Bekehrung und Konditionierung

Menschen, die in einer Glaubensgemeinschaft Christen werden, werden oft mit einzigartigen Erlebnissen beschenkt, die sie zuvor nie hatten, völlige Befreiung von Schuldgefühlen, Gefühle der Privilegierung und Erwählung zum Freund Gottes, Verschwinden jeglicher Zukunftsängste.

Das ist eine bisher nie gekannte Anhäufung von Glückserlebnissen, die eine ungeheure Erleichterung, geradezu einen Rausch des Glücklichseins  erzeugen können. Die innere Befreiung, die damit verbunden ist, bietet die Chance, der Fixierung auf eigene Bedürfnisse  ein gutes Stück weit zu überwinden und empfangene Liebe an den Nächsten weiterzugeben. So einzigartig ist dieses nie gekannte Befreiungserlebnis, dass es nicht schwerfällt, hierin eine Berührung mit Göttlichem, eine spirituelle Erfahrung zu sehen.

Dieses Glückserlebnis ist mit einem Entschluss verbunden, von nun an den Heilsverheißungen Gottes zu vertrauen. Diese Heilsverheißungen gelten im Rahmen einer freundschaftlichen Vertrauensbeziehung zu Gott. Um den Erhalt dieser Beziehung hat sich der Gläubige fortan zu bemühen, um die geschenkte Glaubensfreude zu bewahren. Er ist aufgerufen, sich auch in Zukunft von falschem, schuldhaften Verhalten zu distanzieren („Nachfolge“), um Gottes Vergebung immer wieder neu in Anspruch zu nehmen, wodurch die ursprüngliche Glaubensfreude wiederhergestellt wird.

Bei oberflächlichem Bibelwissen fällt diese Verpflichtung nicht schwer. Der  evangelikale Mainstream heute lehrt und beachtet eine Minimalethik, die sich eher am Niveau der Zehn Gebote  orientiert als an der Bergpredigt Jesu. Den Zehnten geben, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht betrügen, dem Nächsten nicht schaden, Gottes Namen nicht missbrauchen – noch ergänzt um die spezifischen Verbote der Abtreibung und Pornografie.

Man sieht es gerne, wenn das unbegrenzte vorbehaltlose Vertrauen, das Glaubensanfänger gelernt haben, Gott entgegenzubringen, auch auf die Bibellehrer übertragen wird, die das Bekehrungserlebnis durch ihre Predigt vermittelt haben.

Durch diese Bibellehrer werden Glaubensanfänger nun traditionell belehrt, dass all diese wunderbaren Gefühle des Bekehrungserlebnisses  aufs engste mit dem Glauben an eine unfehlbare Bibel verbunden sind. Ein großes Feindbild wird aufgebaut, wer nicht allen Bibelworten zustimme, sei als Zerstörer und Feind des Glaubens, als Bote Satans unterwegs.

Das  ist indes eine Lüge – was jedoch so gut wie niemand bemerkt. Martin Luther z.B., Dietrich Bonhoeffer und Adolf Schlatter  hatten einen starken Glauben ohne diesen Wahn. Doch leider ist es in evangelikalen Gemeinde der Normalzustand, dass Gläubige sowohl in der Bibelkunde als auch im Fach Kirchengeschichte traditionell auf einem äußerst schlechten Informationsstand sind und auch bleiben sollen.

Diese Konditionierung indes erzeugt ungeheuer große Verlustängste, sodass für die Ausbildung des Urteilsvermögens kaum noch Raum ist. Auch das ist erwünscht. Je unselbständiger die Gemeinde im Urteilen, desto abhängiger und beeinflussbarer wird sie.

Es ist nachvollziehbar, dass der Wahn der irrtumslosen Bibel bei Gläubigen, die im Laufe der Jahre die Bibel doch gründlicher lesen, Verunsicherung und Befürchtungen aufsteigen lässt, ob man nicht vielleicht selbst grausame Bestrafung zu fürchten hat. So mancher ahnt eines Tages, dass die anfängliche Auffassung von „Nachfolge“ als Minimalethik nicht ausreichen könnte. [1]

Umso größer wird das Bedürfnis, sich gegenüber Nichtchristen und Gottlosen zu profilieren. Das geschieht am einfachsten, indem man sich deutlich zum Glauben an die Unfehlbarkeit der Bibel bekennt. Durch bloßes Nachplappern erwirbt man einen Heiligkeitsvorsprung gegenüber allen anderen, besonders gegenüber den Nichtgläubigen, die diese Leistung nicht aufzuweisen haben.

Ein Bibelzitat scheint diese Strategie zu bestätigen: „Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet.“ (Rö 10.9)

Die rettende Wirkung scheint noch größer zu sein, wenn man nicht nur an die Totenauferweckung glaubt, sondern an alles, „was in der Bibel steht.“ Das ist der Grund, warum es so viele hirnlose, unehrliche Bekenntnisse zur Unfehlbarkeit aller Bibeltexte gibt, obwohl einfachste Beobachtung schon das Gegenteil beweist.

