Das Einüben von Verlustangst

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Eine liebe Bekannte von mir pflegte entsetzt zu kreischen, wenn unversehens eine Motte im Zimmer umherflatterte. Auch ihr Sohn reagierte ähnlich. Als ich ihnen mitteilte, dass diese Motte nur ein armer Schmetterling sei, dem das Geld gefehlt hätte, sich bunte Flügel anzuschaffen, war die Angst schlagartig verschwunden. Ja, man konnte anschließend sogar über diese – objektiv gesehen – lächerliche Reaktion lachen.

Warum nur reagieren manche Christen mit offenkundiger Panik auf die Aufforderung, sich eine problematische Bibelstelle anzusehen ? Als ob der ganze Glaube mit dem Auffinden eines Fehlers buchstäblich in Nichts zusammenfallen würde und nur gerettet werden könne, indem man wie die drei Affen reagiert: sich blind, taub und stumm und künstlich dumm zu stellen.

Wozu die Panik? Bleibt nicht Gott immer derselbe? Wenn er zuverlässig ist, dann bleibt er es auch in Ewigkeit und daran ändert sich nichts, auch wenn Menschen sich ein von den Erwartungen des Mainstreams unabhängiges Urteil über  einzelne Bibelstellen gebildet haben. Somit ist die Panik kein Ausdruck des Vertrauens, sondern im Gegenteil das Resultat von Glaubenslosigkeit oder Misstrauen.

Was schreckhafte Gläubige begreifen sollten: bei dieser Panik handelt sich um eine erlernte Reaktion, für die es nicht den geringsten sachlichen Grund gibt.

Wenn man auf eine ehrliche Frage so wenig überzeugend reagiert, wenn der Glaube so leicht ins Wanken kommt, welchen Sinn macht es dann, zu anderen von seiner „festen Glaubensüberzeugung“ zu sprechen? Leider ist diese Schönfärberei zum Zwecke der Selbstberuhigung weithin üblich (fromme Gruppendynamik). Und das erst öffnet der Manipulation und dem Selbstbetrug Tür und Tor.

Wo immer wir im Leben eine zuverlässige Gewissheit brauchen – besonders wenn von uns ein hoher Einsatz erwartet wird – so ist die Voraussetzung dieser Gewissheit regelmäßig nicht das blindgläubige Nachplappern einer Hochglanz-Werbebroschüre, sondern die Nutzung anderer, konkurrierender Informationsquellen. Wer wird ein teures Produkt kaufen, ohne wenigstens vorher einen oder sogar mehrere Testberichte gelesen und sich ein vorab ein Urteil gebildet zu haben? Der zuverlässigen Gewissheit geht immer die Prüfung voraus.

Nun gibt es zwei Versionen von christlichem Glauben. Bei einem Glauben, der hohen Einsatz bzw. Verzicht beinhaltet, bei einem Glauben, der das Elend des Mitmenschen bereit ist zu einem guten Teil mit zu tragen, stellt sich die Frage nach wirklicher Glaubensgewissheit um so dringender, je höher der Einsatz ist. Die häufigste Version jedoch ist der christliche Mainstream-Glaube, der nichts oder kaum etwas kostet, sondern auf die Schnelle jede Menge schöne Gefühle erzeugen soll. Diese Art Christentum „hat seinen Lohn dahin“: religiöse Gefühle werden wunschgemäß erzeugt und konsumiert und damit hat sich der eigentliche Zweck vollauf erfüllt. Dass diese Art Glaube auf die Frage nach zuverlässiger Glaubensgewissheit und auf das Ringen um Wahrheit verzichten und ebenso „wirksam“ mit Aberglauben arbeiten kann, liegt auf der Hand.

Im evangelikalen Mainstream hat man offenbar der Frage viel zu wenig Beachtung geschenkt  wie denn spirituelle Autorität zuverlässig identifiziert werden kann. Schon das grundlegende Konzept des Gotteswortes wird immer wieder von theologischer Bevormundung verwässert.

