30. Behauptung: “Ein Christ darf nicht vor Gericht gehen, wenn ihm ein anderer Gläubiger geschadet hat. Andernfalls sündigt er und wird dafür von Gott bestraft.”
In der Tat sagte Paulus: „Wenn jemand von euch mit einem Gläubigen Streit hat, wie bringt er es dann fertig, vor das Gericht der Ungläubigen zu gehen, anstatt sich von den Heiligen Recht sprechen zu lassen?“ (1.Kor 1,6 / NeÜ) Dennoch ist obige Behauptung ein grober Fehlschluss, der durch oberflächliche, am Buchstaben festhängende Interpretation zustandekommt. Achten wir darauf, dass das ganze Thema mit der Aufforderung beginnt, dass sich die Gemeinde mit einer fairen Entscheidung bewähren soll.
Zugleich scheint Paulus die Inanspruchnahme der staatlichen Justiz zu verbieten: “Wie könnt ihr nur bei diesen alltäglichen Dingen solche Menschen über euch Recht sprechen lassen, die in der Gemeinde nichts gelten? Ihr solltet euch schämen!” (1.Kor 6,4 / NeÜ) Diese Aussage ist nach dem Glaubensbekenntnis bibeltreuer Gemeinden wie alle anderen Aussagen der Bibel “völlig zuverlässig!”Und viele Gläubige ziehen aus diesem Satz den Schluß, dass die Inanspruchnahme des Staates Sünde ist.
Doch inwieweit kann die Gemeinde staatliche Rechtsprechung ersetzen? Hat Paulus das wirklich gemeint? Gerade bei schweren Schäden ist eine schnelle, möglichst objektive Beweissicherung notwendig, auf die die Interessen des Schädigers keinen verfälschenden Einfluss nehmen dürfen. Ein entsprechend hoher angemessener Schadenersatz führt evt. zu einem erheblichen Verlust an materieller Lebensqualität bei dem Schädiger und kann deshalb nur mit Hilfe des Justizapparates erzwungen werden.
Die Gemeinde verfügt über derartige Zwangsmittel nicht. Sie kann sich nur aufs Bitten und allenfalls auf die Androhung des Ausschlusses beschränken. Die Unwirksamkeit dieser Mittel bei hohen Schadenersatzforderungen ist vorhersehbar. Wenn dem Gläubigen verwehrt wird, sein Recht vor Ablauf der Verjährungsfrist wahrzunehmen, wird es sehr wahrscheinlich untergehen.
Und dennoch werden sich Gläubige in ihrem Gewissen an die fragwürdige Interpretation gebunden fühlen.
Dieses Dilemma hat in vielen bibeltreuen Gemeinden dazu geführt, dass man sich so verhält, als ob Paulus gar nichts gesagt hätte. Die ersten 6 Verse des Kapitels werden ein “unerforschlicher” weißer Fleck, über den der Gläubige möglichst nicht nachdenken soll. Wenn man über 1.Kor 6 predigt, dann pflegt man man automatisch bei dem Vers 7 zu beginnen: “Warum lasst ihr euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber benachteiligen?”
Infolgedessen wird ein geschädigter Bruder, der sein Recht vor Gericht sucht, manchmal mehr als der Schädiger kritisiert, vielleicht sogar als “Schalksknecht”, der die geschenkte Vergebung mit Undank vergelten würde (Mt 18,23 ff), beschimpft. Man lässt dem Geschädigten nicht nur auf seinem Schaden sitzen, sondern sorgt auch noch dafür, dass er sich für seinen Wunsch nach fairem Ausgleich schuldig fühlt, anstatt an das Gewissen des Täters zu appellieren.
Wenn Gläubige mit diesem Ergebnis zufrieden sein können, so wird deutlich, wie sehr das Urteilsvermögen durch ein „buchstabenhöriges“ Bibelverständnis verbogen werden kann, mit dem man sich die Anstrengung des Denkens und der Liebe erspart. Die halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge!
