bereit waren, ihr Leben in der Schlacht einzusetzen. Ihre Reue, ihr verspätetes Vertrauen und ihre Opferbereitschaft nützte ihnen nichts mehr. Eine erschütternde, zutiefst erschreckende Aussage! Eine Parallele zu der nutzlosen Reue bildet die Geschichte von Esau, der sein Erstgeburtsrecht verkauft hatte und später daran nichts mehr ändern konnte. (Hebr 12,16-17) Heute stehen Gläubige nicht mehr vor der Aufgabe, an einer militärischen Invasion teilzunehmen. Sie schließen auch keinen Kuhhandel mehr mit einem Linsengericht ab. Die beiden uralten Geschichten verweisen auf Aktionen, die heute ganz anders aussehen, aber mit der Einstellung der Leute damals bestimmte fatale Gemeinsamkeiten haben. Eben weil man nichts Genaues weiß, eine Aktion mit einer Gemeinsamkeit aber unwiderruflich mit der Verdammnis endet, ist die bedrohliche Wirkung so groß. Die Definition der unvergebbaren Lästerungssünde als „Rückfall in alttestamentarische Opferrituale“ ist nicht zweifelsfrei beweisbar und überzeugt erfahrungsgemäß nicht alle Gläubigen. Ein wesentlicher Unterschied in der Heilsgewissheit bei Judenchristen und Heidenchristen ist unvereinbar mit Eph 2,14-18, wo es heißt, dass beide Glieder eines Leibes sind und gleiche Bürgerrechte im Reich Gottes haben. Wie Fritz Laubach in der Wuppertaler Studienbibel feststellt, gibt es in den frühchrlstlichen Quellen nicht einen einzigen Hinweis dafür, dass Judenchristen vom christlichen Glauben abgefallen und zun Opferkult zurückgekehrt sind. (1983, S.22) Das ist auch gar nicht das Thema des Hebräerbriefes, sondern die Herrlichkeit des ewigen Hohenpriesters Jesus. Hebr 2,3 erwähnt den Autor und Hörer als drittes Glied in der Überlieferungskette. Auch weist Hebr 13,7 daraufhin, dass ein erheblicher Teil der Vorsteher der Gemeinden schon gestorben ist. Deshalb vermuten manche Theologen, dass der Hebräerbrief nach der Zerstörung des jüdischen Tempels im Jahr 70 n.Chr. zu datieren ist, mit der der jüdische Opferkult seine Bedeutung gänzlich verlor.
Luther jedenfalls hat die Problematik zutreffend erfasst. Es bereitet keine Schwierigkeit, in unversöhnlicher Feindschaft zu Christus einen unumkehrbaren Zustand zu sehen. Doch in der Frage, wo die unvergebbare Lästerungsünde nun tatsächlich beginnt, wo die Grenze zur Unvergebbarkeit überschritten wird, sind bibelgläubige Theologen unterschiedlicher Ansicht. Die Bibel liefert zu diesem Thema nur ganz wenige Informationen. Die Sünde der Pharisäer in Mt 12,36 hatte nichts mit Opferritualen zu tun. In Luk. 12,10 ist der Kontext der unvergebbaren Sünde das Verleugnen vor Gericht, was an die Situation denken lässt, dass Christen ihren Glauben aufgeben könnten, um gerichtlicher Verfolgung zu entgehen. Hebr 10,27 bringt die unvergebbare Lästerung in die Nähe der „mutwilligen Sünde“, ein Begriff, der ebenfalls sehr unklar ist und zu unterschiedlichsten Sichtweisen geführt hat. Manche Prediger vertreten ja sogar die Auffassung, dass ein Gläubiger mit lange andauerndem Verzicht auf Gottesdienst oder Missionstätigkeit oder mit wiederholter Masturbation in die Nähe der mutwilligen Sünde geraten könne, dass er damit sein Heil quasi für ein Linsengericht der Lust eintauschen würde. Diese Unklarheiten lassen manchen Gläubigen heute ängstlich in die Vergangenheit blicken. Haben die damaligen Hörer des Briefes ähnlich ängstlich reagiert?
Immerhin fordert der Hebräerbrief die Gläubigen auf, nicht ängstlich (Hebr 10,35-39) sondern „zuversichtlich zu sein, dass sie Gnade empfangen werden“ und begründet es damit, dass „Jesus ein Hohepriester sei, der mit unserer Schwachheit Mitleid habe“ (Hebr 4,15-16) Der Hebräerbrief sagt allerdings wenig darüber, wie diese Gnade praktisch aussieht. Um das zu erkennen, müssen wir in die Evangelien sehen. Dort erfahren wir z.B., dass Petrus, der in Todesangst schwur, Jesus nicht zu kennen, vergeben wurde und dass ihm darüber hinaus eine große Aufgabe in der Urgemeinde anvertraut wurde. (Joh 21,17 / Apg 2). Die Gnade Jesu ist größer als das Gesetz (Joh 1,17) Nur unter dieser Voraussetzung hat der neue Bund überhaupt größere Autorität als der alte bekommen. Diesen Vorrang betont der Hebräerbrief auch.