Der Gläubige darf glauben, dass Gott die absolut kompromisslose Liebe ist. Ebenso klar ist, dass Gott sich von allen Gläubigen die völlige selbstlose Hingabe an die Liebe wünscht. Je selbstloser jemand für andere, die sich im Leben quälen, da ist, um ihnen in ihrer Not beizustehen, desto besser wird er verstehen, was Liebe ist. Wenn jemandem dagegen diese praktische Basis fehlt, wird er ein schiefes Bild von Liebe haben. Er wird vielleicht fest überzeugt sein etwas von Liebe zu verstehen, aber er wird sich damit etwas vormachen. Die facto hat er für das Wesen Gottes wenig oder gar kein Verständnis.

Je mehr jemand in seinem Glaubensleben in die tätige Liebe investiert, desto leichter wird es für ihn, beim Bibellesen festzustellen, dass bestimmte Bibelworte Liebe und Vertrauen stärker werden lassen und zum geistlichen Wachstum beitragen. Inspirierte Bibelworte leuchten auf wie Positionslichter, die ein Schiff sicher zum Hafen leiten (spirituelle Resonanz). Zugleich wird der Gläubige bemerken,  dass es (relativ selten) Sätze in der Bibel gibt, die Liebe und Vertrauen nicht stärken können, die überhaupt keine Orientierung geben, die vielmehr Menschen in der Geschichte zur äußerster Brutalität und Lieblosigkeit verleitet und von der Liebe weggezogen haben, kurz: Sätze, die das Vertrauen empfindlich stören (wie zB. der Simei Bericht.  Ausführlich dazu der Essay: „Bibelwahrheit – Bibelwahn. Eine kurze Geschichte der frommen Angstmacherei.„).

In diesem Fall dürfen Gläubige auf das Prüfungsrecht zurückgreifen, das jedem Menschen, der sich vom Geist der Liebe leiten lässt, in 1Kor 2,15 zugesprochen ist: „Der vom Geist geleitete Mensch beurteilt alles und sein Urteil braucht nicht noch einmal durch Prüfung berichtigt zu werden.“

Wie vertrauensstörende Texte in die Bibel hineinkommen konnten, dass ist eine Frage, die wir nicht klären können. Wir können nur nachträglich feststellen, dass es manche Texte gibt, die zum Vertrauen nicht ermutigen, sondern im Gegenteil dem Vertrauen die Kraft rauben.

Die Frage die sich Theologen immer wieder gestellt haben: wie erkenne ich Gottes Wort?

Der Versuch, Wort Gottes mit Hilfe der Logik im Bibeltext sauber abzugrenzen, hat auf den theologischen Hochschulen dazu geführt, dass die Bibel immer hemmungsloser kritisiert wurde und schließlich unter Generalverdacht stand (das Elend der liberal-materialistischen Theologie, die alles und jedes anzweifelt, kritisiert und kaputtmacht, ist ja bekannt,)

Aus diesem Ergebnis haben bibeltreue Theologen den Schluss gezogen, dass die Bibel nur als Ganzes als Gotteswort gelten könne. Dies ist jedoch eine rein quantitative Definition, die vom hohen Sockel der „professionellen“ Glaubensverwalter (Theologen) herab ohne Rücksicht auf Liebe und Glaubwürdigkeit festgelegt und mit sozialer Kontrolle durchgesetzt wird: alles was zwischen zwei Buchdeckeln vorgefunden wird, soll als automatisch heilig und unfehlbar gelten. Widerspruch wird im Keim erstickt. Dies ist eine reine Notlösung gewesen, um den Einfluss der liberalen Theologie an den Hochschulen einzudämmen.

Nichtsdestotrotz ist es eine fatale Scheinlösung. Denn sie kommt zustande, ohne dass es dabei einer Vertiefung in das Wesen der Liebe Jeus bedarf. Das Wiedererkennen dieser Qualität in biblischen Aussagen („spirituelle Resonanz“) findet nicht statt. 

