Verletzungen unversorgt lassen?

 

Urteilsvermögen wird durch Übung gestärkt.

Wenig Urteilsvermögen hat, wer alles gedankenlos hinnimmt.

Macht euch nicht mitschuldig an finsteren Machenschaften. Helft vielmehr das Böse in der Gemeinde aufzudecken.“ (Eph.5,11 ff)

 

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Bearbeitetes Foto / Original gefunden in wikicommons / (c) Giovanni Dall’Orto


Es geht um ein einfaches mitmenschliches Verhalten: Nicht wegschauen, wenn in der Gemeinde jemand Schaden erleidet! Doch leider ist dieses wichtige Gebot in vielen evangelikalen und pietistischen Gemeinden  weithin vergessen. Dabei kann man schon sehr viel vorbereitend tun, dass solche Fälle nur selten vorkommen…

1. Ist das wirklich wahr ?
2. Naheliegende Fragen …
3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist …
4. Eine Utopie: das bibelgemäße Schichtungsverfahren
5. Evangelikale Illusionen – unverbesserlich ?

 

Wir wollen uns einmal einen typischen Fall anschauen, um Urteilsvermögen zu üben …

1. Ist das wirklich wahr ?

Es war einmal ein Mensch. Er bekehrte sich und wurde gläubig. In einer bibeltreuen Gemeinde. In allen bibeltreuen Gemeinden, die er kannte, ver­sicherte man ihm, dass die Bibel Gottes Wort und „völlig zuverlässig“ sei. Nun geschah es, dass ihm ein Mitchrist aus einer anderen Gemeinde einen schlim­men Schaden zufügte und sich nicht weiter darum kümmerte. Normalerweise bringt man den Streitfall vor Gericht. Er aber konnte das nicht tun, denn in der Bibel hatte er gelesen, dass das eine „schändliche Sünde“ sei. (1.Ko 6,5) Die Bibel sagte ihm, er sollte einen Rechtsstreit vor „die Weisen“ der Gemeinde bringen. Sehen wir uns die betreffende Bibelstelle einmal genau an!

Wie kann jemand von euch wagen, dass ihr als Christen euren Rechtsstreit vor ungläubigen Richtern austragt, anstatt vor Menschen, die zur Gemeinschaft der Heiligen gehören? Wisst ihr nicht, dass die Heiligen einmal über die Welt richten werden? Müsstet ihr dann nicht erst recht eure Rechtsstreitigkeiten unter euch regeln können? Habt ihr vergessen, dass wir sogar über Engel richten werden? Wie viel mehr über Dinge des täglichen Lebens. Müsstet ihr dann nicht erst recht eure alltäglichen Streitigkeiten schlichten können? Ihr aber lauft damit zu Richtern, die noch nicht einmal Christen sind. Euch zur Schande muss ich das sagen. Gibt es denn gar keinen weisen Menschen bei euch, nicht einmal einen einzigen, der in einem Rechtsstreit zwischen Gläubigen fair entscheiden könnte?“ (1.Kor 6,1-5).

Leider wusste der Gläubige nicht, wer der „Weise“ sein sollte, der hier in Frage kam. Denn über faire Schlich­tung wurde in den Gemeinden weder gesprochen noch nachgedacht. Das tat nun der Geschädigte und schrieb einiges dazu auf. Wie konnte man einen geeigneten Schiedsrichter finden ? Wie wird Befangenheit nach Möglichkeit vermieden ? Was muss getan werden, damit der Täter seine Verantwortung erkennt ? Darauf bat er den Pastor der bibeltreuen Gemeinde, zu der der Täter gehörte, zu diesen Gedanken Stellung zu nehmen.

De Pastor teilte ihm mit, dass er dafür „keine Zeit“ hätte. Er wollte nur den Namen des Täters wissen und dann den Fall entscheiden. Der Geschädigten aber konnte nicht mehr glauben, dass Pastor „der Weise“ war, da dieser weder Zeit noch Lust hatte, über völlig selbstverständliche Fragen nachzudenken. Als er ihn nun bat, ihn bei der Suche nach geeigneten Gläubigen zu unterstützen, weigerte sich der Pastor. Ebenso wei­gerte er sich, als der Gläubige fragte, ob er die Angelegenheit nach dem Scheitern des Vermittlungsgesprächs „vor die Gemeinde bringen“ könnte – wie es die Bibel fordert. (Mt 18,17). Der Pastor sagte, dass er das nicht zulassen würde, da der Geschädigte „nicht Mitglied seiner Gemeinde“ sei. Die Angelegenheit sei damit für ihn erledigt.

