Eine materialistische Theologie legt sich gedanklich auf den Grundsatz fest, dass nur die sichtbare materielle Wirklichkeit existiert: „Ich glaube nur, was ich sehe“. Sie hält damit Manifestationen einer unsichtbaren spirituellen Wirklichkeit (Wunder) für prinzipiell unmöglich. Somit gab und gibt auch keine Auferstehung. Berichte darüber sind religiöse Phantasie. Jesus wird reduziert auf die Rolle eines religiösen Lehrers, der moralische Richtlinien vermittelt. Da es keine Rechenschaft nach dem Tode gibt, können diese Richtlinien nur Anregungen sein. Der biblische Text lässt sich als Steinbruch für eine individualistische Lebensphilosophie nutzen. Sie geht oft mit Wissenschaftsgläubigkeit einher.
Für Theologen wie Ernst Troeltsch war das “Mittel, das Kritik überhaupt erst möglich macht, die Anwendung der Analogie.” (zit. in Armin Sierszyn, Die Bibel im Griff, Brockhaus 1987, S.23). Die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen wurden in die Bibel “hineinprojiziert”. Sie legten fest, was man überhaupt für möglich halten durfte. Damit wurde der Zweifel an allem Übernatürlichen, an Wundern und an der Erschaffung der Welt zu einer theologischen Mode, die mit wissenschaftlichem “Niveau” aufs engste verbunden schien.
Doch wissenschaftlich daran ist gar nichts. Denn ein Beweis, dass es weder Gott noch Wunder gibt, kann es nicht geben.
Im Gegenteil: Physiker erkennen heute, dass das Zustandekommen des Universums, einer bewohnbaren Erde und des Lebens auf so zahllosen Unwahrscheinlichkeiten beruht, dass man von einem unerklärlichen Wunder sprechen kann. [1] Um dennoch keine planende Intelligenz hinter allem annehmen zu müssen, ist es üblich geworden, die Existenz von zahllosen Universen („Multiversen“) anzunehmen, die ohne Verbindung zueinander existieren. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass diese zahllosen Universen einen Raum für zahllose Versuche liefern, so dass summa summarum in irgendeinem Universum alle diese Wunder gerade zu zwangsläufig passieren müssen. Für die Existenz der Multiversen gibt es nicht den geringsten Beweis. Es ist eine Wunschvorstellung: eine Art Anti-Wunder-Glaube. Aber man hält sich damit wenigstens das Thema „Wunder“ vom Leib.
Eine materialistische Theologie ist – nach ihrer sachlichen Substanz beurteilt – keine ernsthafte Gefahr für Menschen, die sich für den Glauben an Jesus Christus entschieden haben. Ihre Leugnung übernatürlicher Ereignisse wie Wunder und Auferstehung ist reine Glaubenssache. Ob man so denkt oder auch nicht, ist das Ergebnis einer persönlichen Vorliebe, die andere zu nichts verpflichtet. Die materialistische Theologie hat auf die großen Krisen des Lebens, insbesondere auf Krankheit und Tod, keine sinnstiftende, heilsame Antwort. Der spirituelle Nutzen ist gleich Null. Sie ist also ein religiöses „Eigentor“. Dennoch hat das bibeltreue Schriftgelehrtentum im Interesse einträglicher Arbeitsbeschaffung aus diesem zahnlosen Papiertiger ein großes Schreckgespenst gemacht.
Eine spirituell fruchtbare Interpretation der Heiligen Schrift wird die Bibel als einzigartige, von Gott an den Menschen gerichtete Botschaft wahrnehmen. Diese Botschaft hat das erklärte Ziel, das Vertrauen auf Gott zu ermöglichen und zu festigen. Jesus Christus wird dabei dem Gläubigen als die „Mitte der Schrift“ und als ihr sinnvoller Interpretationsmaßstab bekanntgemacht: „wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (Joh 14,9) Die Arbeit an der Bibel hat das Ziel, diese Mitte der Schrift hell erstrahlen zu lassen, und sie nicht durch den trivialen Horizont allzu menschlicher Vorstellungskraft – z.B. durch die müßige Frage, ob es Wunder gibt oder nicht – zu begrenzen.
Eine spirituell fruchtbare Betrachtungsweise wird immer versuchen, die Bibel selbst reden zu lassen, ohne ihr mit eigener Weltanschauung ins Wort zu fallen.
Eine spirituell fruchtbare Betrachtungsweise wird schon gar nicht versuchen, mit Lügen und Manipulationen ein Gegengewicht zu schaffen, sozusagen „den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben“. Denn auch eine fromme Lüge ist und bleibt eine Lüge. Lügen bauen Vertrauen vielleicht kurzfristig auf, langfristig zerstören sie es.
Einflussreiche und weithin bekannte Theologen verbinden mit einer bibeltreuen Einstellung automatisch eine undifferenzierte Fehlerlosigkeitsdoktrin. (Bibeltreue im Sinne der Chicago-Erklärung von 1978.) Diese Position, die nur mit Abschottung, Verdrängung und Lüge zu halten ist, wird in vielen Gemeinden als die für einen gläubigen Menschen einzig mögliche und daher verbindliche Sichtweise präsentiert.
Hat es seit 1978 wirklich keine gravierenden Fortschritte in dieser wichtigen Frage gegeben? O, ja! Doch hofft man bei etlichen Theologen, die es eigentlich besser wissen müssten, vergeblich auf eine ehrliche Antwort. Wer redet schon gerne darüber, wenn die Konkurrenz besser ist. So bleiben viele Gläubige schlecht informiert.
Das Konzept der Bibeltreue kann auf der Basis eines prioritätenorientierten Inspirationsmodells erheblich verbessert werden. (Bibeltreue – Update 2.0)
[1] Anschaulich beschrieben in Bill Bryson, Eine kurze Geschichte von fast allem, Goldman Verlag.