Fragen zu den drei Qualitätsstandards Jesu

 

Fragen zur den drei Qualitätsstandards Jesu
Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit

Frage 1: Wie kann man erkennen, ob einem Gläubigen Barmherzigkeit (ελεος), die Jesus als erstes der wichtigsten Gebote in Mt 23,23 nennt, tatsächlich wichtig ist?

Frage 2: Warum wird “Gerechtigkeit” (δικαιοσύνη) mit “Liebe zum Recht” übersetzt? Ist “Liebe zum Recht” im Umgang mit dem Nächsten nicht eine typisch alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht mehr relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Aufforderung ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere “Gerechtigkeit” ist ?

Frage 3: Warum wird das Wort “Treue” (πιστις) in Mt 23,23 mit dem Attribut „wahr“ verbunden  und mit „Treue und Ehrlichkeit“ übersetzt?

 

Antworten

 

1. Wie kann man erkennen, ob einem Gläubigen Barmherzigkeit (ελεος), die Jesus als erstes der wichtigsten Gebote in Mt 23,23 nennt, tatsächlich wichtig ist?

“Barm-HERZ-ig” – Sein heißt:
seinen Mitmenschen “von Herzen” lieben zu wollen, ihn als Freund ansehen und behandeln und seine Nöte und Chancen mit den Augen eines Freundes sehen. (Mt 5,47 / Lk 7,34)

Lasst uns nicht lieben mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.” (1.Joh 3,18)

Glaubensvorbilder sind sehr wichtig, da es auch viel scheinbare Barmherzigkeit und geheuchelte Liebe gibt, die sehr leicht zur Nachahmung verführt.

Barmherzigkeit und Liebe ist z.B. nicht:

– Freundlichkeit als Belohnung für Anpassung an Machtstrukturen und an das eigene religiöse Ego
– Bevormundung anders denkender Christen “zu ihrem Besten”, die mit einem Mangel an Selbstkritik einhergeht
– soziale und missionarische Aktionen mit dem Ziel religiöser Selbstbestätigung

Gläubige beteiligen sich an vielfältigen missionarischen und sozialen Programmen, die in der Gemeinde organisiert werden und einen unverzichtbaren gesellschaftlichen Beitrag darstellen. Vielen Menschen erfahren auf diesem Wege Segen und Hilfe.

Andererseits dienen die Aktivitäten der Gemeindeleitung und der -mitarbeiter dazu, sich selbst zu präsentieren und die eigene Position zu legitimieren, was dem eigenen Einkommen und Einfluss sowie der Arbeitsplatzsicherung zugute kommt. So segensreich die Aktivitäten sein können, so wenig aussagekräftig sind sie mitunter, was die tatsächlichen Motive betrifft.

Deswegen kann es zu der paradoxen Situation kommen, dass ein Gemeindemitarbeiter, der sich vielfältig engagiert, dennoch mit einzelnen Menschen in der Gemeinde hartherzig und unbarmherzig umgeht. Das kann die hartherzige Verweigerung von Hilfe sein, die leicht zu leisten wäre, oder das willkürliche Verbot, die Gemeindemitglieder über Gefahren zu informieren, oder auch die unfaire und bösartige Behandlung eines Hilfesuchenden in der Seelsorge.

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehen Levit und Priester am Verletzten vorbei und die Auslegung hat immer wieder den Gedanken aufgegriffen, dass sich beide sehr wohl auf dem Weg zum Gottesdienst befunden haben können. Sie handleln nur innerhalb eines frommen Programms gottgemäß. Abseits dieses Programms reagieren sie aber unbarmherzig, sodass man die Frage nach ihren wirklichen Beweggründen stellen muss.

Es liegt im Interesse der Gemeinde, solche Vorfälle nicht als überflüssige Störung des Betriebs zu sehen und zu ignorieren, sondern sie als Chance zu sehen, geistliches Urteilsvermögen zu üben. Die Gemeinde wird daran erinnert, dass „Liebe ohne Heuchelei sein“ (Rö 12,9) soll und dass diese Liebe etwas Heiliges ist im Unterschied zur Freundlichkeit im eigenen Interesse.