Und so blieb der gläubige Bruder auf seinem beträchtlichen Schaden sitzen – bis zum heutigen Tag.

Kaum zu glauben: Dieses skandalöse Ergebnis ist in evangelikalen Gemeinden keine Ausnahme! Schon vor eineinhalb Jahrzehnten (!) hat Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher in seiner „Ethik zum Selbst­studium“ die „völlige Aushöhlung des christlichen Rechtsbewusstseins“ in evangelikalen Gemeinden beklagt. (Band 2, Neuhausen-Stuttgart, 1994, Seiten 593 – 594.) Geändert hat sich bisher so gut wie nichts!

Wie kann man da behaupten, dass sich das übliche Verfahren, dass der Herr Pastor mit beiden Konfliktparteien spricht und dann „nach seinem Ermessen“ entscheidet, bewährt habe ?

Immer wieder passiert es: gläubige Christen erleiden einen Schaden durch einen Mitchristen. Aber in der Gemeinde wird an der gemeinsamen Lösung des Konflikts nicht gearbeitet. Vielmehr stellt man sich dort auf die Seite des Täters, der den Fall unter den Teppich kehren möchte und so tut, als ob nichts geschehen wäre. Die Mitglieder werden nicht einmal darüber informiert, dass sie ihren Fall vor das weltliche Gericht bringen dürfen, sondern werden sogar noch kritisiert, wenn sie es tun – unter Berufung auf eine wörtliche – und falsche ! – Auslegung von 1.Kor 6. Kommt der geschädigte Bruder oder die Schwester gar noch aus einer anderen Gemeinde, so sind die Chancen auf eine faire Konfliktschlichtung noch viel geringer.

Pech gehabtDie Tatsache, dass der heilige Geist alle Gläubigen über Grenzen und Sprengel hinweg zu einem Leib zusammenfügt, und dass diese Einheit heilig ist und viel höher steht als der Zusammenhalt eines religiösen Vereins oder einer Kirchgemeinde macht leider auf manchen Pastoren, der sich als „bibeltreu“ betrachtet, keinen nennenswerten Eindruck.

Was sagt das Neue Testament, die „Verfassung“ aller gläubigen Gemeinschaften? “Nun seid ihr also nicht mehr Fremde und Leute ohne Bürgerrecht, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und gehört zur Familie Gottes. Die Familie Gottes, die Gemeinde, ist ein ständig wachsender Bau, der auf dem Fundament der Apostel und Propheten steht. In ihm ist Jesus Christus der wichtigste Stein, der das ganze Haus zusammenhält, ein Haus, das sich der heilige Gott selbst zur Wohnung erwählt hat.” (Eph 2,19-21)

Das ist gültiges biblisches Recht!

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2. Naheliegende Fragen …

a) Welche Folgen hat das Verhalten des Pastors für die Seele des Geschädigten ? Ist es nicht wahrscheinlich, dass er zusätzlich zu den Folgen der Tat auch noch die quälende Erkenntnis aufgeladen bekommt, dass seine Mitchristen de facto Partei für den Schädiger ergreifen und ihn im Stich lassen ?

b) Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er bald an den tröstenden Worten Jesu zu zweifeln beginnt, weil seine Mitchristen ihm beweisen, dass die Anweisungen Jesu zur Konfliktschlichtung nur bedeutungsloses Geschwätz sind ?

c) Ist es nicht wahrscheinlich, dass der Geschädigte sehr bald seinen Mitchristen nicht mehr glauben kann, die ihre „Liebe“ zu ihm beteuern ? Gibt es Liebe ohne Fairness ?

d) Ist es nicht möglich, dass ihn sogar noch einzelne Geschwister anfeinden und als „Schalksknecht“ beschimpfen, und ihm es als Sünde vorwerfen, dass er eine faire Lösung erwartet ?

e) Kann der Pastor noch glaubwürdig über die Einheit des Leibes Christi (1.Kor 12,12) und über die Aufgabe des Gläubigen „mitzuleiden“ (1.Kor 12,26) und „die Last des anderen zu tragen“ (Gal 6,2), predigen oder ist das als unredliche Propaganda anzusehen?

