„Bibelverständnisse“


Kann man die Bibel „ohne Brille“ lesen? Ohne eine vorgefasste Meinung über sie? Schwer vorstellbar. Wenn man schon durch eine Brille schauen muss… dann sollte man verschiedene Brillen vergleichen und die am besten passende nehmen dürfen…

Aber das ist nicht so einfach, wenn man in einer Glaubensgemeinschaft integriert ist. Dort wird es gern gesehen, wenn alle die gleiche Brille tragen…

Die geistige Brille für das Bibellesen heißt  „Schriftverständnis“ oder „Bibelverständnis“. Damit  werden grundsätzliche Annahmen über qualitative Eigenschaften der Bibel bezeichnet, an denen Menschen festhalten, damit ihr Glaube stabil bleibt.

Wir stellen euch hier 4 typische Sorten von „Brillen“ vor. Welche Vorteile und Nachteile mögen sie haben? Unsere Leser sind eingeladen, hierzu ihre Erkenntnisse mitzuteilen…

1. Buchstabenorientiertes Bibelverständnis  (Verbalinspiration, Irrtumslosigkeit, „Bibeltreue“)
2. Beziehungsorientiertes Bibelverständnis  („Christustreue“)
3. Prioritätenorientiertes Bibelverständnis  („Bibeltreues Update“)
4. Provisorisches Bibelverständnis (Spirituelle Resonanz)
5. materialistisches Bibelverständnis

 

1. „Buchstabenorientiertes“ Schriftverständnis, Verbalinspirationsdoktrin oder Irrtumslosigkeitsdoktrin. („Bibeltreue“)
(u.a. beschrieben in der „Chicago-Erklärung“ von 1978). Die ganze Bibel ist das Wort, das Gott an den Menschen richtet – ausgenommen die Stellen, die ausdrücklich als Meinung oder Zitat gekennzeichnet sind. Weil Gott ohne Fehler ist, hat auch die Bibel die göttliche Eigenschaft der Fehlerlosigkeit. Enthielte die Bibel einen einzigen Fehler oder Widerspruch, so wäre ihre göttliche Herkunft zweifelhaft. Der Glaube würde durch Zweifel untergraben. Der Gläubige ist verpflichtet, sich zur Fehlerlosigkeit der Bibel zu bekennen, um Zweifel und Unglauben einzudämmen. Andernfalls entfernt er sich von Gott bzw. missachtet seinen Willen. Zweifel an (selten vorkommenden) destruktiven Bibelstellen ist nicht erlaubt – selbst wenn sie heute nicht mehr gültig sein sollten, waren sie doch zu einer früheren Zeit Ausdruck des „vollkommenen“ (Ps 19,8), irrtumslosen Gotteswillens. Die Bibel selbst bezeuge vielfach, dass sie selbst unfehlbar und irrtumslos sei…

Stärken: erzeugt Sicherheits- und Geborgenheitsgefühle durch Anknüpfung an simple und bereits eingeübte Vermeidungsstrategien der selektiven Wahrnehmung, des Gedankenstopps und der Ablenkung. Erzeugt ein Bewusstsein der Privilegierung und Exklusivität (Erwählung) und sozialen Distanz gegenüber allen, die aus diesen Verhaltensweisen keine Sicherheit gewinnen können. Erzeugt eine ökonomische Nische, d.h. Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten für Führungspersonen, die sich verpflichten, die speziellen Bedarfe nach einem geschützten Raum für „bibeltreue“ Belehrung abzudecken.

Schwächen: schützt mangelhaft vor überfordernder, am Buchstaben orientierter Bibellehre, fördert übersteigerte Selbstwahrnehmung und Sendungsbewusstsein, erhöht die Neigung zur Ideologisierung, Manipulation, Bevormundung und Täuschung zwecks Mehrung religiösen Einflusses, erschwert Wahrnehmung, Mitgefühl und tatkräftige Fürsorge für missbrauchsgeschädigte Gläubige.