Doch warum brauchen wir überhaupt eine eine fromme Hierarchie mit gut bezahlten Amtsträgern, die – getrieben  von der Angst vor Einflussverlust – Gläubige  bevormunden und vorschreiben, was sie angesichts glaubensstörender Texte in der Bibel zu denken haben? Warum werden Gläubige ganz selbstverständlich auf die Chicago-Erklärung verpflichtet, die in etlichen Punkten der Bibel widerspricht bzw. Gläubige dazu verführt, wider besseres Wissen zu reden – obwohl der Schutz der Glaubensgewissheit auch auf eine glaubwürdige Weise stattfinden kann?  Warum genügt es nicht, dass Gläubige ihren Glauben soweit ernst nehmen, dass sie der tätigen Liebe eine hohe Priorität einräumen und auf diese Weise die Autorität der sie betreffenden Bibelworte erkennen?   

Hat die Urgemeinde eine derartige Bevormundung gebraucht? „Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehre; sondern wie euch seine Salbung alles lehrt, so ist’s wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt in ihm.“ (1Joh 2,27) Gläubige, die bereit sind, sich vom heiligen Geist zeigen zu lassen, was dem Willen des Heiligen Geistes entspricht, üben aus Liebe selbständig geistliche Disziplin und werden eben durch diese Disziplin vor Missbrauch und Autoritätsverlust beschützt. Aufrichtige Liebe wird durch Gott selbst beschützt. Die Autorität der durch die Liebe beglaubigten Bibelworte wird ebenfalls von Gott beschützt. „Ich will wachen über meinem Wort, dass ich’s tue“ (Jer 1,12)

Deswegen gibt es für die Angst vor dem Verlust des Glaubens keinen triftigen Grund. Wir brauchen uns nicht wie die drei dummen Affen blind, taub und stumm zu stellen und uns vor der Welt unglaubwürdig zu machen, um uns zu schützen, sondern wir haben die Freiheit, uns allen sinnvollen Fragen zu stellen, so wie Jesus es konnte. Wer wirklich darauf vertrauen kann, dass Gott seine Gläubigen so sehr liebt und ihnen etwas Unzerstörbares geschenkt hat, der wird diese Angst vor sinnvollen, naheliegenden Fragen, diese Angst, die uns die fromme Hierarchie andressiert hat, eines Tages endlich hinter sich lassen können.

Es sollte uns zu denken geben, dass das Neue Testament den Gläubigen immer wieder auffordert zu prüfen und ihm sogar darin größtmögliche Befugnis einräumt. „Prüft alles!“ (1Thes 5,21) Der Apostel Paulus bringt es auf den Punkt. „Ein Mensch kann, so wie er ist, eigentlich gar nicht erfassen, was vom Geist Gottes kommt. Er hält es für Unsinn und kann nichts damit anfangen. Zum Verstehen ist geistliche Urteilskraft notwendig. Ein Mensch dagegen, der den Geist Gottes geschenkt bekommen hat und sich von ihm leiten lässt, kann alles richtig beurteilen. Sein Urteil hält jeder Überprüfung stand.“ (1Kor 2,14-16)

Von diesem umfassenden Prüfungsrecht des Gläubigen wissen evangelikale Gläubige in der Regel nichts.

Nirgends fordert das Neue Testament auf, sich blind und taub zu stellen, nirgends wird das blinde Nachplappern „phantasievoller Märchengeschichten“ (2Petr 1,16) gelobt  – im Gegenteil: Zeuge kann nur sein, wer „genau hinschaut, ja sogar tastet und fühlt„, um größtmögliche Gewissheit zu haben (1Joh 1,1). Was bedeutet denn das Wort „Zeuge“. Viele verstehen darunter nicht mehr als einen Werbetrommler, jemand, der eine Ware unter das Volk zu bringen hat und deshalb alle Mängel tunlichst verschweigt. Welcher Unsinn!  Ein Zeuge ist jemand, der vor Gericht aussagt. Das Gericht ist darauf angewiesen, dass er die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagt. Deshalb wird jeder Zeuge vom Gericht auf seine Wahrheitspflicht hingewiesen,  – wer sich daran nicht hält, wer übertreibt oder verschweigt, wird für das „falsche Zeugnis“ bestraft.