f) Ist die Einheit des Leibes Christi ein nebensächliches oder ein ganz zentrales Thema ?

g) Welche Folgen hat das Verhalten des Pastors für die Seele des Täters ? Ist es möglich, dass sie zu einer Haltung der Verstocktheit und der Schadenfreude beiträgt ? Wie sind dann die Aussichten des Täters auf Errettung, wenn die Bibel sagt, dass „ein unbarmherziges Gericht ergeht“ (Jak 2,13) über den, der nicht barmherzig sein wollte ?

h) Welche Motive mag wohl der Pastor haben, wenn er dazu aufruft, eifrig zu missionieren und zu evangelisieren, um “Seelen zu retten”, wenn ihm das Schicksal des Täters gleichgültig ist ?

i) Jeder Betrieb hat seinen Betriebsrat, mit dessen Hilfe sich auch der unbedeutendste Mitarbeiter gegen Willkür, Übervorteilung und Gemeinheit wehren kann. Doch was hat die christliche Gemeinde? Wie könnte eine bibelgemäße Lösung des Problems aussehen?

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3. Eine einfache Lösung, die immer möglich ist …

I) Vorbereitung der Konfliktlösung durch Predigt und Bibellehre…

Wie einfach ist das: immer wieder in der Predigt aufzurufen, sich um „aufrichtige Liebe“ zu bemühen (Röm 12,9), insbesondere seinen Bruder nicht zu übervorteilen und zu schädigen (2.Kor 7,1-2 /  1.Thes 4,4-7).

Es gibt jede Menge oberflächliche Freundlichkeit, die im Konfliktfall versagt. Anstatt den Schaden zu reparieren, wird man eiskalt, sieht geflissentlich weg, wenn der geschädigte Bruder vorbeikommt, schlimmer noch, man rechtfertigt sein Tun, indem man negativ über ihn redet und Gleichgesinnte sucht, die ihn ebenfalls ablehnen. Wenn Konflikte im Untergrund weiter schwelen, entstehen in der Gemeinde sehr oft Cliquen, d.h. „Parteiungen„, Die Bildung von Parteiungen im Leib Christi ist eine schwere Sünde. In der Aufzählung der „Werke des Fleisches“ in Gal 5,19-20 steht sie zwischen den Sünden Feindschaft und Mord.

Deswegen ist die Predigt so wichtig: „Erleichtere dem, dem du weh getan hast, das Vergeben!“ Bei Beleidigungen hat sehr oft schon die Entschuldigung und nachträgliche Wertschätzung ein gutes Ergebnis, bei schwerer Schädigung wird das nicht ausreichen, sondern hier ist angebracht, dem Geschädigten im täglichen Leben mit praktischen und finanziellen Hilfen etwas Ausgleich zu verschaffen. Was angemessen ist, lässt sich durch Beantwortung der Frage feststellen: “ Was würde mir selbst das Vergeben erleichtern, wenn ich in der Lage des geschädigten Bruders wäre..?“

Jeder Gläubige, der die Gesinnung Christi hat, wird so handeln. Über die Mitglieder der unsichtbaren Gemeinde sagt Paulus „Wir aber haben Christi Sinn.“ (1.Kor 2,16) Auch wenn es manche materielle Nachteile bringen mag, so weiß doch jeder, dem der Glaube wichtig ist: ohne Bemühen um aufrichtige Liebe wird der Glaube schwächer, ärmer und trostloser.

Ganz wichtig dabei ist: das Bemühen um Ausgleich muss freiwillig bleiben und Distanz zur Werkgerechtigkeit halten. Wiedergutmachung ist niemals eine Bedingung für Vergebung ! Sie muss aus Liebe geschehen, weil man den Blick der Liebe auf den anderen richtet. Der Antrieb durch das schlechte Gewissen macht die Glaubensfreude kaputt. Wie soll auf diese Weise ein nachhaltiges Interesse zustandekommen ? Selbst wenn man dem Geschädigten in seiner Not beisteht, bleibt das motivierende Erfolgserlebnis bescheiden.

 

II) Klärung der Situation durch Anhörung

Nicht nur der Schädiger, sondern auch die Gemeinde kann sich gegenüber dem Leid des geschädigten Mitchristen gleichgültig zeigen. Beides wirkt sich auf das Glaubensleben destruktiv aus. Wie soll da „aufrichtige Liebe“ (Röm 12,9) gedeihen ? Wie soll die Gemeinde etwas von der Fülle des Geistes erfahren können?