 

2.  Beziehungsorientiertes Schriftverständnis. („Christustreue“)
Die Bibel enthält das Wort, das Gott an den Menschen richtet. In Angelegenheiten der Beziehung zwischen Gott und Mensch wurde die Information zuverlässig übertragen. Zugleich hat Gott in naturwissenschaftlichen und historischen Aussagen zeitbedingte Anschauungen toleriert, die späteren Erkenntnissen nicht standhalten müssen. Der Gläubige ist aufgerufen, seinen Glauben an den Beziehungswahrheiten festzumachen.

Stärken: Sinnvolle Prioritätensetzung: Beziehung zu Jesus wichtiger als der Streit um Detailfragen.

Schwächen: Verleitung zu Überbewertung und zur unkritischen Akzeptanz von vorläufigen Ergebnissen der Wissenschaft, unklare Abgrenzung zu selbst definierter Ethik, die ohne gründliche Qualitätsprüfung auskommt.

 

3. Prioritätenorientiertes Schriftverständnis. („Bibeltreues Update„)

Die Bibel ist ein Buch, das Information über die Fakten der unsichtbaren Welt auf einzigartige Weise übermittelt. „Gottes Buch“ wird nicht passiv gelesen und verstanden wie andere Bücher, sondern es ist „lebendiges Wort„. (Joh 6,63) Das lebendige Wort reagiert auf die Einstellung des Lesers. Pflegt der Gläubige sein geistliches Leben, so beginnt es zu sprechen. Lässt er das geistliche Leben verkümmern, bleibt die Bibel stumm, deckt die Wahrheit wie eine „Decke“ (2.Kor 3,15-16) zu. („Selbstverstärkung„)  „Der natürliche Mensch aber versteht das, was der Geist Gottes will, nicht. Er hält es für eine Dummheit. Er kann den Wert nicht erkennen, was durch geistliches Urteilen möglich ist. Ein Mensch, der vom Geist Gottes geleitet wird, kann den Text richtig beurteilen und muss nicht befürchten, dass sein Urteil später von jemandem als Irrtum verworfen werden muss.“ (1.Kor 2,14-15)

Die Buchstaben im „Lebensbuch“ der Schöpfung, d.h. in der Erbsubstanz DNA, zeigen dieselbe Gesetzmäßigkeit. Die Erbsubstanz liefert nur dann steuernde Informationen, wenn sie in eine lebendige Zelle eingebettet ist. Aus der lebendigen Zelle erst kommen die Impulse, die eine sinnvolle Funktionsweise ermöglichen. Ohne die lebendige Zelle bleiben die „Buchstaben“ des „Lebensbuches“ totes Eiweiß – bedeutungslos und nichtssagend. Ähnliches lässt sich über die Wirkungsweise der Bibel sagen. Ihre Steuerungsfunktion setzt eine geistlich gesunde innere Einstellung voraus, Der bloße Buchstabe ist mausetot, ja er kann sogar den Tod statt Leben bringen. (2.Kor 3,6b)

Menschen interpretieren die Bibel nicht automatisch richtig, weil sie gläubig oder weil sie evangelikale Theologen geworden sind. Durch eigennützige Motive, mangelnde Reife, Bequemlichkeit, Furcht unangenehm aufzufallen, schwach entwickelte Wahrheitsliebe usw. kann der Heilige Geist stark „gebremst“ (1. Thes 5,19) und die Urteilskraft entsprechend eingeschränkt sein. Insbesondere Selbstgerechtigkeit sowie Unfähigkeit zur Selbstkritik werden immer zu einer Verkürzung und Verfälschung biblischer Aussagen führen (Selbstverstärkung, , Giftige Theologie, Blinder Fleck ). Aus biblischer Wahrheit wird Propaganda.