Der Wahn einer irrtumslosen Bibel erzeugt also einen neuen Wahn, wer lobend über diesen Gott spricht für ihn Werbung macht, und die negativen Aspekte verschweigt, der darf sich einigermaßen sicher fühlen. Die Unehrlichkeit wird dabei positiv gesehen: Wer wider besseres Wissen redet, ja lügt für Gott und für die Glaubensgemeinschaft, der bringt ja Gott seinen Verstand und seinen Gewissen als Opfer dar – so wie es auch Diktatoren von ihren Günstlingen erwarten – und darf deshalb bei Gott deutlich mehr an Anerkennung erwarten als jemand der dieses Opfer nicht erbringt. Soviel Hingabe kann doch nicht unbelohnt bleiben. Somit ist die Lüge, die Manipulation und der Selbstbetrug zu einem unverzichtbaren Bestandteil der evangelikalen Verdrängungskultur geworden. Die Warnung sowohl im Alten wie im Neuen Testament, dass das Lügen für den Glauben bestraft wird, findet kein Gehör mehr. (Hiob 13, 8-11 / Rö 3,7-8)

Wer echte Spiritualität identifizieren möchte, der muss lernen, fleischlich-religiöse Prozesse als solche zu erkennen. Bei evangelikale Bibellehrern besteht jedoch erfahrungsgemäß sehr wenig Interesse, Gläubige über religiöse Gruppendynamik aufzuklären.  Es ist ja für sie von Vorteil, wenn religiöse Egozentrik mit Spiritualität verwechselt wird. Sie sind in erster Linie an der Begeisterung möglichst großer Menschenmassen, an frommen Massenevents interessiert, an deren Spitze sie stehen und sich als „Gottes auserwähltes Werkzeug“ profilieren können.

So kommt es zu dem paradoxen Ergebnis, dass diejenigen, die zu Umkehr und Bekehrung aufrufen, selber unverbesserlich geworden sind. Die Propagierung einer fehlerlosen Bibel hat den Wunsch nach Ehrlichkeit in der Theologie in den Gläubigen erlöschen lassen. Das unbegrenzte Prüfungsrecht des Gläubigen (1Kor 2,15-16) ist  bedeutungslos geworden. Das spirituelle Urteilsvermögen ist weitgehend verkrüppelt. Die Warnungen Martin Luthers vor dem  Hebräerbrief, der der Werkgerechtigkeit und dem religiösen Missbrauch Tür und Tor öffnet, sind unbekannt geblieben. Das evangelikale Establishment verbittet sich jede Richtigstellung.  Dass Gott selbst den Glauben des Gläubigen bewahrt (Luk 22,32 / Phil 1,6), dass Gottes Geist den Gläubigen auch heute noch „in alle Wahrheit leiten will“ und kann (Joh 16,13) – so weit geht das Gottvertrauen nun doch nicht – Gott behüte.

Jeglicher Zweifel an der Unfehlbarkeit der Bibel gilt als gottesfeindlicher Versuch, den Glauben kaputt zu machen. Er gilt als Diffamierung der Gläubigen, als Bemühen, ihr großes Opfer von Verstand und Gewissen als in den Schmutz zu ziehen – als rückgratlose Anpassung zu diffamieren. Wer will in einer frommen Gemeinschaft in diesen Verdacht geraten? Wer Interesse an Freundschaft und Unterstützung hat, wird sich also anpassen. Bibellehrer gar, die irgendein Wort des Zweifels an einer destruktiven Bibelstelle äußern, können die frommen Netzwerke nicht mehr nutzen, die für Massenevents so wichtig sind. Es werden einsame Leute. Denn zu ehrlich darf es auch in den entschieden frommen Gemeinden nicht werden.  Möglicherweise müssen Gemeindemitarbeiter sogar  um ihren Arbeitsplatz fürchten.

Das sind die Realitäten, die hinter frommen Massenevents stehen, die sich gerne das Etikett der „Erweckung“ umhängen. Es wäre ein Wunder, wenn der fromme Mainstream tatsächlich einmal aus seinem geistlichen Koma aufwachen würde und anfangen würde, sich für ehrliche Rechenschaft zu interessieren und für die Wahrheit, ohne die Liebe nicht lebensfähig ist.


 

[1] Die neutestamentliche Ethik verlangt weit mehr als diese Minimalethik. Sie bezieht auch Unterlassungssünden mit ein ( „wer etwas Gutes zu tun weiß und tut es nicht, dem ist es Sünde“  (Jak 4,17)), fordert  völlige Selbstlosigkeit („wer nicht aufgibt alles was er hat, kann nicht mein Jünger sein„(Luk 14,33)), ehrliche Rechenschaft und völlige Wahrhaftigkeit gerade in Glaubensdingen (2Kor 4,2).

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