Nehmen wir das Anliegen des Paulus ernst: Ihm geht es hier um die Würde der Gemeinde vor der Welt. Zweifellos wird mit dem Verbot, vor Gericht zu gehen, ein fragwürdiges Verhalten von Christen vor Gericht vermieden. Doch damit ist der Fall nicht erledigt. Irgendwann wird die weltliche Öffentlichkeit doch erfahren, wie Unrecht in der Gemeinde ersatzweise geregelt wird. Wenn diese „Regelung“ so geschieht, wie es der buchstabenhörigen Sicht entspricht, ist da nicht die Schande noch viel größer? Denn jetzt sind es nicht mehr zwei Menschen, die sich um etwas streiten und sich damit die Blöße geben, dass sie von Materiellem nicht so unabhängig sind wie es ihr Meister Jesus war. Jetzt kommt die ganze Gemeinde in Verruf. Sie steht vor der Welt da als eine Gemeinschaft der Heuchler, die gleichgültig zusieht, wie das Recht untergeht, die dem Schuldigen, der nichts wiedergutmacht, Vergebung zuspricht und ihn tröstet und den Geschädigten, der Unrecht repariert haben möchte, auch noch beschimpft. Und zu allem auch noch meint, die Welt zu liebevollem Verhalten ermahnen zu müssen. Wahrlich: die Schande könnte kaum größer sein! Das kann doch Paulus unmöglich gemeint haben!
„Über alles aber die Liebe“ (Kol 3, 14) Bedenken, wir, was im Sinne der Liebe ist, so sehen wir klar! Lieblos ist es, den Bruder mit seinem Schaden allein zu lassen. „Wenn ein Glied des Leibes leiden, so leiden die anderen mit.“ (1.Kor 12,26). Dazu werden bedauernde Worte des Mitgefühls kaum ausreichen, denn Liebe geschieht „nicht mit der Zunge, sondern mit der Tat und Wahrheit.“ (1.Joh 3,18) Das heißt ja wohl, dass die Geschwister helfen, den Schaden mitzutragen, dessen Reparatur sie dem Verursacher nicht zumuten wollen. Vielleicht hat sich Paulus bei diesen Zeilen an die schönen Zeiten der Urgemeinde erinnert, in der es gar kein Privateigentum gab und „alle alles gemeinsam besaßen“ (Apg 4,32). Dies wäre wahrlich eine Lösung, bei der die Würde der Gemeinde gewahrt bliebe!
Und doch wissen wir, dass die Gläubigen später dem Beispiel der Urgemeinde nicht gefolgt sind. Paulus beklagt im Brief an die Philipper, dass ihm mit diesem Beispiel der völligen Selbstlosigkeit eigentlich nur sein Freund und Schüler Timotheus geblieben war: „allen anderen sind in erster Linie ihre eigenen Angelegenheiten wichtig und nicht die Sache unserers Herrn Jesus Christus.“ (Phil 2,21) Hier sind die Voraussetzungen der Urgemeinde, in der alle ein Herz und eine Seele waren, gar nicht mehr gegeben.
Oh Paulus, wo warst du in diesem Augenblick? Er war wieder allen weit voraus, schon beim Weltgericht, in das er hat hineinschauen dürfen. Und da sah er zu seinem Erstaunen, dass Christen zu Richtern im Weltgericht bestellt wurden, dass sie sogar Engel richteten. (1.Kor 6,3) Diese Vision mag ihn so beschäftigt haben, dass er darüber gänzlich vergaß, was er den Gläubigen in Korinth wenige Kapitel früher in demselben Brief (!) geschrieben hatte: „seht eure Berufung an, liebe Brüder. Unter euch gibt es nicht viel Menschen, die nach den Maßstäben der Welt weise sind… sondern was töricht …und was schwach ist nach dem Maßstab der Welt, das hat Gott erwählt .“ (1.Kor 2,26+27). Das Christentum zieht nun in erster Linie einfache Leute an, die in der Welt nichts gelten, und wenn es einmal jemand anzieht, der in der Welt viel gilt, so wird diesem vorher die Erkenntnis geschenkt werden, dass Gott anders als die Welt über ihn urteilt. (Phil 3,7)
So ziehen wir hier den Schluss, dass die Ermahnung des Paulus im buchstäblichen Sinn gar keinen Sinn macht. Sie ist undurchführbar. Zumindest hat er – wie andernorts auch – sehr missverständlich formuliert.