Die Eigenschaft der Bibel, sich zu verschließen, lässt sich nicht durch theologische Auslegungskunst kompensieren. So ist es möglich, dass Gläubige Aussagen der Bibel falsch interpretieren, ohne die Schwächen ihrer Interpretation zu erkennen. Es ist zu beachten, dass Gott „Laienboten“ autorisieren kann, denen theologische Experten widersprechen. Das heißt auch, dass die Methoden, mit denen üblicherweise Literatur erschlossen wird, hier nur teilweise – in Einzelfällen gar nicht – anwendbar sind. Eine möglichst eng am Wortlaut orientierte Interpretation kann in manchen Fällen falsch sein. Über die angemessene Art, mit der Bibel umzugehen, informiert uns diese selbst. Wenn wir die biblische Arbeitsweise akzeptieren, erkennen wir den hilfreichen und guten Sinn ihrer Aussagen.

Auffällig ist, dass eine hilfreiche und lebensfördernde (Mt 4,4) Interpretation des biblischen Textes schwierig bis unmöglich wird, wenn alle Sätze im biblischen Kanon gleiches Gewicht haben, weil destruktive Bibelstellen die Aussagen über die Barmherzigkeit Gottes relativieren. Konkurrieren zwei Aussagen miteinander, so muss ihre Rangfolge festgestellt werden („Polarität der Bibel). Die unterschiedliche Rangfolge biblischer Aussagen darf nicht willkürlich festgelegt werden. Zu einer eindeutigen, zuverlässigen Festlegung bedarf man eines höheren, von der Heiligen Schrift autorisierten Ordnungsprinzips. Insofern sind viele biblischen Sätze den Gläubigen nur als eine „Vorform“ letztgültiger Wahrheit gegeben.

Um die Bibel richtig zu lesen; d.h. bis zur letztgültigen Wahrheit durchzudringen, ist  der Gläubige verpflichtet und aufgerufen, sich um spirituelle Disziplin zu bemühen und alle Aussagen der Bibel in das Licht der höchsten Maßstäbe Jesu zu stellen, um ihren Rang festzustellen. Spirituelle Disziplin befindet sich ständig im Einklang mit den ausnahmslos gültigen (!) Qualitätsmaßstäben JesuBarmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit“ (Mt 23,23). Nur auf diese Weise,   im Zusammenwirken von biblischem Wort und geistlichem Leben, entsteht eine lebensfördernde, zuverlässige und verbindliche Interpretation der Bibel mit letztgültiger Autorität („Wahrheit“). Auf diese Weise ist der Gläubige nicht mehr auf theologische Meinung angewiesen (1.Jo 2,27) und muss sie nicht mehr zur Grundlage seiner Glaubenssicherung machen.
Dieses Verfahren wird uns im Neuen Testament selbst vorgestellt. Ursprünglich war es im Gottesdienst so, dass mehrere Brüder eine Botschaft von Gott empfingen.  Obwohl es sich hier um mündliche Inspiration handelte, sollte die Botschaft von den anderen sogleich geprüft werden. “Von den Brüdern, die Gottes Weisungen empfangen, sollen nur zwei oder drei sprechen; die anderen sollen das Gesagte deuten und beurteilen (και οί άλλοι διακρινέτωσαν).” (1.Kor 14,29) Dies zeigt uns, dass die Übertragung von Information aus der unsichtbaren in die sichtbare Welt in irgendeiner Weise schwierig war. Paulus redet von „unaussprechlichen Worten“ (2.Kor 12,4). Er sah reale Dinge, aber es schien ihm unmöglich, es so zu formulieren, dass es nicht missverstanden wurde. Deswegen sollte auf den Vortrag des Geschauten noch eine Beurteilung durch die Gemeinde folgen, um die Botschaft anhand der Maßstäbe Jesu zu überprüfen.

Wer genau hinsieht, stellt fest, dass Texte der Bibel unterschiedlichen Rang und verschiedene Funktion haben. Texte können einen gleich hohen Rang haben wie die Maßstäbe Christi, z.B. Aussagen über die fünf fundamentalen Heilstatsachen, die zur Begründung lebendigen Glaubens genügen. Viele Texte haben aber auch einen geringeren Rang wie z.B. Texte mit vorläufiger Aussage, die später in der Bibel korrigiert oder neugefasst werden („Schatten-Texte“). Es gibt auch Texte mit dem Rang „Null“, die eigentlich nur zeigen, wie der Gläubige nicht handeln darf. Diese Texte dienen nicht als „Nahrung“ der Seele, sondern als „Impfstoffe“, die eine korrigierende Reaktion im Sinne Jesu hervorrufen sollen bzw. sie dienen zur Übung des Urteilsvermögens des Gläubigen (No-comment-Stil).