Eines der ältesten Dokumente des Neuen Testamentes, der Galaterbrief fordert die Gläubigen sogar auf, die Apostel selbst zu prüfen, ob sie die frohe Botschaft verfälschen (Gal 1,18) und bringt ein Beispiel dafür, das uns eigentlich die Größe der Gefahr auf eindringlichste Weise vor Augen stellt. Paulus musste Petrus öffentlich scharf kritisieren, denselben Petrus, den Jesus als „Felsen“ bezeichnete, auf den er seine Gemeinde bauen würde (Mt 16,18), da dieser sich aus Angst verleiten ließ, eben dieses Evangelium durch Anpassung an Gesetzesfanatismus der jüdischen Besucher auszuhöhlen (Gal 2). Wenn das bei Petrus – trotz seiner überwältigenden Pfingsterfahrung (!) – möglich war, dann war ähnlich Schlimmes auch bei allen anderen Christen möglich.

Zu der Zeit, als der Galaterbrief geschrieben wurde, war das übrige Neue Testament, insbesondere die Evangelien und die Apostelgeschichte noch gar nicht vorhanden. Somit gilt die Aufforderung zur Prüfung selbstredend für alle später verfassten Dokumente der Bibel. In der Tat hat es ja solche Diskussionen und Überlegungen gegeben (ähnlich dem Apostelkonzil in Apg 15) und ein zuverlässiges, zutreffendes Urteil wird immer auch späterer Nachprüfung standhalten.

Auch über gläubig gewordene Menschen macht sich die Bibel herzlich wenig Illusionen: „Denn, selbstsüchtig wie WIR sind, wollen WIR immer das Gegenteil von dem, was Gottes Geist will. Doch der Geist Gottes duldet unseren Egoismus nicht. Beide kämpfen gegeneinander, so dass ihr gute Absichten nicht in die Tat umsetzen könnt.“ (Gal 5,17). Jeder, auch der gläubige Mensch ist dem Sog seiner subjektiven Bedürfnisse von Anfang an ausgesetzt: Mit dem Wort „WIR“ bezieht der Apostel Paulus ausdrücklich auch sämtliche Bibellehrer einschließlich sich selbst mit ein! Interessen, Verlustängste, Oberflächlichkeit, unkritisch übernommene Festlegungen und nicht zuletzt die mangelhafte Wahrnehmung anderer Lebensschicksale beeinträchtigen ständig die Urteilskraft und allzu viele Gläubige merken es noch nicht einmal.

Wie verträgt sich damit der fundamentale Glaubenssatz der sich „bibeltreu“ nennenden Gläubigen, nämlich die Behauptung, dass bei den vielen Gläubigen, die Bruchstücke des unfehlbaren mündlichen Gotteswortes erinnert, aufgeschrieben, gesammelt und zu einem Bibelkanon zusammengestellt  haben, verfälschende Einflüsse mit „absoluter Sicherheit“ ausgeschlossen waren? Wie soll das möglich gewesen sein, wenn das Denken jedes Gläubigen von Anfang an durch subjektive Bedürfnisse und Fehleinschätzungen angefressen war?

Als „Beweis“ für einen fehlerlosen Kanon wird von „bibeltreuer“ Seite angeführt, dass in der Bibel an etlichen Stellen das Gotteswort als „vollkommen„, „nichts als die Wahrheit“ (Ps 119,160), „ewig gültig“ (Ps 119,89)  oder „durchläutert“ (Ps 18,31) gelobt wird.

