Wenn wir unerträglichen, störenden Aussagen in der Bibel begegnen, so lohnt es sich doch zu untersuchen, ob sie nicht doch sinnvoll eingeordnet werden können.
Als unerträglich werden wahrgenommen:
Anweisungen, die so schwer zu praktizieren sind, dass sich so gut wie alle Gläubigen anders verhalten. Beispiel: das Verbot, sein Recht vor einem weltlichen Gericht zu suchen.
Anweisungen, die als unfair und destruktiv empfunden werden, wie die Zurückstellung der Frau unter den Mann.
Aussagen über Gott, die gegen die Grundsätze der Gerechtigkeit verstoßen. (siehe „no-comment“ – Texte)
Warum hat Paulus die schiedsgerichtliche Entscheidung in der Gemeinde zur allgemeinen Pflicht (1.Kor 6,1 ff) gemacht? Andererseits weiß er sehr wohl, dass Gott in erster Linie einfache und ungebildete und wenig kluge Menschen erwählt. „Denkt einmal an das, was ihr vor eurer Berufung wart, liebe Geschwister! Da gab es nicht viele, die nach menschlichen Maßstäben weise, einflussreich oder prominent gewesen wären, sondern Gott hat das ausgewählt, was nach dem Maßstab der Welt einfältig und schwach ist “ (1.Kor 1,26-28 / NeÜ) Es mag ja der Fall gewesen sein, dass in Korinth ausnahmsweise geeignete Leute zu finden waren. Doch Paulus kannte ja auch unzählige andere Gemeinden, sodass er sicherlich gewusst hat, dass viele Gemeinden mit dieser Aufgabe überfordert waren.
Aus diesem Grund ist das, was uns hier als ausnahmsloses Gebot vor Augen gestellt wird, vielleicht gar nicht als Gebot gemeint, sondern vielmehr ein Paulus hat er den unwürdigen Gerichtsstreit der korinthischen Christen vor Augen und dieser ist ihm so peinlich, dass er mit einem scharfen, aber unpraktikablen Gebot gegensteuern muss. Er sieht vor ein Bild sich, wie es hätte idealerweise sein müssen und in ferner Zukunft vielleicht auch sein kann und ruft auf, sich seine Sicht zu eigen zu machen. Ein Wechsel der Perspektive – nicht mehr! Die Frage ist, ob das typisch Paulus war, oder ob diese Art zu formulieren ein zu damaliger Zeit übliches Stilmittel („Perspektivstil„) war.
Dies könnte eine plausible Erklärung sein, warum dieses erwiesenermaßen praxisferne Gebot von Paulus so streng formuliert wurde.
Die übertriebene Formulierungsweise des Paulus ist kein Einzelfall. „Wie in allen Gemeinden der Heiligen sollen die Frauen schweigen in den Gemeindeversammlungen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so sollen sie daheim ihre Männer fragen. Es steht einer Frau schlecht an, in der Gemeindeversammlung zu reden. Oder ist das Wort Gottes von euch ausgegangen? Oder ist’s allein zu euch gekommen? Wenn einer meint, er sei ein Prophet oder vom Geist erfüllt, der erkenne, dass es des Herrn Gebot ist, was ich euch schreibe. Wer aber das nicht erkennt, wird nicht erkannt.“ (1.Kor 14,35 ff ) Auch hier stehen dem Apostel wohl unwürdige, peinliche Ereignisse vor Augen, wieder wird mit einem Gebot gegengesteuert, dass die Christenheit schon seit längerer Zeit als irrelevant ignoriert. Selbstverständlich müssen Frauen in den Gemeindeversammlungen nicht schweigen, sie können ihre Ansicht kundtun wie jeder andere auch und sie dürfen in der Gemeinde lernen und auch unweise Männer zurechtweisen und sind auch nicht dazu verdonnert, zu Hause ihren Mann zu fragen. Zumal dieser Mann nicht unbedingt Bescheid wissen muss, denn jeder weiß, dass es auch Frauen gibt, die viel klüger sind als ihre Männer. Worauf bezieht sich aber dann „Gebot des Herrn“? Ich denke, man übersetzt hier besser: „… der erkennt, dass meine Anordnungen im Sinne des göttlichen Gebotes ist, „Frieden zu halten, einander mit Ehrerbietung zuvorkommen, ein Ohr für die Anliegen des Nächsten zu haben.“ Denn wo stellt Jesus in den Evangelien Gebote auf, die Frauen benachteiligen und hinter Männer zurückstellen?
Warum Paulus so schroff formuliert – wer weiß es? Ein cholerisches Temperament mag er gehabt haben. Sicher auch die Zuversicht, dass jemand mit dem Herz auf dem rechten Fleck schon das Richtige herausliest. Und wir tun gut daran, einerseits den barmherzigen Kern in der Aussage herauszuarbeiten und andererseits das, was nach unserer Einsicht zu einer destruktiven Deutung führt und deshalb aussortiert werden sollte.
Das dies sinnvoll ist, lässt sich auch an der sogenannten Prädestinationslehre zeigen, die von Theologen zu einem wahren Horrorszenario ausgestaltet wurde. Gott wäre souverän genug, um Menschen von vornherein für die Hölle auszuwählen. Der kleinen Satz, der den Abschnitt abschließt, wurde dabei übersehen: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ (Röm 11,32) Das ist der Punkt, auf den alles hinzielt.