Dieser Denkansatz ist ein „Modell“, eine Denkmöglichkeit, für das gute Argumente sprechen, und kein Dogma. Mit diesem Modell ist es möglich, an der Vertrauenswürdigkeit der Heiligen Schrift festzuhalten und gleichzeitig offen zuzugeben, dass man bestimmte negativ wirkende Aussagen der Schrift kennt, sie nicht ignoriert, verschweigt oder verharmlost, aber sie mit niederem Rang einstuft, nicht eigenmächtig, sondern weil ein höherrangiges biblisches Prinzip den Gläubigen dazu autorisiert. Damit kann der Gläubige eine klare Grenze zur Propaganda ziehen – was ihn im Gespräch mit Andersdenkenden erheblich glaubwürdiger macht.

Ehrlichkeit ist aber kein Freibrief für Eigenmächtigkeit. Nach wie vor ist der Gläubige gut beraten, wenn er sorgfältig Distanz zu einer eigenmächtigen Entwertung biblischer Texte hält. Wir wissen genau, dass Jesus diese Entwertung, die in der materialistischen Theologie üblich ist, nie akzeptiert hätte. Der Gläubige kann sich davor schützen, indem er in seinem Denken die Grundsätze spiritueller Disziplin  beachtet.

Stärken: Auflösung von Widersprüchen im Gottesbild und in der Ethik durch möglichst genaue Untersuchung der Rangordnung biblischer Aussagen, Prüfung der Aussagen an dem wichtigsten Gebot, Identifizierung von unzulässigen Verstößen gegen diese Norm in Theologie und Seelsorge („giftige Theologie„) und Untersuchung der psychischen Folgen.

Schwächen: Nicht bekannt, da die Bewertung einer biblischen Aussage nicht anhand irrationaler Kriterien wie Tradition, Erwartungsdruck, Vorlieben erfolgt, sondern ein Wettstreit um die besseren Argumente durch Vergleich mit der Norm des höchsten Gebotes jederzeit möglich und erlaubt ist. Die Verpflichtung zu einem offenen Wettbewerb  ist die optimale Voraussetzung für die Zuverlässigkeit der gewonnenen Erkenntnisse..

 

4. Provisorisches Bibelverständnis (spirituelle Resonanz).

Wieviel Bibelverstehen ist möglich ohne Selbstreflexion? Offenbar wenig! So erfahren wir es jedenfalls aus der Bibel, die berichtet, dass der Apostel Petrus nicht nur ermahnt sondern sogar öffentlich bloßgestellt werden musste, weil er aus Menschenfurcht faule Kompromisse einging. (Gal 2,11 ff) Und das kurze Zeit nach seiner einzigartigen Pfingsterfahrung ! Was also gibt uns Grund zu der Annahme, dass ähnliches Versagen bei den Verfassern biblischer Texte ausgeschlossen werden kann? Was gibt uns Grund zu der Annahme, dass die Verfasser trotz bester Absichten nicht von einem ähnlichen Mangel an ehrlicher Selbstreflexion betroffen waren, sodass die ursprünglich mündliche und verlässliche Gottesoffenbarung erheblich durch die Befürchtung, Einfluss und Anhängerschaft zu verlieren, beeinflusst wurde? Durch die Jahrhunderte ist ein ähnliches Verhalten bei so ziemlich allen Gläubigen Normalität.