Geht ein Gemeindemitarbeiter mit einem einzelnen Menschen unbarmherzig um, so sollte die Gemeinde diesem das Recht zugestehen, die Angelegenheit nach Mt 18,17 vorzubringen. Sie sollte ihm außerdem das Recht zugestehen, eine miserable Seelsorge zu protokollieren und der Gemeinde zur Beurteilung zu geben. Das Beichtgeheimnis schützt nämlich nur den Ratsuchenden.

Wenn nach der Ermahnung des Gemeindemitarbeiters wenig Einsicht zu sehen ist, sollten die Mitglieder nicht zögern, die Aufgabe einem geeigneteren Mitarbeiter zu übertragen. Sehr nachteilig ist es, wenn die Verfassung der Gemeinde eine Betrauung mit geringeren Aufgaben nicht zulässt, sondern die Gemeinde zu einer „Alles oder nichts“ – Lösung zwingt.

Da erfolgreiche Gemeindemitarbeiter rar sind, kann es äußerst schwierig sein, ihn in die zweite Reihe zu versetzen oder ihm gar zu kündigen. Leider ist es auch in vielen evangelikalen Gemeinden so wie in der Welt: letztlich zählt nur der Erfolg – auch wenn er nur mit Heuchelei zustandekommt.

Als Alternative zu einer undurchführbaren Alles-oder-Nichts-Lösung könnte ein ehrenamtlich besetztes Schiedsgericht nachdrückliche materielle Sanktionen verhängen oder sie von vornherein in einem geänderten Arbeitsvertrag unterschreiben lassen, um eine Wiederholung üblen Verhaltens unwahrscheinlicher zu machen.

In manchen Fällen wird aber auch das nicht durchführbar sein: es besteht die Möglichkeit, dass der erfolgreiche Mitarbeiter nun seinerseits mit Kündigung droht, falls die Gemeinde sein übles Verhalten nicht ignoriert. So manche Gemeinde wird sich tatsächlich erpressen lassen und den damit verbundenen Dauerzustand der Heuchelei in Kauf nehmen.

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2. Warum wird „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη) mit „Liebe zum Recht“ übersetzt? Ist „Liebe zum Recht“ im Umgang mit dem Nächsten nicht eine typisch alttestamentliche Forderung, die für die Gemeinde heute nicht mehr relevant ist? Wird sie nicht im Neuen Testament durch die Aufforderung ersetzt, sich zu Jesus zu bekehren, der unsere „Gerechtigkeit“ ist ?

Jesus warf den Pharisäern vor, dass sie nur religiös waren und „die Vorbereitung auf das Gericht (κρισις) für zweitrangig hielten.“ (Mt 23,23) Die richtige Vorbereitung auf das Gericht ist ein geheiligtes Leben, wozu immer faires, „gerechtes“ Verhalten gegenüber dem Nächsten gehört: „Hieran sind die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels zu erkennen. Jeder, der nicht Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) übt, gehört nicht zu Gott, und wer nicht seinen Bruder liebt.“ (1.Jo 3,10) Jesus forderte von seinen Jüngern, dass sie „in erster Linie nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) streben“ sollten. (Mt 6,33)

Damit hat er sicherlich nicht das Vertrauen auf seinen stellvertretenden Opfertod gemeint. Den hat er den Jüngern zwar einschließlich seiner Auferstehung angekündigt, aber sie verstanden es nicht. Deswegen waren sie ja auch nach seiner Hinrichtung völlig verzweifelt und hielten Jesus tatsächlich für gescheitert. Das Gespräch Jesu mit den Jüngern, die auf dem Weg nach Emmaus waren, zeigt dieses Nicht-Verstehen in aller Klarheit. (Luk 24,13 ff) Wenn nicht einmal die gutwilligen Jünger die Notwendigkeit des Sühnetodes begriffen haben, bevor Jesus von den Toten auferstanden war, wie sollten es da die Schriftgelehrten verstehen?