Ist damit das vorige Argument entkräftet? Der Konflikt zwischen beiden Aussagen bleibt dennoch bestehen. Könnte es nicht sein, dass hier in erster Linie das mündliche Gotteswort gemeint ist, dass zweifellos unfehlbar ist? Ein mündliches Gotteswort, das dem Gläubigen zu allen Zeiten geschenkt werden kann, das „den tötenden Buchstaben lebendig macht“ (2Kor 3,6)? Steht das mündliche Gotteswort, die Inspiration über dem schriftlichen Wort oder unter ihm? Warum konnte Jesus sagen: „Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat„. Nun ja, als Messias konnte er das wohl.

Doch er rechtfertigt seinen Satz nicht mit seiner messianischen Stellung. Warum fällt das nicht auf? Er rechtfertigt sich durch einen Verweis auf die anstößige Geschichte von David und den Schaubroten (Mk 2,23-28). Der Priester Ahimelech, der David die heiligen Brote gab, die nur Priester berühren durften (vgl. 4Mo 7,9 / 1Chr 13, 10),  war nicht der Messias. Und doch folgte er instinktiv einer verborgenen, dem Buchstaben übergeordneten Wahrheit. Mussten es unbedingt die heiligen Brote sein? Davids Leute wären ja nicht verhungert. Es gab genug Herden im Land, aus denen man sich auch gegen den Willen der Besitzer das Nötige hätte holen können.

Haben nicht gerade solche Texte die Funktion, Gläubige anzuleiten, genau hinzuschauen?

Wer klarer sehen will, der muss gründlicher nachfassen und Bibelworte gegeneinander abwägen, um zu einer überzeugenden Antwort zu kommen, die nicht bei genauerem Hinschauen wieder ins Wackeln gerät. Unsere Webseite hat diese Vorarbeit gemacht und in der Menügruppe mit der Überschrift „Heilsame Bibellehre“ allgemein zur Diskussion gestellt. Immer wieder haben wir bei Gemeindeleitern angefragt, diese Informationen auch in ihrer Gemeinde zur Diskussion zu stellen. Doch bis heute war die Reaktion in fast allen Fällen ablehnend. Argumente dafür hatte man nicht.

Aber das ist eben der Punkt. Die „Schriftgelehrten„, d.h. die Theologen des evangelikalen Mainstreams haben dafür gesorgt, dass Gläubigen das Bedürfnis genauer hinzuschauen, nachhaltig abhanden gekommen ist. Zuviel Urteilsvermögen der Gläubigen ist nämlich gar nicht erwünscht. Eine panische Reaktion auf jeden Wunsch nach Überprüfung ist für Theologen vorteilhafter. Sie macht nämlich abhängig vom Establishment, dessen Beteuerungen als Garanten der Glaubensgewissheit genügen sollen. Dadurch wird die Hierarchie enorm aufgewertet, was dem Ansehen, dem Einfluss und der Arbeitsplatzsicherheit zugute kommt.  Umgekehrt plagt aber auch die Gemeindeleiter häufig Verlustangst, stehen auch sie unter dem Druck des Mainstreams, haben gerade sie Angst, nämlich die Angst als glaubensschwach zu gelten, mit mangelnder Anpassung unangenehm aufzufallen und linientreue Mitglieder an konkurrierende Gemeinden zu verlieren.

Angst. Angst. Angst.

Was aber sagt die Schrift? „Wenn ich Menschen zu Gefallen rede, bin ich Christi Diener nicht!“ (Gal 1,10) Wie kann dann jemand mit dieser chronischen Verlustangst ernsthaft meinen, dass er vom heiligen Geist berufen sein, Gläubige zu belehren und ihnen nahezulegen, was sie zu glauben haben?

Wenn der tötende Buchstabe jederzeit durch den heiligen Geist neu inspiriert und mit Kraft und Leben erfüllt werden kann (2Kor 3,6), sollte eigentlich das Vertrauen in die ewige Gültigkeit des mündlichen Gotteswortes  für die Stabilität der Glaubensgewissheit  ausreichen. Das mündliche Gotteswort kann ja durch enge Orientierung an den ewig gültigen Grundpfeilern der Liebe und Wahrheit ungeachtet aller Verfälschungen zufriedenstellend rekonstruiert werden. 