Es besteht nicht der geringste Zweifel. Durch solche Gleichgültigkeit nimmt der Glaube Schaden, ist umso mehr Raum für scheinbare Liebe und für scheinbare Glaubensstärke. Niemand, der um das geistliche Wohl seiner Gemeinde besorgt ist, wird diesen Zustand akzeptieren.

Der erste Schritt aus der Gleichgültigkeit heraus ist die Anhörung. Zunächst hören die Ältesten beide Konfliktparteien zur Sache.

Beide Parteien dürfen Fragen an den Gegner stellen, die der Aufhellung dienen. Auch die untersuchenden Ältesten werden eigene Fragen stellen.

Verweigert der Beschuldigte die Teilnahme an der Anhörung, so hören die Ältesten nur den Geschädigten und formulieren Fragen an den Beschuldigten.

Die Befragung wird protokolliert, das Protokoll in der Mitgliederversammlung vorgetragen. Befindet sich der Geschädigte und der Beschuldigte in verschiedenen Gemeinden, so werden die Mitgliederversammlungen beider Gemeinden informiert. Auch diese Mitglieder können Fragen zur Sache stellen.

Wenn die untersuchenden Ältesten aus zwei verschiedenen Gemeinden stammen, dann werden beide noch mehr um eine glaubwürdige Leitung der Untersuchung bemüht sein.

Die Qualität der Entscheidungen, die die Mitgliederversammlung trifft, lässt sich erheblich verbessern, wenn man das ganze Verfahren noch mehr an der Bibel ausrichtet (siehe folgender Abschnitt).

Die Mitgliederversammlung stimmt ab, ob eine Ausgleichspflicht des beschuldigten Mitchristen gegeben ist.

Ein Pastor, der die kleine Lösung unterstützt, sollte natürlich auch selbst bereit sein, sich bei einer Beschwerde gegen ihn selbst einer unparteiischen Anhörung zu stellen.

 

III) Ganz wichtig: kein Ausschluss, keine Werkgerechtigkeit !

Der Beschluss über Wiedergutmachung darf nicht mit Androhung des Ausschlusses durchgesetzt werden. Wiedergutmachung ist und bleibt eine freiwillige Sache. Wer sie unterlässt, muss weder den Verlust der Vergebung noch die Trennung von der Gemeinde fürchten.

Doch Wiedergutmachung ist eine Dienstleistung innerhalb der Gemeinde, die Vorrang hat vor anderen Dienstleistungen. Die Gemeinde ist berechtigt und verpflichtet, niemanden zu Gemeindediensten zuzulassen, der vorrangige Dienstpflichten missachtet. Sie ist berechtigt und verpflichtet, Spenden zurückzuweisen, die dem Schadensausgleich dienen könnten. (Mk 7,11: „Korban„)

Solange das schädigende Mitglied angemessene Wiedergutmachung verweigert, kann es nur den Status eines Hörers oder Gastes haben, nicht aber den eines Mitarbeiters.

Diese kleine Lösung hätte der Pastor im oben genannten Fall vorschlagen können. Es entsteht kaum Aufwand, da die Entscheidungen auch durch Mitglieder einer anderen Gemeinde getroffen werden können. Es ist nur Offenheit und Ehrlichkeit nötig. Mit der Bemühung um Transparenz ist bereits sehr viel erreicht.

augefisch

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4. Eine Utopie: das bibelgemäße Schlichtungsverfahren:

Die Erfahrung zeigt, dass viele evangelikale Gemeinden sich häufig selbst mit der oben genannten einfachen Lösung sehr schwer tun. Nichtsdestotrotz wollen wir uns in diesem Abschnitt Gedanken machen, wie wir der Ermahnung des Paulus maximales Gewicht geben könnten. Das heißt: wir begeben uns in das Reich der Utopie und überlegen uns einmal, wie ein bibelgemäßes Schlichtungsverfahren praktisch aussehen könnte…      

