Jesus erzählte in einem Gleichnis von einem Menschen, der schwerverletzt auf dem Weg lag. Drei Leute kamen vorüber. Zuerst zwei gläubige Leute, die wichtige Funktionen im Gotteshaus wahrnahmen. Diese ließen ihn liegen. Gottlob kam aber noch ein Außenseiter mit verkehrtem Glaubensbekenntnis, der Erbarmen mit dem Verletzten hatte und ihm half. (Luk 10,30 ff)
Das Gleichnis lässt uns automatisch nach den Motiven der gleichgültig bleibenden Gläubigen fragen. War es Angst, dass die Täter noch in der Nähe waren? Oder hatten sie es eilig zum Gottesdienst zu kommen, wo die Bedürfnisse vieler Menschen befriedigt werden mussten, Bedürfnisse, die als dringender betrachtet wurden als die Not eines einzelnen Menschen?
Verletzten und dauerhaft geschädigten Menschen zu helfen, ist auch das Anliegen unseres Arbeitskreises. Doch sind wir mit unserem Ziel, dass Nervenärzte und Psychiater von theologischen Fachleuten und Instiutionen (!!!) auf eine überzeugende Lösung der Not mit dem Gesetz, mit dem “tötenden Buchstaben” hingewiesen werden, trotz jahrelanger Bemühung kaum einen Schritt näher gekommen. Ärzte, die theologische Fragen gerne an theologische Fachleute delegieren, werden Privatleute ohne Titel kaum ernst nehmen. Das ist die Tragik.
Dabei liegt dieser Lösungsweg seit Jahren vor. Da er sich offen der Kritik stellt, denke ich, er hat weitaus größere Überzeugungskraft als die üblichen Scheinlösungen, die nicht zu Ende gedacht sind, die Denkverbote benötigen und depressive Christen manchmal lebenslang in der schizophrenen Gleichzeitigkeit von Gnade und Gesetzlichkeit hängen lassen.
Fragen wir nach den Gründen für die Gleichgültigkeit, so begegnen uns wieder dasselbe Motiv: Angst vor der Reaktion der anderen.
Erinnern wir uns: am Anfang stand die Not, Pfarrer für die Gemeinde zu bekommen, deren Glaube nicht durch die an theologischen Hochschulen üblicherweise gelehrte zersetzende Bibelkritik zermürbt worden war. Man war froh, dass bibeltreue Hochschulen eingerichtet wurden, die sich für einen positiven glaubensfördernden Umgang mit der Bibel stark machten.
In dem Bemühen um Glaubenssicherung aber tat man des Guten zuviel. Man stellte die Irrtumslosigkeitsdoktrin auf eine Stufe mit den Heilstatsachen der Schrift. Damit können ihre Vertreter jeden Versuch, qualitative Mängel dieser Idee nachzubessern, als Angriff auf Gott selbst zurückweisen. Welche Monopolstellung! Wer auf die Nebenwirkungen der Chicago-Erklärung hinweist, wird als „gottlos“ diffamiert, als Zerstörer der Grundlagen des Glaubens – selbst wenn er an den fundamentalen Heilstatsachen festhält und materialistische Bibelkritik zurückweist.
Ein „Gottloser“ wird in der Gemeinde nicht mehr gegrüßt. Er ist ein Niemand, dem niemand mehr zuhört. Die Bibel macht es angeblich sogar zur Pflicht!
Auf dieser Erfolgswelle schwimmen viele mit. So passt einer auf den anderen auf. In Zukunft wird jeder einen großen Bogen um den Störenfried machen… Die Angst vor den anderen ist der wirkliche Grund für die Durchsetzungskraft rigoristischer Glaubensauffassungen – nicht etwa gute Argumente oder Überzeugungskraft. Erzeugt nicht auch die Glaubensgemeinschaft der „Zeugen Jehovas“ ihren Zusammenhalt auf ähnlich fragwürdige Weise?