Doch die eingeübte Angst vor dem angeblichen Glaubensverlust macht für diese einfachen Überlegungen offensichtlich blind. Wer immer an der Oberflächlichkeit der  angeblich „bibeltreuen“ Schriftauffassung Zweifel anmeldet, gar noch gute Gegenbeweise bringt, der wird vom frommen Establishment als Kumpan Satans diffamiert, als jemand, der wie einst die Schlange die beiden ersten Menschen nun die Gläubigen zum Misstrauen verführt mit dem bewährten Satz „Sollte Gott gesagt haben?“ (1Mo 3,1), ein zweifellos verhängnisvoller Satz, der zum ersten Sündenfall und zur Vertreibung aus dem Paradies führte.

Dem schriftgelehrten Establishment ist es gelungen, Gläubigen weiszumachen, dass jeder, der es wagt, naheliegende, ehrliche Fragen zur Qualität des überlieferten Bibelverständnisses zu stellen, als Feind und Glaubensschädling zu betrachten ist. Man wird fortan einen großen Bogen um ihn machen, als Gruppe umso enger zusammenrücken und sich noch mehr gegen korrigierende Impulse, die von draußen kommen. abschotten.

Sollte Gott gesagt haben?

Zweifellos eine entscheidende Frage! Sie sollte uns mahnen, niemals etwas leichtfertig im biblischen Text in Frage zu stellen. Aber dass niemals etwas im biblischen Text in Frage gestellt werden darf, kann dieser Satz nicht bedeuten. Die Christen erklärten im  Apostelkonzil (Apg 15) das gesamte mosaische Gesetz für Christen als ungültig (mit vier Ausnahmen). Obwohl das mosaische Gesetz „für alle Ewigkeit“ (2 Mo 27,21 / 29,9 / 31,16 / 3.Mo 6, 6)  gelten sollte. Somit hatte in diesem Fall der Satz „Sollte Gott gesagt haben“ keine Gültigkeit. Warum nur?

Wer die Bibel genauer liest, der findet noch andere Beispiele. Hat Jesus tatsächlich dem biblischen Völkermordbericht in 4Mo 31,14-18 zugestimmt und ihn als heiliges, unfehlbares Gotteswort qualifiziert? Hat Jesus tatsächlich seinen Jüngern gesagt: „Das müsst ihr eben glauben“? Einem unsäglich grauenvollen Bericht,  laut dem kriegsgefangene Frauen allein deshalb getötet werden sollten, weil sie keine Jungfrauen mehr waren? Ein Bericht, laut dem kriegsgefangenen Kinder und Babys zwecks „Vorbeugung“ vor Götzendienst allesamt abgeschlachtet werden mussten?

Der evangelikale Mainstream, der wenig nachdenkt und viel nachplappert, ist dieser Ansicht. Was ein Bibellehrer wie Markus Voss dazu sagt – solche Maßnahmen wären ganz im Sinne göttlicher Gerechtigkeit – , dürfte der allgemeinen evangelikalen Sicht entsprechen. Indes taugen seine Argumente dazu überhaupt nichts.

Wie verträgt sich die Zustimmung und Rechtfertigung von solchen Ausrottungsbefehlen mit dem alttestamentlichen Gebot: „Kinder dürfen nicht für die Sünden der Eltern bestraft werden“ (5Mo 24,16) ? Besteht hier wirklich kein Widerspruch, wie es gebetsmühlenartig behauptet wird? Wie verträgt sie sich mit dem zweifellos fundamentalen Gebot: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“ (Röm 13,10), das Jesus so wichtig war ? 

Jesus forderte seine Hörer auf, ihn zu prüfen: „Wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen?“ (Joh 8,46) Hätte er den Mordbefehlen zugestimmt, wäre der Nachweis der Sündhaftigkeit doch sehr einfach gewesen. Wieso unterstellen  dann „bibeltreue“ Bibellehrer, dass Jesus diesen Mordbefehlen zugestimmt hätte? 