a) Wichtig: das Schlichtungsverfahren wäre eine Notordnung für Straftaten und regelt deshalb keine Erbschaftsstreitigkeiten. (Luk 12,14) Ausnahme: Wenn das Erbe von einem wohlhabenden Gläubigen beansprucht wird, obwohl es zum Unterhalt eines mittellosen Gläubigen bestimmt ist („Witwe“) oder zum Ausgleich für einen angerichteten Schaden,  so entspricht es dem Grundsatz der Barmherzigkeit und Fairness, wenn die Gemeinde den Anspruch des benachteiligten Gläubigen unterstützt. (vgl. Mk 12,40 / Lk 20,47) Die Gemeinde muss auf den Ernstfall einer Straftat, die von einem Mitglied begangen worden ist, vorbereitet sein. Ohne Vorbereitung ist es sehr wahrscheinlich, dass bei Rechtsbruch und Schädigung weggesehen und verdrängt wird, anstatt die Wunden im Geiste Jesu zu verbinden. Die Bemühung um gegenseitige Versöhnung bleibt unerlässlich, auch wenn die weltliche Justiz für Bestrafung und Schadensausgleich gesorgt hat.

b) Wenn die Gemeinschaft der Gläubigen in die Konfliktschlichtung nicht in sinnvoller Weise einbezogen werden kann (Mt 18, 17; 1.Kor 11,13b), bleibt nicht selten die Vorstufe, das Mediations- oder Vermittlungsgespräch (Mt 18,16), ergebnislos oder findet erst gar nicht statt. Bevor man sich an die Ältesten wendet, sollte man immer einen Vermittlungsversuch mit einem Freund oder Fürsprecher machen, die auch als Zeugen dienen. (Mt 18,16) Wenn dieser scheitert, bleibt nur der beschriebene Weg. (Mt 18,17) Die Gemeinde wird damit eine echte Chance gegeben, auf der Basis ungeschönter Information zu entscheiden. Diese Chance hat sie heute häufig nicht. Sie sollte sie auf jeden Fall haben, weil eine faire Entscheidung für ihre geistliche Gesundheit wichtig ist.

c) Das vorrangige Ziel der Konfliktschlichtung ist die Förderung des Verantwortungsgefühls (1.Mo. 4,9 / 1.Kor 12, 26) und nicht die materielle Wiederherstellung. Der Täter soll erkennen, dass sein Gottesdienst jetzt darin besteht, die Wunden des geschädigten Mitchristen zu verbinden. (Mt 5, 23-24) Bibelgemäße Konfliktschlichtung versucht, eine Brücke zwischen den Konfliktgegnern herzustellen.

d) Die Predigt muss diesen Prozess der Gewissensbildung unterstützen und Wertschätzung der Fairness lehren, zumal die ganze Gemeinde ja geeignete Schiedsrichter wählen soll. Sie tut das am wirksamsten, indem sie deutlich darauf hinweist, dass sie Spenden und Mitarbeit eines Gläubigen zurückweisen muss, der gegenüber dem geschädigten Mitchristen gleichgültig bleibt („Korban“ – Predigt: Mk 7, 11-13). Wertschätzung der Fairness ist die unverzichtbare Grundlage „ungeheuchelter Bruderliebe“ (Rö 12,9 / 2Kor 6,6 / 1Pe 1,22). Gegebenenfalls müssen zusätzlich geeignete Prediger für diese Aufgabe bestellt werden.

e) Auch wenn eine Gemeinde selber keinen schiedsgerichtlichen Dienst einrichten möchte und hier lieber die Hilfe einer anderen Gemeinde in Anspruch nimmt, sollte sie die Charakterbildung  fördern, indem sie die 3 Maßstäbe Jesu „Barmherzigkeit, Liebe zum Recht, Verlässlichkeit“ (Mt 23,23) als wichtigste Gebote bekanntmacht.

f) Die Konfliktpartner bekräftigen ihre Aussagen in der Untersuchung, indem sie Gott zum Zeugen ihrer Wahrhaftigkeit anrufen, so wie auch Paulus Gott zum Zeugen anrief, wenn ihm die Sache wichtig genug erschien. (Rö 1,9 / 2.Kor 1,18 / Phil 1,8) Die Anrufung Gottes ist angemessen, da ungelöste oder lange schwelende Konflikte die Gemeinschaft erheblich belasten können.