Gerechtigkeit“ und „Ungerechtigkeit“ bezog sich also auf etwas anderes, nämlich das, was ALLE Gläubigen des alten Bundes darunter verstanden: auf das faire Verhalten im Alltag.Gerechtigkeit“ ist also kein philosophisches Ideal, mit dem sich in erster Linie theologische Fachleute befassen, sondern etwas, das jeden angeht. Denn niemand möchte selbst ungerecht behandelt werden.

Jesus warf den Schriftgelehrten genau das vor, dass sie das Gebot der Fairness nicht respektierten, dass sie Kollekten einnahmen, durch die anderen das Nötige vorenthalten wurde (Mk 7,11: Korban) oder dass sie „der Witwen Häuser fraßen“ (Mt 23,14).

Das Neue Testament warnt die Gläubigen genauso wie das alte vor ungerechten Verhaltensweisen, die das Verständnis für die Wahrheit verdunkeln können. (Rö 1,18 / 2.Thess 2,10-12). Es fordert sie auf, Unrecht zu lassen und Recht zu tun. (Apg 10,35 / Kol 3,25 / 1.Jo 2,29 / 3,10) Ohne diese Einstellung ist eine Bekehrung Selbsttäuschung. (Jak 2,17) Durch unbeirrbares, boshaftes Festhalten am Unrecht schließt man sich selbst vom Reich Gottes aus: „Wisset ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Macht euch bitte nichts vor! “ (1.Kor 6,9)

Es gibt keine Liebe ohne Liebe zum Recht. Dass, was der unfair Handelnde als „Liebe“ missversteht, sind bestenfalls gute Manieren bzw. Umgangsformen. Sie lassen jemanden „lieb“ erscheinen, der in Wahrheit hart, lieblos und unbarmherzig ist.

Viele Gläubige werden hier zustimmen. Doch weit weniger Gläubige erkennen, dass sie auch dafür Verantwortung tragen, dass die von ihnen gewählte Gemeindeleitung diese unumstößliche Regel nach der Wahl weiter respektiert. Ist das nicht der Fall, wird also damit das gegebene Wahlversprechen, die Gemeinde im Sinne Jesu zu leiten, nachträglich gebrochen, dann kann die Gemeinde – um der Ehre Gottes willen – nicht dabei tatenlos zusehen. Vielmehr sollte dann baldmöglichst ein weiterer Wahltermin angesetzt werden mit einem ernstzunehmenden Kandidaten.

Leider betrachten immer mehr Gläubige die geistliche Einstellung des Bewerbers als zweitrangig. Viel wichtiger ist ihnen die Frage, ob er ein Zugpferd ist und viele Leute in die Gemeinde bringt. Herrscht diese Meinung in der Gemeinde vor, so ist sie bereit geistlich sehr krank und wird durch die Wahl noch kränker.

Wenn eine Gemeinde wächst auf Kosten von Wahrheit und Gerechtigkeit, dann ist es das Beste, wenn möglichst viele Gläubige abwandern und eine Gemeinde aufsuchen, wo sie lernen können, wie man ehrlicher und fairer mit dem Nächsten umgeht.

Die Weigerung der Gemeinde, eine Gemeindeleitung, die Unrecht tut, zurechtzuweisen, bloß weil sie beliebt und erfolgreich ist, wertet Gott als Verachtung seiner Person. (1.Sam 2,30 b) Deshalb traf den Prieser Eli am Ende eine ähnlich schwere Strafe wie seine Söhne, deren Fehlverhalten im Amt er nicht bestrafte.

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3. Warum wird das Wort „Treue“ (πιστις) in Mt 23,23  mit dem Attribut „wahr“ verbunden  und mit „Treue und Redlichkeit“ übersetzt? 