Eine Tendenz zur unreflektierten Verformung der ursprünglichen Botschaft besteht umso mehr, als etliche Verfasser biblischer Schriften gar nichts aus erster Hand erfuhren und nur auf das überlieferte Material frommer Erzählgemeinschaften zurückgreifen konnten. Selbst bei den Augenzeugen Petrus und Johannes lag zwischen Jesuserfahrung und schriftlicher Fixierung ein sehr langer Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, der geeignet war, die Erinnerung abzuschwächen. Sie besteht umso mehr als die Urzelle der Christenheit über Jahrhunderte stärksten Repressionen ausgesetzt war und sich von schärfsten Drohungen die beste Wirkung gegen den Mitgliederschwund versprach.

Auch die Vertreter der fehlerlosen Bibel erzeugen Angst vor dem Schwund des Glaubens und der Gemeinde, indem sie argumentieren, dass schon der kleinste Zweifel an einem Satz der Bibel einen „Dominoeffekt“ hätte, wie eine Lawine anschwellen und den Glauben immer fragwürdiger machen würde. Das trifft jedoch nur auf liberal-materialistische Hochschulen zu, wo ein Bezug zum lebendigen Glauben gar nicht erwünscht ist und Dozenten sich mit Bibelkritik profilieren müssen. Menschen dagegen, die echte Glaubensfreude erfahren haben, sind sehr daran interessiert, keinen Segen zu verpassen, der durch Bibelworte vermittelt werden könnte. Sie stellen allerdings mit der Zeit auch fest, dass es vereinzelt Bibelworte gibt, die nie irgendwelchen Segen vermittelt, sondern – im Gegenteil – im Laufe der Geschichte – verheerende Auswirkungen gehabt haben.

Ein starkes Indiz für eine nachträgliche Glättung und Verformung der ursprünglichen Aussagen ist die Tatsache, dass sich Jesus im überlieferten Text zu destruktiven Bibelstellen nicht äußert. Es erscheint nicht vorstellbar, dass die Jünger ihn dazu nicht befragt haben. Und es erscheint auch nicht vorstellbar, dass Jesus die Jünger ermutigt hätte, einen Befehl zum Massenmord an Frauen und Kindern, wie er in Num 31 Mose zugeschrieben wird, einen willkürlichen Massenmord, der in seiner Qualität den furchtbaren Verbrechen eines Heinrich Himmler in nichts nachsteht, in irgendeiner Weise als entschuldbar anzusehen.

Die ursprüngliche Gottesoffenbarung als historische Tatsache wird dadurch nicht in Frage gestellt. Aber biblische Aussagen müssen nun grundsätzlich eine Prüfung an dem Maßstab der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit durchlaufen, ehe sie als Orientierung weitergegeben werden können. Der Gläubige sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die ursprünglich mündliche Botschaft zu rekonstruieren. Immer wieder ist die Frage zu stellen: „Wie hätte Jesus in dieser Situation gehandelt?“

Vertreter der fehlerlosen Bibel behaupten, dass dieses Vorgehen keine Klarheit schaffe, sondern willkürlicher Spekulation Raum verschaffe. Dabei missachten sie die Tatsache, dass derselbe Geist, der Worte der Bibel inspiriert hat, auch im Gläubigen wirksam ist. Es kommt nur darauf an, ihm möglichst viel Wirksamkeit im Leben und Denken zu verschaffen. Je mehr sich der Gläubige in tätiger Liebe bewährt, desto sensibler wird sein Sinn für die Qualität von biblischen Aussagen, desto klarer wird sein spirituelles Urteilsvermögen (1Kor 2,15). Der Geist Gottes in ihm bringt Bibelworte hoher Qualität zum Leuchten, sodass es nicht schwerfällt zu erkennen, welche Bibelworte dem spirituellen Wachstum dienen und welche nicht (spirituelle Resonanz)

Damit fällt der quasi päpstliche Autoritätsanspruch des Buchstabens weg, auf den die fromme Hierarchie zu allen Zeiten so großen Wert gelegt hat, um ihren Einfluss zu sichern. Das ändert sich auch dadurch nicht, dass der buchstäbliche Text von ihren Verfassern mit quasi göttlichen Attributen versehen wird. Damit haben sie den Fokus ganz auf die Qualität der ursprünglichen Offenbarung gesetzt, während ihnen der eigene subjektive Beitrag vernachlässigbar gering erschien.