g) Die Mitgliederversammlung(en) bestellen dann mindestens zwei oder drei „weise“ (1.Kor 6, 5), d.h. geeignete Gläubige zu Schiedsrichtern (4.Mo 11,16-17), die stellvertretend für die Gemeinde prüfen, ob und welche Wiedergutmachung im vorliegenden Fall angemessen ist. Dies ist wohl der effizienteste Weg, um den guten Ruf des mutmaßlichen Schadensverursachers zu schützen und um eine Beeinträchtigung des Gemeindelebens zu vermeiden. Geeignet sind Gläubige, die sich durch Wertschätzung der Fairness (Ps 37, 28 / 94, 15 / Jes 1, 17), Liebe zu den schwachen Geschwistern (Mt 25,40 / 1.Kor 12, 22 -24) und durch Fähigkeit zur Selbstkritik (Rö 2,21a / 2.Kor 10,12-13+18 / 15,5) auszeichnen. Diese Eigenschaften kann man leider nicht bei allen Mitgliedern, (auch nicht zwingend bei jedem Mitglied des Vorstandes !) voraussetzen. Manchmal bringt eine Konfliktpartei kein Vertrauen in die Unparteilichkeit eines Schiedsrichters auf. Dieser Einwand ist ernstzunehmen, da in der Gemeinde vielfältige Bindungen (Verwandtschaft, gemeinsame Vorhaben, geschäftliche Verbindung) vorhanden sind. Wer zum Schiedsrichter vorgeschlagen wird, sollte selbst prüfen, ob er eine Entscheidung frei von Sympathie oder Antipathie fällen kann. Wenn es gewünscht wird, sollte die Gemeinde auf bewährte Gläubige einer anderen Gemeinde zurückgreifen. Das kann sie übrigens auch tun, wenn sie sich den Aufwand, Schiedsrichter zu wählen, ersparen will.

h) Wenn die Gemeinde sich hinter das Urteil der gewählten Schiedsrichter stellen soll, sollten diese Gläubigen mit entsprechender Autorität ausgestattet werden. Sie legen deshalb so wie hauptamtliche Mitarbeiter einen Amtseid ab, indem sie sich verpflichten, unparteiisch zu urteilen (Jes 50, 20-24a / Jak 2,9) und das Gewissen nicht fahrlässig zu erleichtern. (Jer 6,14)

i) Wer Einkommen von der Gemeinde bezieht, ist in Rechtsentscheidungen, die möglicherweise zu Parteiungen, zu Stress an der Arbeitsstelle und zu einer Einbuße von Spenden führen können, nicht unbefangen. Deshalb ist es unfair, ihn zum Schiedsrichter zu bestellen, der ja einen Amtseid abzulegen hat. (1.Thess 5,22)

j) Der Gläubige, der den Mitchristen geschädigt hat, kann sich seiner Verantwortung leicht durch Wechsel der Gemeinde entziehen. Deshalb sollten die Schiedsrichter verschiedener Gemeinden zusammenarbeiten (vgl Ri 19-20) und die Beurteilung des Täters sollte in der Gemeinde geschehen, in der man ihn und sein Verhalten gut kennt.

k) Wer andere prüft oder zum Gehorsam aufruft, muss auch selbst bereit sein, sich prüfen zu lassen. Deshalb sollte es selbstverständlich sein, dass jeder, der eine Funktion oder ein Amt in der Gemeinde hat, sich und sein Verhalten an der Bibel prüfen lässt. (2.Kor 4, 2 / 6,7 / 7,2) Die Prüfung der charakterlichen Eignung eines Schiedsrichters (siehe Punkt c) ist schon deshalb selbstverständlich, da der Geschädigte in der Regel nur einen einzigen Versuch (!) hat, sein Anliegen vorzubringen und es (anders als in der Welt) keine übergeordneten Instanzen gibt, die man zur Überprüfung der Entscheidung anrufen könnte.

l) Falls sich ein Gemeindeleiter bösartig und ungerecht verhält, dann darf die Gemeinde nicht gezwungen sein, dazu zu schweigen, weil ja „über dem Leiter niemand mehr steht“. Wie soll ein solcher Leiter dann das Abendmahl austeilen, mit welchem Recht kann er noch Mitglieder ermahnen, sich selbst zu prüfen und ihre Sünde zu bereuen ? Dies ist dann ja unmöglich, ohne zu heucheln. Es muss daher möglich sein, eine Beschwerde gegen einen böse handelnden Gemeindeleiter an geeigneter Stelle vorzubringen, wo unparteiisch und ohne Ansehen der Person darüber geurteilt werden kann. Der beste Ort dazu sind Älteste einer anderen bibeltreuen Gemeinde, die keine persönlichen Beziehungen oder Kooperationen mit der Gemeinde des Beschuldigten haben. Diese hören beide Seiten an, bilden sich ein Urteil nach biblischen Maßstäben und berichten auch in den Mitarbeiterversammlungen beider Gemeinden, der Gemeinde des Klägers und der Gemeinde des Beschuldigten. Diese entscheiden dann – nunmehr vollinformiert – selbständig über einen angemessenen Schadensausgleich bzw. über den Ausschluss von Gemeindediensten.