Wir haben „pistis“ eine Zeitlang mit „Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit“ übersetzt und wurden unlängst dafür kritisiert, dass bei dieser Übersetzung die Hauptbedeutung der „Treue“ zu wenig berücksichtigt wird. (Zum  Vorwurf der Verfälschung und zu den voreiligen Argumenten der Kritik siehe unseren Beitrag im Tagebuch)

Das Adjektiv πιστος bezeichnet eine Person, der man trauen kann und bedeutet glaubwürdig, zuverlässig, treu. (Quelle: www.zeno.org/Pape-1880/A/πιστοξ; Wilhelm Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Braunschweig 1914, 3.Aufl., Bd.2, Seite 620-621). Das Substantiv πιστις steht mit diesem Bedeutungsfeld in engstem Zusammenhang. In heutigem Griechisch wird πιστις „Glaube“ im Sinne von „Glaubwürdigkeit“ verwendet, ähnlich wie auch „Glaube“ im Deutschen nichts mit religiösem Glauben zu tun haben muss: Κατα την καλη πιστη „nach Treu und Glauben“, womit Seriosität und Ehrlichkeit im täglichen Geschäftsleben gemeint ist.

Jesus sprach nicht griechisch, sondern aramäisch mit seinen Jüngern.  In der hebräischen Übersetzung des NT, das dem Aramäischen sehr verwandt ist, (was man vom Griechischen nicht sagen kann) werden die Worte „mischpat“ (Gericht), „chesed“ (Barmherzigkeit) und „ämuna“ verwendet. „ämuna“ bedeutet in äußerlichem Sinn: „Festigkeit, Sicherheit“, im seelischen Sinn „Treue, Glauben“, aber auch „Wahrhaftigkeit“, „Zuverlässigkeit“. „Jafiach ämuna“  in Spr. 12,17 ist jemand, „der die Wahrheit spricht“ im Gegensatz zum falschen Zeugen; (Quelle: Wilhelm Gesenius, Hebräisches und aramäisches Wörterbuch über das AT, Heidelberg, 1987.)

Wir nahmen an, dass sich der Gegensatz zwischen Jesus und den Pharisäern in den drei wichtigsten Geboten am schärfsten und deutlichsten darstellt, m.a.W. dass die drei Punkte keine nebensächlichen Konfliktpunkte sind. Dass die Pharisäer gegen die erste Forderung in Mt 23,23, gegen die Barmherzigkeit, verstießen, leuchtete sofort ein, denn sie legten den Menschen unnötigerweise schwere, unerträgliche Lasten auf (Mt 23,4). Auch der Verstoß gegen die zweite Forderung, die Liebe zum Recht, war offensichtlich, denn die Pharisäer „fraßen die Häuser der Witwen“ (Mt 23,14) und nahmen unerlaubte Spenden entgegen (Mk 7,11: „Korban„). Durch beide Anklagen konnten sich die Pharisäer, gegen die sich die Rede in Mt 23 richtet, bis ins Herz getroffen fühlen.

Konnte man das auch von dem dritten Vorwurf, der Treulosigkeit sagen ? Die Pharisäer hatten sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. (Mt 23,1) Sie waren der Ansicht, dass sie es mit der Treue besonders genau nahmen. Der allgemeine Eindruck, den uns das NT vermittelte, dass die Pharisäer sehr stolz auf ihre Treue waren. Da ist der Pharisäer, der auf den Zöllner herabsieht und Gott alles aufzählt, was er an Gebotserfüllung leistet. (Lk 18,11 ff) Er meint es wirklich so, wie er es sagt und ist aufs Höchste mit sich zufrieden. Wie Gott tatsächlich über ihn denkt, bekommt er gar nicht mit. Auch Paulus war vor dem Damaskuserlebnis sehr stolz auf seine Werkgerechtigkeit (Phil 3,4-5).