Wenn Jesus einst sagte: „ Mein Geist wird euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh 16,13), so ist damit nicht die aktuelle theologische Tradition heilig gesprochen, sondern eine Wirkung gemeint, die Korrektur biblischer Inhalte auch heute noch ermöglicht. Diese Sicht wird eindrucksvoll durch die Verheißung bestätigt, dass jeder Gläubige mit dem „Sinn Christi“ ausgestattet wird, einen Sinn für das Göttliche erwerben kann (1.Kor 2,16) und keine bevormundende Belehrung braucht (1Joh 2,27)
Insofern wäre der Satz in Joh 16,12 realistischer formuliert: „Mein Geist will euch (ihr alle bis heute, die ihr mir vertraut), in alle Wahrheit leiten.“

Er will – zweifellos! – aber diese Absicht kann auch durch eigene theologische Interessen gründlich vereitelt werden – denken wir nur an die blutigen Exzesse der Theologiegeschichte – bei tiefgläubigen Menschen! – , die auf den Wahn zurück zuführen ist, man habe mit seiner Sichtweise der Bibel schon das vom Geist beabsichtigte Ergebnis in Form absoluter Wahrheit erhalten.

Damit also der Geist seine Absicht wenigstens teilweise erreichen kann, muss ein gewisses Niveau bescheidener und vorsichtiger Selbstreflexion vorhanden sein. In einer traditionell buchstabenhörigen Theologie hat die Verheißung in 1Kor 2,16 überhaupt keine Bedeutung.

Dieser Denkansatz ermöglicht es dem gutwilligen Bibelleser, sich von Bibelstellen in einer glaubwürdigen Weise innerlich zu distanzieren, die Gottes Charakter bösartig oder unzuverlässig erscheinen lassen. Zugleich wird die Erpressung des Gewissens durch den Missbrauch von Bibelworten unwahrscheinlicher, da Gott eine eindeutig liebevolle Persönlichkeit zugetraut wird.

Nicht zuletzt ist ein großer Gewinn, dass nicht mehr gelogen, geheuchelt und verdrängt werden muss, um die Relativierung der Heilszusagen durch destruktive Bibelstellen zu verhindern. Inwiefern Heuchelei und Verdrängung? Haben grauenhafte Befehle, wie Frauen und Kinder wegen ihrer schlechten Verwertbarkeit abzuschlachten (Num 31), Frauen die Hände abzuhacken (Deu 25,11-12), Vergewaltigungsopfer zwangszuverheiraten (Deu 22,28-29), brutale Sippenhaft zu vollstrecken (Ri 7,24 ff), oder Aktionen Gottes wie unüberlegtes Handeln eines Menschen mit sofortiger Vernichtung zu ahnden (1.Chron 13,9 ff ), Todesstrafe trotz fehlendem Strafgesetz zu vollziehen (Apg 5,1ff), unversehens Vergebung zu versagen bei „Sünde zum Tode (1Joh 5,16-17) oder „mutwilliger Sünde“ (Hebr 10,26), nun einen stärkenden oder einen hemmenden Einfluss auf das Vertrauen?

ist die Frage zweitrangig? Wo doch alles mit dem Vertrauen steht und fällt?

Wenn solche Aktionen, die ungerecht, unmenschlich und willkürlich erscheinen und der Vernunft widersprechen, aber dennoch (den Behauptungen der Irrtumslosigkeitsdoktrin folgend) gutes und richtiges – wenn auch unverständliches – Handeln Gottes sein sollen, wie soll dann eine Einschätzung der Reaktion Gottes auf gravierend erscheinendes Fehlverhalten des Gläubigen heute überhaupt möglich sein? Wer will denn allen Ernstes behaupten, er könne sich in diese Art „Charakter“ zuverlässig „hineindenken“?