Praktikabel wird die Ermahnung allenfalls, wenn wir den Schwerpunkt des Abschnitts auf Vers 2 legen: “… warum betrachtet ihr euch als unzuständig für solche Bagatellen ?” Das griechische Wort “ελαχιστων” bezeichnet “Kleinigkeiten“! Sogar wegen Kleinigkeiten, die man mit ein bischen Weisheit vernünftig regeln könnte, rennen die Gläubigen zum Zivilgericht. Und dann beschimpfen sie sich womöglich noch vor den weltlichen Richtern als unwürdig, zur “Gemeinschaft der Heiligen” zu gehören. Welchen Schluß können die Richter und das Publikum im Gerichtssaal daraus wohl ziehen? Sie können daraus doch nur schließen, dass das ethische Niveau in der “Gemeinschaft der Heiligen” sehr gering sein muss. Was für ein erbärmliches Zeugnis! Diese “Schande” will Paulus der Gemeinde ersparen.
Was nun schwerwiegende Fälle betrifft, die keine „Kleinigkeiten“ sind – sollte Paulus nicht wissen, dass der Staat das Recht des einzelnen auf effiziente Weise zu schützen vermag ? Andernorts betont er nämlich sehr wohl die Aufgabe des Staates, im Auftrag Gottes vor Unrecht zu schützen! “Jede Regierung … steht ja zu deinem Besten im Dienst Gottes. Tust du aber Böses, hast du allen Grund, sie zu fürchten, schließlich ist sie nicht umsonst die Trägerin von Polizei- und Strafgewalt. Auch darin ist sie Gottes Dienerin. Sie zieht den Schuldigen zur Verantwortung und vollstreckt damit Gottes Urteil an denen, die Böses tun.” (Rö 13,4) Wenn die Regierung das im Strafrecht so vortrefflich tun kann, dann wird das in zivilrechtlichen Konflikten nicht anders sein.
Jesus argumentiert ähnlich: “Wenn du jemand eine Schuld zu bezahlen hast, einige dich schnell mit deinem Gegner, solange du noch mit ihm auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird er dich dem Richter ausliefern, und der wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, und du kommst ins Gefängnis. Ich versichere dir, du kommst dann wieder heraus, wenn du den letzten Cent bezahlt hast.“ (Mt 5,25-26) Auch Jesus war die Effizienz der weltlichen Justiz gut bekannt und er bewertete diese Effizienz nicht negativ. Vielmehr empfiehlt er: “Einige dich schnell mit deinem Gegner!” Ja, für Jesus hat die Einigung mit dem Geschädigten sogar Vorrang vor einem Opfer, das man ins Gotteshaus bringt: “Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und es fällt dir dort ein, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder! Dann komm und bring Gott dein Opfer.” (Mt 5,24)
Paulus will die Gemeinde nicht nur davor bewahren, sich vor weltlichen Richtern lächerlich zu machen. Er will sie auch herausfordern. Jawohl, göttliche Weisheit kann auch in schlimmen Fällen die Not erheblich lindern. Es ist gar nicht einzusehen, dass schweres Unrecht, das zwischen Geschwistern steht, unbearbeitet und unkommentiert stehen bleibt. Die Gemeinde kann durchaus ein seriöses Schlichtungsverfahren einrichten, in dem sich geistliche Weisheit als wichtige Ergänzung zur weltlichen Rechtsprechung bewähren kann und in dem Maßnahmen gegen Befangenheit und Willkür getroffen werden – so wie es man es von einem weltlichen Verfahren ganz selbstverständlich erwarten darf.
Deshalb tritt gerade auch in Fällen, in denen es nicht um Kleinigkeiten geht, neben die weltliche Rechtsprechung die seelsorgerliche Klärung in der Gemeinde. Die Konfliktgegner müssen die Möglichkeit erhalten, sich zu versöhnen und den Groll gegeneinander zu überwinden. Die Gemeinde ist in der Pflicht, Gottes Weisheit für diese Aufgabe in Anspruch zu nehmen. (Spr 4,5 / Kol 2,3) Denn sie darf sich hier nicht entziehen – auch wenn der Erfolg manchmal hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurückbleibt.