Jesus hat die Pharisäer wegen ihrer Ehescheidungspraxis konkret der Treulosigkeit beschuldigt. Hier hatten sich die Pharisäer auf Mose berufen, der Ehescheidung nicht verbot und Segen jedem verhieß, der das mosaische Gesetz befolgte. Der Prophet Maleachi allerdings hatte sich Jahrhunderte später ganz konkret zur Ehescheidung geäußert und sie unter den Unsegen Gottes gestellt. (Mal 2,14-16) In der Tradition wurde seine Warnung nicht beachtet: Den Alten wurde gesagt „Wer sich von seinem Weibe scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.“ (Mt 5,32). Somit war für Jesus leicht, nachzuweisen, dass die Pharisäer in der Ehescheidungsfrage gegen den Willen Gottes verstießen. Für die Ehe zwischen Gläubigen wünscht sich Jesus, dass sich beide Partner die gegenseitige Treue bewahren können. Auch im Alter soll diese Liebe bestehen bleiben, ohne Konkurrenz fürchten zu müssen.

Römer 2,16 eröffnet eine umfassendere Beurteilung der Treue, indem die Beurteilung des Herzens am Tag des Gerichts einbezogen wird. Die Anklage nennt ein ganzes Spektrum möglicher Verstöße und fordert zur Selbstprüfung auf: „Nun lehrst du andere, und lehrst dich selber nicht; du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst; du sprichst man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe; dir greuelt vor den Götzen, und du raubest Gott, was sein ist; du rühmst dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes…“ (Rö 2,21-22) Die zahlreichen Konflikte der Pharisäer mit Jesus zeigen, wie unterschiedlich die Formen der Treulosigkeit sein können. Immer wieder steht der Gläubige vor der Frage: Wahre Treue oder nur vermeintliche Treue ?

Mt 23,23 ist eingebettet in eine Aufzählung frommer Tricks bzw. in die Verdammung der Heuchelei. Das ist die Stoßrichtung des kompletten Kapitels: „Meidet den Sauerteig der Pharisäer, die Heuchelei !“ (Lk 12,1) Bemüht euch um Selbsterkenntnis und Echtheit !

Da Jesus Mt 23,23 als wichtigstes Gebot authorisiert hat, kann dieses Gebot dazu dienen, den Rang weniger wichtiger Gebote zu bestimmen. Diese Bestimmung ist unbedingt nötig, um schädliche Auslegung entlarven zu können, wie wir beispielhaft unter „giftige Theologie“ zeigen.

Solche Auslegung wird den Gemeinden durch etablierte „Schriftgelehrte“ vermittelt, denen ein theologisches Auslegungsmonopol zuerkannt wird. Sie haben sich nunmehr „auf den Stuhl“ Jesu und der Apostel gesetzt.

Heute haben sich die Schwerpunkte der Treulosigkeit verschoben. Bei Vertretern des buchstabenhörigen Auslegungsmonopols ist es heute unstrittig, dass Ehepartner einander lebenslang treu sein sollen. Im Gegenteil: das Pendel ist gefährlich nach der anderen Seite ausgeschlagen: viele evangelikale sowie katholische Bibellehrer vertreten heute eine lebensfeindliche, überzogene Sexualmoral. Gerade dieser Rigorismus wird als „Beweis“ für die außerordentliche Glaubenstreue gesehen  und vergiftet den Sinn auch anderer eigentlich sinnvoller Gebote.

Wir haben immer noch etablierte „Schriftgelehrte“ wie zur Zeit Jesu, die sich „auf den Stuhl“ (Mt 23,2) gesetzt haben. Heute ist es nicht mehr der Stuhl des Mose, sondern der Stuhl Jesu und der Apostel. Doch haben sie auch dieselbe Autorität ?