Seelsorger, die sich von der allzu menschlichen Irrtumslosigkeitsdoktrin nicht distanzieren, bleibt gar nicht anderes übrig als so zu tun als könnten sie es, wenn sie die seelische Katastrophe nicht mit ansehen wollen. Damit werten sie sich selbst als Vermittler der Heilsgewissheit auf. Fakt aber ist, sie müssen eine Gewissheit vortäuschen, die es auf dieser Basis nicht gibt. Ihre Beteuerungen sind Appelle zu verdrängen. Sie sind so fragwürdig, sodass das Gottvertrauen bestenfalls Optimismus bleibt.

Gehen wir aber davon aus, dass die Sammler biblischer Texte sich aus falscher Pietät gescheut haben, augenscheinlich verdorbenes Textmaterial auszusortieren, genau so wie sie sich auch heute scheuen, zB den Hebräerbrief am Evangelium zu prüfen (wie es Martin Luther empfohlen hat), so bleibt die Gottesvorstellung vor dieser Monstrosität bewahrt und etliche Christen haben es viel leichter, an die Zuverlässigkeit der Liebe Gottes zu glauben.

Auch die Außenwirkung (das „Zeugnis“) der Gemeinde verbessert sich erheblich, denn das Verharmlosen der genannten Abscheulichkeiten als Aktionen, deren liebevoller und gerechter Sinn „zur Zeit noch niemand verstehen könne“ wirkt so gründlich abstoßend wie die erbärmliche Unterwürfigkeit bildungsresistenter Menschen, die sich von einem übermächtigen Diktator die Liebe zur Wahrheit haben abkaufen lassen.

Stärken: Leicht handhabbare Entschärfung destruktiv wirkender Bibelstellen und Erleichterung der Bibellese ohne detaillierte Untersuchungen.

Schwächen: Keine bekannt.

 

5. Materialistisch-atheistisches Schriftverständnis.
Die Bibel ist nur Menschenwort. Sie enthält großartige Ideen der Mitmenschlichkeit, Liebe und Opferbereitschaft und gibt in vielerlei Hinsicht Denkanstöße zum Überdenken und Verbessern von Ethik und Lebensführung. Sie ruft religiöse Gefühle hervor, Gefühle der Hoffnung und des Trostes, die zur Bereicherung des Lebens beitragen. Über das Jenseits, über ein eventuelles Leben nach dem Tod vermittelt sie keine zuverlässigen Erkenntnisse.

Das letztgenannte „Bibelverständnis“ erhebt bisweilen auch den Anspruch, eine Version des  „christlichen Glaubens“ zu sein. Man hat guten Grund das zu bezweifeln, da die Heilstatsachen des christlichen Glaubens nicht anerkannt werden.

Stärken: (Einkommensquelle und Garant eines sicheren Arbeitsplatzes für Leute, die mit hohlen Phrasen gerne viel Geld verdienen)

Schwächen: spirituelle Armut und Trostlosigkeit.

Diese Internetseite befasst sich nur mit christlichen Bibelverständnissen.

Da Verunsicherung in Glaubensdingen schwer erträglich ist, ist eine Würdigung der Plausibilität der Annahmen sowie ein sachlicher Vergleich der Vor- und Nachteile dieser grundsätzlichen Annahmen schwierig. Von den unter Punkt 1 bis 4 genannten christlichen Bibelverständnissen tun sich Vertreter der Irrtumslosigkeit am schwersten mit der Versuchung zu unfairer Argumentation.

Hilfreich wäre es, mehr mit Fragen als mit Behauptungen zu argumentieren.

Um festzustellen, welches Schriftverständnis am besten den Maßstäben Jesu entspricht, muss man Vor- und Nachteile prüfen und offen ansprechen dürfen.

Ist die Irrtumslosigkeitsdoktrin wirklich am besten geeignet, vor Unglauben zu schützen?

Wie ist hier das Zeugnis der Glaubensväter zu bewerten?

Prüfe doch einmal, ob dich das prioritätenorientierte Bibelverständnis nicht viel effizienter und besser schützt!

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Artikel aktualisiert am 24.12.2024

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