Dieses nicht zu tun, hieße Unrecht zu dulden – und das widerspricht einer durch beide Testamente gehenden grundsätzlichen und wichtigen Aussage der Schrift. Schon im Alten Testament wird wieder und wieder betont, dass die Gleichgültigkeit gegenüber Unrecht in der Gemeinschaft ein Kennzeichen gottloser Gesinnung ist. “Was zertrampelt ihr meine Vorhöfe… ihr kommt zu den Festen zusammen, aber ich verabscheue sie… betet soviel ihr wollt: ich werde nicht zuhören… lernt wieder Gutes zu tun ! Setzt euch ein für eine gerechte Rechtsprechung, helft den Rechtlosen, den Witwen und Waisen gegen ihre Bedränger!” (Jes 1,12 ff) “Hört auf mit dem Geplärr eurer Lieder, ich mag eure Musik nicht hören! Bemüht euch endlich um ein faires Miteinander! Die Liebe zum Recht soll das ganze Land durchströmen wie ein mächtiger Fluss!“ (Amos 5,23-24)
Dem entspricht die abschließende Warnung des Apostels, dass “ungerechte Menschen” gar nicht zur Gemeinde gehören, auch wenn sie das meinen, auch wenn andere in der Gemeinde das meinen: “Wisst ihr denn nicht, dass ungerechte Menschen keinen Platz im Reich Gottes haben werden? Täuscht euch nicht!” (1.Kor 6,9)
Der Vers “Warum lasst ihr euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber benachteiligen?” (V.7) hat deshalb das vergleichsweise geringste (!) Gewicht im Text. Paulus richtet ihn auch nicht an die Geschädigten, sondern an die Täter, denn er fährt fort: “Stattdessen tut ihr selbst Unrecht und benachteiligt andere – und das unter Brüdern!” (V.8)
Die übliche Theologie unterstellt dem Vers 7 beharrlich das größte Gewicht im Absatz. Dadurch wird der ganze Text so unsinnig, dass er zum weißen, unerforschlichen Fleck geworden ist. Gegenüber Unrecht und Schädigung gleichgültig zu sein, zerstört die Einheit des Leibes Christi: “wenn ein Körperteil leidet, so leiden alle anderen Teile mit“. (1.Kor 12,26) Was bleibt denn davon noch wahr? Es wird übelste Propaganda!
Somit existiert das Dilemma des “Entweder – Oder” gar nicht. Wenn wir uns den lebensfördernden Sinn (Mt 4,4) von 1.Kor 6 bemühen wollen, dann werden wir erkennen, dass in vielen Fällen beide Alternativen notwendig sind: sowohl die Justiz – als auch die seelsorgerliche Klärung.
Meines Erachtens ist der Verfasser von den Fähigkeiten und der Objektivität der staatlichen Justiz zu sehr überzeugt. Das mag meistens zutreffen, aber immer nicht. Am heutigen 20. Jahrestag der „Brandkatastrophe der Gletscherbahn Kaprun 2“ las ich den entsprechenden Artikel in Wikipedia. Hier findet man ein Beispiel von gar nicht mal so wenigen, wie sich die Justiz bei bestimmten Interessenskonflikten verhält. Ich habe mich mit solchen Themen jahrzehntelang beschäftigt. Also der Gang zur Justiz bzw. zu den Gerichten ist nicht zu selten ein zweischneidiges Schwert, vielleicht rät Jesus in Mt. 5,25-26 auch deshalb davon ab.
Rechtsanwälte arbeiten nicht selten nur dann sorgfältig, wenn sie auf der Basis einer Honorarvereinbarung tätig sein können; den Differenzbetrag zur Vergütungsverordnung für Rechtsanwälte zahlen die Rechtsschutzversicherungen meines Wissens nicht. Also wer sich auf die Gerechtigkeiten in dieser Welt verlässt, der kann verlassen sein und das auch nicht selten.