Das große Problem heute in angeblich „bibeltreuen“ Gemeinden ist nicht eine laxe Ehescheidungspraxis, sondern vielmehr eine starke Neigung zur Unehrlichkeit. Bemühungen, über die rangbestimmende Funktion von Mt 23,23 zu informieren, werden behindert. Lügen zur Sicherung der eigenen Position werden gar nicht mehr als Sünde wahrgenommen.  Miese Tricks zur Sicherung des Einflusses, Angst vor ehrlichen Fragen, Machtmissbrauch, Duldung von Unrecht und Bevormundung ohne schlechtes Gewissen. Besonders skandalös ist das Schweigen vieler evangelikaler Seelsorger zu typischen Gefährdungen der seelischen Gesundheit durch wortwörtliches Missverstehennicht selten verbunden mit der Lüge, Gewissensnöte würden nur durch „eigenmächtige Hinzufügungen zum biblischen Text“ entstehen. All diese Sünden sind heute ganz selbstverständlich an der Tagesordnung.

Wir brauchen in dieser neuen Situation Orientierung durch die Heilige Schrift.

Es ist nachvollziehbar, dass sich Gläubige, die sich mit der Barmherzigkeit und der Liebe zum Recht keine große Mühe geben, desto mehr auf ihre Glaubenstreue zugute halten. Das aber, was sie für Treue halten, ist bei genauerem Hinsehen einfach geistige Unbeweglichkeit, Denkfaulheit, Selbstzufriedenheit, Angst vor notwendigen Verbesserungen, Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid von Mitchristen und der Wunsch, nicht durch zu gründliches Nachdenken auf eigene Mängel hingewiesen und beunruhigt zu werden. Als Treue tarnt sich auch blindgläubige Unterwürfigkeit („Nibelungentreue“) gegenüber einer Gemeindeleitung , die Unrecht tut. Es gibt wohl kaum einen Begriff, der so beliebig gefüllt und missbraucht werden kann wie der Begriff „Treue“. Was ist von der „Treue bis in den Tod“ der christlichen Kreuzfahrer oder von ähnlichen Treueschwüren in pseudo-christlichen rassistisch eingestellten Organisationen im Süden der USA zu halten ? Trotz eines Höchstmaßes an Hingabe und Engagement handelt es sich um Perversionen der Treue, die Jesus meinte.

Allezeit treu sein kann man nur Inhalten und Personen, die wahr und deshalb verlässlich sind. Nur, was wahr ist, wird immer zuverlässig sein. Wahrheit und Verlässlichkeit finden wir bei Jesus: „wir sahen seine Herrlichkeit – voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14) Um diese Herrlichkeit zu sehen, muss der Gläubige selbst Heuchelei meiden und nach ehrlicher Selbsterkenntnis streben. Deswegen gehören Verlässlichkeit und Treue immer mit der Bemühung um Ehrlichkeit zusammen. Nur diese Treue ist „wahre“, echte Treue – weil sie den Charakterzügen Jesu nacheifert.

Jesus ging es um Echtheit und Glaubwürdigkeit. Der Apostel Johannes sprach in seinen Briefen von der Notwendigkeit „in der Wahrheit zu sein“ (Jo 17,19 / 1.Jo 1,6 / 2.Jo 1,4 / 3.Jo 1,3). Dieses Grundmotiv durchzieht alle Evangelien und Briefe, und schließt das Festhalten an dem, was als wahr erkannt worden ist, natürlich ein. Eph 5,9 bringt den Sinn des dreifachen Gebotes in Mt 23,23 besser zum Ausdruck: „die Frucht des Lichtes ist … Güte (αγαθωσυνη), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) und Wahrheit ( αληθεια).“

Deswegen verbinden wir den Begriff „Treue“ mit dem Attribut „wahr“ und übersetzen mit „Treue und Redlichkeit“, oder mit „Verlässlichkeit“ oder „Ehrlichkeit“, um gleich daran zu erinnern, dass es auch viel vermeintliche (!), d.h. falsche Treue gibt, der die Ehrlichkeit fehlt.

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Artikel aktualisiert am 25.04.2018

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