Ist es nicht überzeugender anzunehmen, dass die Völkermordbefehle durch allzu menschlichen Einfluss  entstanden, durch Fahrlässigkeit in den biblischen Kanon hineingelangt und nachträglich zu Unrecht als Gottes Auftrag gerechtfertigt worden sind? Wird nicht von einem zuverlässigen, liebevollen Charakter, den wir Gott zutrauen dürfen, genauso wie für die Gläubigen der folgende Satz gelten müssen: „Lässt auch die Quelle aus einem Loch Süßes und Bitteres fließen? Kann auch ein Feigenbaum Oliven oder ein Weinstock Feigen tragen? So kann auch eine salzige Quelle nicht süßes Wasser geben.“ (Jak 3,11-12) Eine salzige Quelle KANN NICHT süßes Wasser geben!

Sollte Gott dies auch gesagt haben? Oder erwartet der heilige Geist tatsächlich von der Christenheit, dass sie dieses Bibelwort als eine Aussage geringer Priorität einstuft, damit die Ausrottungsbefehle als richtig, heilig und heilsam gelten können?

Die Heiligsprechung der Völkermordbefehle hat gravierende Folgen. Gläubige Menschen verlieren etwas sehr Wichtiges.

Sie verlieren das Vertrauen in den Wert und in die Kraft der Wahrheit. Die Lüge und die Selbsttäuschung haben eine wichtige Funktion bekommen, beides erscheint unverzichtbar für das seelische Gleichgewicht, ja sogar unverzichtbar für die Beziehung zu Gott.

Zweitens: sie lernen etwas, was für ihre seelische und spirituelle Entwicklung schädlich ist. Sie lernen, dass Gott seinen Gläubigen einen Glauben zumutet, der ohne Selbstbetrug nicht lebensfähig ist. Sie lernen, das in der Persönlichkeit Gottes auch das Böse und die Lüge zuhause ist. Ist es dann ein Wunder, wenn die ursprüngliche Glaubensfreude immer mehr schrumpft? Umso hektischer wird dann der religiöse Aktionismus, der dieses Defizit durch religiöse Erfolgserlebnisse zu kompensieren versucht.

Weiter: Gläubige Menschen üben etwas Destruktives ein: eine gesunde Abwehrreaktion gegenüber sinnloser Brutalität im Namen Gottes wird  erschwert, eventuell sogar unmöglich gemacht. Und: Sie werden wehrloser und orientierungsloser: Der Wille eine Sache zu erforschen und ein faires ehrliches Urteil zu finden, wird gelähmt. Das Urteilsvermögen schrumpft.

Gewissheit entsteht nicht mehr als Resultat einer  Argumentation, die widerspruchsfrei auf den Axiomen der Liebe und der Wahrheit gründet. Es entsteht nur noch eine Pseudogewissheit, die mit Müh und Not am Leben erhalten wird, indem in einer geschlossenen Gemeinschaft andere Stimmen  und gute Argumente durch den Chor der Nachplapperer übertönt werden. Bloß nicht nachdenken, sonst ist der ganze Glaube weg. Dann kann selbst Gott nicht mehr helfen. Wo bist du dann, Gott? Die panische Angst vor dem Glaubensverlust wird dann anderen als Beweis von Glaubensstärke präsentiert!  

Wem immer es gelingt, seine Follower in ein Gefängnis der Angst einzusperren, der braucht um einen Verlust an Einfluss nicht mehr besorgt zu sein! Wie gut ist das christlichen Wortführern im Laufe der Geschichte immer wieder gelungen! Unter der Webadresse  „bibelwahrheit-bibelwahn.de“ findest du eine kurze Übersicht über die fromme Angstmacherei in der Kirchengeschichte – frei von Beschönigung und Verharmlosung. Es ist eine faule Ausrede, dass sich nur Scheinchristen der frommen Erpressung und Bedrohung bedient haben. Kann man aus den schrecklichen Folgen keine Lehren ziehen? 