Deshalb ist eins gewiss: es wäre ein „Eigentor“, es wäre sinnlos destruktiv, wenn wir die Drohungen des Hebräerbriefes so interpretieren, dass ein schlimmeres Gesetz als das mosaische aufgerichtet wird und die Einladung Jesu „kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid…“ (Mt 11,28) unglaubwürdig erscheint. … Der Neue Bund sollte die erlösen, „die ihr ganzes Leben lang durch die Furcht des Todes Knechte sein mussten.“ (Hebr 2,15). Auch zu Beginn des Lukasevangeiums wird Jesus als der gepriesen, der erlöst, „damit wir ihm dienen ohne Furcht unser Leben lang.“ (Lk 1,74) Der Neue Bund beinhaltet nachhaltige und gründliche Erlösung, die Priorität von Erbarmen und Liebe und hat nur deshalb den alten Bund abgelöst.
Wir dürfen deshalb gewiss sein, dass die Drohungen des Hebräerbriefs – ungeachtet ihrer Wortsinns mit weitaus geringerem Rang eingeordnet werden müssen als die Einladung zum Heil und zum Vertrauen, die der Hebräerbrief ausspricht. Jeder Leser oder Hörer wird aufgefordert, sich „heute“ für den guten Weg zu entscheiden (Hebr 3,7), was keinen Sinn machen würde, wenn es weiter unklar bliebe, ob sein Heil nicht bereits „gestern“ irgendwo und irgendwie endgültig verloren gegangen wäre. Im Gegenteil: Alle gutwilligen Leser sind von der Möglichkeit der Verstockung ausdrücklich ausgenommen: „im Blick auf euch, ihre Lieben, sind wir eines besseren Schicksals gewiss, nämlich dass ihr dem Heil nahe seid“ (Hebr 6, 9). Der Verfasser des Hebräerbriefes ist „sich dessen gewiss„, dass er all den Lesern und Hörern hier und dort in der Diaspora, die er doch gar nicht persönlich kennt, „heute“ (Hebr 3,7) das Heil verkünden darf.
Welche Funktion können wir den Drohungen sinnvollerweise zuordnen? Sie machen nur Sinn, wenn sie nicht im finalen Lehrsatz-Stil geschrieben sind, der der Einladung zum Glauben zukommt. Die Gemeinde steht vor der Verfolgung und hier besteht die Gefahr, dass Gläubige ihren Glauben aufgeben und auf die Seite der Gottesfeinde überwechseln. Wir dürfen die Drohungen des Hebräerbriefes als „worst case“-Szenario betrachten. (Perspektiv-Stil). Sie sind auf keine genau definierten Verhaltensweisen bezogen, sondern warnen vor der Möglichkeit, dass das Herz des Gläubigen durch fortgesetzte und reuelose Missachtung der heilsamen Ordnungen Gottes eines Tages vollständig und unumkehrbar verhärten kann. Diese schlichte Tatsache ist der schmale Berührungspunkt mit den alttestamentlichen Geschichten, die vom Hebräerbrief als Gleichnisse gebraucht werden.
Wenn wir an der überragenden Bedeutung der Gnade festhalten wollen, die Grund der Überlegenheit des neuen Bundes gegenüber dem alten war, dann macht es Sinn, die Unmöglichkeit der Umkehr und Erneuerung und das „schreckliche Warten auf das Gericht“ auf die Zeit nach dem Tode zu beziehen, so wie der reiche Mann, vor dessen Schwelle Lazarus lag, nach dem Tod in einer Art „Vorhölle“ aufwachte, in der er nutzlose Reue empfand. (Luk 16,19 ff.) Wie sonst könnte der Hebräerbrief zum entschiedenen Vertrauen auffordern und alles „Zögern und Zurückweichen“ verurteilen? (Hebr 10,39)
Je schwieriger die Argumentation wird, desto größer die Unsicherheit, desto verständlicher der Wunsch, den „gordischen Knoten“ mit einer einfachen Erklärung zu zerhauen. Gläubige können trotz dieser ungelösten Frage Frieden finden und optimistisch sein, wenn sie eine durchgehend positive und menschenfreundliche Gottesvorstellung entwickeln konnten. Die „Erklärung“ reicht zwar nicht aus als Beweis, aber ist kann zumindest ein Verweis sein auf einen uneingeschränkt gütigen Gott, von dem man sich bereits erwählt weiß. Optimismus ist jedoch nicht jedem Gläubigen möglich. Auch Luther konnte nicht optimisisch sein. Eine brutale Erziehung, schwere Schicksalsschläge, eine von Drohungen und Ängsten bestimmte religiöse Sozialisation erzeugen jede Menge Unsicherheit. Sie wird weiter vergrößert durch bestimmte biblische Problemstellen, die die Vorstellung eines Gottes mit einem zweideutigen Charakter und unvorhersagbarer Handlungsweise entstehen lassen, und deshalb schwer ins Gewicht fallen. Hätte die „Erklärung“, der Hebräerbrief sei nur an Judenchristen gerichtet, für Luther ausgereicht? Ich kann es mir nicht vorstellen. Er und mit ihm etliche alte Kirchenväter haben deshalb einen anderen Lösungsweg gesucht