Wie gesagt: all das ist weitgehend Utopie und muss es wohl auch bleiben. Zum einen sind für den schiedsrichterlichen Dienst geeignete Christen u.U. nicht vorhanden. Zum anderen sind auch gerechte Urteile u.U. gar nicht durchsetzbar, weil der Verursacher des Schadens bloß in eine andere Gemeinde wechseln muss, die sich mit der Rechtsfrage nicht befassen will oder kann. Eins ist sicher: Der Schutz durch einen schiedsgerichtlichen Dienst funktioniert unzuverlässig oder gar nicht. Deshalb müssen wir hier Gläubigen widersprechen, die unter Berufung auf 1.Kor 6,1 ff lehren, dass ein Rechtsstreit zwischen Christen nicht vor Gericht gebracht werden darf. Wäre das so, so müsste der Schaden, von den Christen, die die Inanspruchnahme des Gerichts behindern, ebenfalls aus Glaubensgründen nach 1.Kor 12,26 mitgetragen werden: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle anderen mit; und wenn eins besonders geehrt wird, freuen sich die anderen mit.“  Hat Paulus den Verzicht auf das Gericht nur für Kleinigkeiten (V.4: ἐλαχίστων) gefordert? Auch hier macht ein Gebot wenig Sinn,  da „klein“ und „groß“ nicht definierbar sind. Ein kleiner Betrag, den der Wohlhabende aus der Portokasse bezahlt, kann für einen armen Bruder durchaus eine große Sache sein.

Wir können annehmen, dass Paulus bei seiner Formulierung ein besonders schäbiges Beispiel in der korinthischen Gemeinde vor Augen hatte. Da er durch eine Vision (2.Kor 12,2) wusste, welche Herrlichkeit dem Gläubigen geschenkt war, war seine Empörung so groß, dass er sie in die strenge Form eines Gebotes fasste: „Wie könnte ihr es wagen!…“ (V.1) Dabei lässt sich die Inanspruchnahme des weltlichen Gerichts durchaus mit Mt 18,15-17 sehr gut begründen. Dort heißt es: „Sündigt aber dein Bruder, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. 16 Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch zweier oder dreier Zeugen Mund bestätigt werde. 17 Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.“ Wenn der ungerechte Bruder zuletzt als Heide angesehen wird, so ist der Fall „Rechtstreit zweier Christen“ nicht mehr gegeben, und das weltliche Gericht ist zuständig. Die Korinther werden Paulus sehr wahrscheinlich bei seinem nächsten Besuch in dieser Sache in diesem Sinne befragt haben.

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5. Evangelikale Illusionen – unverbesserlich ?

Macht ein Appell Sinn, diese Vorschläge ernstzunehmen, um Streitfälle in einer fairen und überzeugenden Weise zu schlichten, wie es sich der Apostel Paulus gewünscht hat (1.Kor 6,1 ff) ? Das Interesse daran ist praktisch Null. Selbst wenn eine evangelikale Gemeinde ansonsten die wortwörtliche Interpretation bitter ernst nimmt.

So gering ist im allgemeinen das Interesse, dass man ins Zweifeln kommt, ob die Forderung des Paulus in dieser allgemeingültig und verbindlichen Form, wie sie  formuliert ist, überhaupt praktikabel ist. Was sollen wir daraus schließen?

Gelegentlich sind kurzatmige, untaugliche und fragwürdige Regelungen anzutreffen. So sehen sich etliche Gemeindeleiter mit monarchischem Selbstverständnis automatisch in der Rolle des Salomo und für das Schlichten von Streitigkeiten zuständig, obwohl sie wegen kollidierender Interessen denkbar ungeeignet sind (s.o.). Dem, der selbstherrlich über die Köpfe anderer hinweg „entscheidet“, genügen auch dürftige Begründungen: Daumen hoch – Daumen runter … so wie einst Kaiser Nero im Amphitheater.