Genauso wie Diktatoren von ihren Günstlingen erwarten, dass sie teilhaben an seinen Verbrechen, dass sie sie  verharmlosen, verherrlichen oder irgendwann vielleicht auch selber begehen, so lernt auch der bibeltreue Gläubige seine Treue gegenüber Gott dadurch zu beweisen, dass er ihm in serviler Weise sein Gewissen und seinen Verstand zum Opfer darbringt, und auch noch die unsäglichsten, grauenvollsten Befehle und Berichte bejubelt, rechtfertigt oder verharmlost. Und das alles im Namen der Liebe! Und dann noch anderem von christlicher Freiheit vorpredigt.

Kann man tatsächlich meinen, dass Gott auf diese Weise geehrt werden könne! Was für eine Verirrung! Aber nie kommt dem solcherart dressierten Gläubigen die Idee, dass das zugrunde liegende Bibelverständnis, das religiöse Verlustangst instrumentalisiert,  falsch sein könnte. Von dem angerichteten Schaden für die Seele und das Leben gar nicht zu reden.

Die Entmündigung des Gläubigen, seine Bevormundung durch das schriftgelehrte Establishment, die Verteufelung seiner Befugnis zur Prüfung hat es zum heutigen Tag unmöglich gemacht, das Gift im Hebräerbrief zu entschärfen, vor dem schon Martin Luther eindringlich gewarnt hatte. Durch diesen Brief sind schon viele Christen in der Psychiatrie und in der Verzweiflung gelandet. Doch wen interessiert das in der jubelnden Gemeinde?

Eigentlich sollte diese Tatsache Grund genug sein, eine Überprüfung und eine Diskussion über Gefahrenvermeidung zu erlauben, wie sie unser Beitrag „Risiko Hebräerbrief“ beispielhaft vornimmt. Überhaupt sollte bei Texten, die eventuell für die seelische Gesundheit gefährlich sein könnten, jeder Mensch sich ohne äußeren Druck, frei von religiöser Dressur und Einschüchterung seine Gedanken machen dürfen.

Leider ist in evangelikalen Gemeinden diese Überprüfung bis zum heutigen Tag unerwünscht. Gewissheit soll ja nicht durch eigene Prüfung entstehen, sondern in erster Linie durch die Hierarchie der Schriftgelehrten vermittelt werden. Auch mag man sich die Blöße nicht geben, dass man jahrelang diesen Brief als heilig und unfehlbar empfohlen hat und sich nun korrigieren muss. Das Image ist doch unendlich wichtiger bei diesen Leuten, die vom gewöhnlichen Christen die „Demut“ fordern, auch das Böse, dass seltsamerweise nebenbei in die biblischen Dokumente hineingeraten ist,  als „unerforschlich Gutes“ der Gottheit anzuerkennen. Eben dieses Image fühlt sich nicht im mindesten dadurch beunruhigt, dass immer wieder etliche Gläubige durch Unterlassen der Warnhinweise zu Schaden kommen.

Was kann bei dieser Einstellung das ständige Reden über Bekehrung noch wert sein? Ist „Bekehrung“  unter diesen Bedingungen noch eine Umkehr zu Liebe und Wahrheit? Gewiss nicht! Ist diese Art „Bekehrung“ nicht viel mehr zu sehen als ein Ritual, mit dem der Neuling seine Unterwerfung unter den Autoritätsanspruch der Glaubensgemeinschaft bezeugt? Auf diese Weise entsteht eine Pseudoethik, die die Suche nach überzeugenden Inhalten überflüssig macht und insoweit schädlich für die Persönlichkeitsentwicklung sein kann (Ethikparadox).

 

[ENDE DES TEXTES]

 

 

 

(in Bearbeitung)

Artikel aktualisiert am 25.12.2024

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