So reißt man tiefe Gräben in die christliche Gemeinschaft, die nicht mehr durch Argumente überbrückt werden können – obwohl die Bibel ausdrücklich dem Gläubigen das Recht zugesteht, nach seinem Gewissen zu urteilen. (Rö 14, 23) Die Fähigkeit, sich ehrlich der Korrektur zu stellen, geht immer mehr verloren.
Wie wahrscheinlich ist es dann, dass gute Argumente noch angehört werden?
Wieviel bibeltreue Theologen kennen Sie, die die Gläubigen über manipulative Tricks in religiösen Gruppen aufklären?
Wieviel bibeltreue Theologen kennen Sie, die das Recht der Gläubigen respektieren, über Nöte mit der hauseigenen Theologie informiert zu werden?
Wieviel bibeltreue Theologen kennen Sie, die bereit sind, ehrlich Schwachstellen und Risiken der Gemeindetheologie, insbesondere der Chicago-Erklärung anzusprechen und Alternativen vorzustellen?
Wieviel bibeltreue Theologen kennen Sie, die ehrlich zugeben und lehren, dass ein „Schriftverständnis“ kein Dogma sein darf, sondern nur ein Denkmodell mit Stärken und Schwächen ist?
Wieviel bibeltreue Theologen kennen Sie, die das Recht auf Wiedergutmachung für chronische psychische Schäden durch destruktive Theologie unterstützen?
Man trifft sie nur selten an – nicht wahr?
Bereits zur Zeit Jesu meinten die Vertreter der von Gott einst authorisierten mosaischen Religion, über den Glauben ihrer Mitmenschen herrschen und sie bevormunden zu müssen. Immer wieder heißt es bei Johannes: „niemand sagte etwas, aus Furcht vor den Juden (=den jüdischen Religionsführern).“ (Joh 7,13 / 9,22 / 19,38 / 20,19) Wäre nicht der Tempel durch die Römer zerstört worden, so hätte das jüdische Religionssystem seine beherrschende Stellung sicherlich erfolgreich verteidigt – zumal es sich auf eine verschriftlichte Tradition berufen konnte.
Es geschieht nicht oft, dass man auf einen „Nikodemus“ trifft (Joh 3), der im stillen Kämmerlein betreten zugibt: „privat denke ich eigentlich ganz anders, aber ich habe eben … Angst vor den anderen.“
Soll das das letzte Wort sein in einem Beruf, in dem man den zuverlässigen Tatsachen der unsichtbaren Welt auf die Spur kommen möchte? Soll das das letzte Wort in diesem Beruf sein, dass man Manipulation und Täuschungsmanöver toleriert, um bloß – um Gottes willen – keinen Dissens oder gar Konflikt mit einflussreichen bibeltreuen Kollegen oder Institutionen zu riskieren?
Eigentlich sollte ein Theologe doch wissen, dass er mit dieser Haltung im Konflikt mit dem Geist Jesu steht: „weh euch – wenn euch jedermann wohlredet.“ (Luk 6:26). „Predige ich denn, um Gott zu dienen oder den Menschen? Oder gedenke ich, damit Menschen einen Gefallen zu machen? Wenn ich tatsächlich Menschen gefällig sein wollte, wäre ich Christi Diener nicht mehr!„ (Gal 1,10)
Nicht mehr Christi Diener! Das heißt: Lehrer ohne Autorität!
Ist das nicht deutlich genug?
Was können wir tun?
Ein erster Schrift in die richtige Richtung wäre, Gläubige über den Vorrang und die praktische Bedeutung der Qualitätsstandards Jesu (Mt 23,23) zu informieren und die üblichen manipulativen Tricks zu ächten, die mit diesen Standards unvereinbar sind.
Wenn doch alle wenigstens diesen einen Schritt gehen könnten…
Wenn doch das strenge Wort Jesu beachtet werden würde: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan?“ (Mt 25, 45)
Man darf Christen, die dank dilettantischer Theologie seelisch krank und lebensuntüchtig werden, durchaus als die „Geringsten“ unter den Gläubigen betrachten. Soll das wirklich das letzte Wort der Gemeinde sein, dass die Not dieser Menschen ganz und gar „ihr Privatproblem“ ist?