Bei mangelhafter Charakterbildung darf mit grotesken Fehlentscheidungen gerechnet werden. Etliche Gläubige vertreten doch tatsächlich die haarsträubende Meinung, dass ein Christ unter keinen Umständen seine gerechte Sache vor ein weltliches Gericht bringen dürfe. Sie behaupten: der geschädigte Gläubige sei er verpflichtet, sich durch das gewissenlose Handeln eines Mitbruders wirtschaftlich ruinieren oder schwer schädigen zu lassen, wenn er nicht gegen das göttliche Gebot verstoßen wolle.

Eins ist klar: Paulus war es sehr wichtig, dass Gläubige der Welt kein erbärmliches Schauspiel bieten, wenn sie sich vor Gericht um „Kleinigkeiten“  (κριτηρίων ἐλαχίστων) zanken. (1.Kor 6,2) Das ist der wesentliche Grund für seine Ermahnung. Deswegen müssen wir uns auch die Frage stellen:  welchen Eindruck macht es auf weltliche Zuschauer, wenn die christliche Gemeinschaft auf den Gläubigen Druck ausübt ihn ggf. bestraft, wenn er nicht bereit ist, sich erheblich schädigen zu lassen ? Ist der Eindruck etwa positiv? Wohl nur unter einer einzigen Bedingung:  jedes Mitglied übernimmt einen gleich großen Teil des Schadens, sodass der Betroffene nicht allein gelassen wird. Dies entspricht dem Gebot: „wenn ein Glied des Körpers leidet, so leiden alle Glieder mit.“ (1.Kor 12, 26) Doch ich habe bisher noch bei keinem der Glaubenseiferer bemerkt, dass diese Konsequenz ganz klar mit berücksichtigt wird. Welchen Eindruck macht es dann, wenn der Gläubige gezwungen wird, auf die Hilfe des Gerichts zu verzichten, und allein auf seinem Schaden sitzen bleibt?

Ist die Frage schwer zu beantworten? Es ist doch klar: Es hinterlässt einen scheinheiligen und erbarmungslosen Eindruck, wenn man andere für die eigenen frommen Anschauungen zahlen lässt, und das dürfte wesentlich schlimmer als der Eindruck einer kleinlichen Zänkerei vor Gericht sein! Würde der Apostel nicht auch hier denselben Satz sagen müssen: „Ich sage es euch zur Schande„? Und doch hört man diese bodenlos dumme, gewissenlose buchstabenhörige Argumentation immer wieder. (Gift Nr 30)

Es entspricht geistlicher Disziplin, wenn wir nach der Nützlichkeit des paulinischen Textes fragen. Am ehesten können wir dem Text des Paulus etwas Nützliches abgewinnen, wenn wir hier kein Gebot aufstellen, sondern einen Rat, auch bei Rechtsstreitigkeiten in der Liebe zu bleiben. Es geht hier um Liebe, und liebevolles Verhalten muss freiwillig bleiben. Es kann mit der Liebe vereinbar sein, wenn jemand, der rücksichtslos mit anderen umgeht, sich vor Gericht wiederfindet und von amtlicher Seite gebremst wird. Es kann auch mit der Liebe vereinbar sein, wenn man sich vor Kleinlichkeit hütet und versucht das Herz des anderen mit Großzügigkeit zu gewinnen. (Mt 5,40) Es kann ebenfalls mit der Liebe vereinbar sein, wenn Gläubige lernen, Streitigkeiten nach der Entscheidung des Gerichts seelsorgerlich zu begleiten, damit neben dem fairen Ausgleich auch wieder Versöhnung und gegenseitiges Verstehen möglich wird.

Auf jeden Fall müssen Gläubige das Recht behalten, ihre Streitsache vor ein weltliches Gericht zu bringen. Damit tun sie zwar das Gegenteil von dem, was hier der Wortsinn hergibt, aber es wäre noch viel schlimmer, wenn Gemeinden in buchstabenhöriger Weise am Verbot des Paulus festhalten und sich mit einem Verbot  geschlossen auf die Seite des Täters zu stellen – das Recht würde untergehen. Möglicherweise wird sogar noch auf den Geschädigten Druck ausgeübt, damit er die Gemeinde verlässt, da schon seine Gegenwart eine ständige Anklage, ein Hinweis auf Heuchelei und Doppelmoral in der Gemeinschaft ist.

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Artikel aktualisiert am 15.06.2019

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