Ein weiterer Grund für eine übertriebene Härte mag darin liegen, dass die ersten Christen damals ständig mit Verfolgung rechnen mussten, und dass Angst um die Existenz das tägliche Brot war. Selbst Paulus, den die Apostelgeschichte als unerschrockenen Glaubensheld schildert, der durch nichts und niemand von seinem Auftrag abzuhalten war, und der auch noch im Gefängnis seinen Mitchristen schrieb, sie sollten sich allezeit freuen (Phil 4,4), berichtet dennoch in den Briefen gelegentlich über große Ängste, die er auszustehen hatte. „Denn wir wollen euch, Brüder und Schwestern, nicht verschweigen die Bedrängnis, die uns in der Provinz Asia widerfahren ist, da wir über die Maßen beschwert waren und über unsere Kraft, sodass wir auch am Leben verzagten…“ (2.Kor 1,8) Zudem war das Leben eines jeden durch Krankheit, Armut oder Gewalt viel mehr bedroht als heute. Vielleicht mussten die Warnungen des Neuen Testamentes manchmal so scharf und undiffenziert sein, um in der allgemeinen Bedrängnis überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Dennoch gibt es eine Reflexion über unangemessene Wirkungen des biblischen Gesetzes: „der Buchstabe tötet“ (2.Kor 3,16), wenngleich sie auch nicht allzu ausführlich ausfällt. (Mehr dazu unter der Überschrift „Giftige Theologie„)
Dazu kommt noch etwas weniger Erfreuliches, was wir aus dem sogenannten Kanon Muratori erfahren haben, der etwa aus dem Jahr 145 nach Chr. stammt. Dort erfahren wir, dass zu damaliger Zeit die Mehrzahl der Gläubigen davon überzeugt war, dass die Offenbarung des Petrus vom heiligen Geist inspiriert war und zur Heiligen Schrift gehörte. Später wurde die angebliche fälschlicherweise Petrus zugeschriebene „Offenbarung“ dann doch aus dem Neuen Testament entfernt. Dieses Schriftstück ist eine wahre Horror-Story und beschreibt in seinem Mittelteil in einer kindischen, aber dafür ausführlichen Weise die sadistischen Quälereien, die den Menschen in der Hölle für bestimmte Sünden drohten. Die Neigung von Gläubigen, dieses abstoßende Schriftstück für inspiriert zu halten, kann ich mir nur als verständlichen Wunsch nach Vergeltung für das durch eine gottlose Umwelt erlittene Leid erklären. Verstärkt wird dieser Wunsch noch durch die alttestamentlichen Gewaltphantasien, die ebenfalls aus erlittener Traumatisierung zu erklären sind. Jesus hat versucht, seine Jünger davon abzubringen. „Als aber das die Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre. Er aber wandte sich um und wies sie scharf zurecht.“ (Luk 9,53). Wieweit ihm das gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt. Aggressivität und sadistische Rachewünsche mögen als Antwort auf erlittenes Leid etliche Texte der Bibel geprägt haben. (Ps 58,11 / Ps 109, 9-10 / Ps 137,9 / Apg 1,18)
Die etablierte bibeltreue Schriftgelehrten-Elite hat Mühe, die häufige Überzeichnung von Aussagen in der Bibel zum Zwecke der Betonung, folglich auch die genannten Gründe anzuerkennen. Denn die Möglichkeit der Überzeichnung gewährt dem Leser die Freiheit, sich nicht durch den Buchstaben versklaven zu lassen, sondern eine vom Wortlaut unabhängige Entscheidung zu fällen, die sich allerdings an den Maßstäben Jesu „Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit“ (Mt 23,23) orientiert. Die fromme Elite fällt zwar auch unabhängige Entscheidungen gegen den Wortlaut (zum Beispiel in der Titelfrage), weil sie aber außerdem Einfluss und Vorrangstellung sichern und zu diesem Zweck über die Gewissen herrschen möchte, kultiviert sie den Wahn, dass die biblischen Aussagen eine schlüssiges, widerspruchsfreies System ergeben. (Systemwahn) Ein halbwegs zusammenhängendes System entsteht jedoch nur dann, wenn man nach eigenem Ermessen Bibelworte ignoriert, die stören könnten. Und wenn man anderen vorschreibt, dass sie blindgläubig ebenfalls dasselbe tun müssen.
Bibelworte, die die Heilsgewissheit empfindlich stören, werden solche Theologen immer verharmlosen. Es gibt deshalb eine große Zahl von Christen, die über ihr Heil zeitlebens unsicher bleiben und sich auch nicht beschweren, weil man ihnen weiß gemacht hat, dass die Ursache dafür nur in ungenügender Hingabe zu suchen ist. Im Netz findet man haufenweise „gutgemeinte Erklärungen“ zur Heilsgewissheit, die nicht zu Ende gedacht sind und an dem Problem kranken, dass die Schwächen der eigenen Sicht nicht offen diskutiert werden dürfen. Deshalb sind sie auch so schwach in der Wirkung. Nicht so bei uns. Wir veröffentlichen alle abweichenden Meinungen.