Ethikinstitut – Gesetzlichkeit

Zum Aufsatz von Eva Dittmann zum Thema „Gesetzlichkeit“ (auf der Webseite des „Instituts für Ethik und Werte“)   eine KRITIK

Sie wurde dem Ethikinstitut schon 2020 zugeschickt, aber blieb – wie sollte es anders sein – ohne Antwort.

Es ist zu begrüßen, wenn sich Menschen aus dem evangelikal-konservativen Umfeld mit dem Thema Gesetzlichkeit beschäftigen, nicht zuletzt, weil es gerade hier ein großes Problem darstellt. Leider hat der Aufsatz von Eva Dittmann aber mindestens drei deutliche Schwächen, die wiederum typisch für den Evangelikalismus sind. Erstens nimmt die Autorin die zum Teil erheblichen seelischen Nöte der Betroffenen nicht wahr. Zweitens beschäftigt sie sich nicht mit den Bibelstellen, die solche Nöte hervorrufen. Drittens bietet sie keine konkreten Auslegungshilfen für eben diese Texte an, sondern flüchtet sich in Allgemeinplätze wie zum Beispiel den realitätsfremden Glaubenssatz, bei ausreichender geistlicher Reife könnten alle Gebote der Bibel gehalten werden, womit das Problem der Gesetzlichkeit überwunden sei.

Zur Not der Betroffenen

Gesetzlichkeit ist in nicht wenigen Fällen mit enormer Tragik verbunden wie quälende Gewissensnot, jahrelang fehlende Glaubensfreude, ständige Zweifel an einem Gott, der eher negativ über den Gläubigen zu denken scheint, der ohnmächtige Wunsch, Gott zu vertrauen, aber beim besten Willen angesichts verunsichernder Bibelstellen nicht vertrauen zu können… wer solche Menschen trifft, der hat eigentlich den Wunsch, ihnen eine Hilfe anbieten zu können, die diesem  Leid baldmöglichst ein Ende macht. Ja, das erwartet man auch von einer Institution, die sich zu diesem Thema äußert.

Doch was empfiehlt der Artikel dem Leser zum Umgang mit dem Gesetz? Es ist so wenig hilfreich, dass sich die Frage förmlich aufdrängt, ob nicht gerade solche Beiträge das eigentliche Problem sind – anstatt eine Lösung zu bieten.

Bei der Lektüre des Artikels sind mir folgende Punkte aufgefallen:
1. Das Problem „Gesetzlichkeit“ löst sich angeblich von selbst.
2. Die tatsächlichen seelischen Notfälle interessieren nicht.
3. Unklar bleibt, wie willkürliche Auslegung vermieden wird.
4. Eine oberflächliche Sicht von Sünde lässt Illusionen blühen.
5. Das empfohlene Patentrezept taugt nichts
6. Wie ist Jesus mit dem Gesetz umgegangen ?

1. Das Problem „Gesetzlichkeit“ löst sich nach Ansicht der Autorin angeblich von selbst.
Tatsächlich wird hier behauptet, dass „Gesetzlichkeit“ eigentlich gar kein Problem darstellt. Es löse sich bei ausreichender geistlicher Reife von selbst. Der „reife Christ“ habe genug Heiligen Geist, um alle Forderungen des Neuen Testamentes  zu halten, sodass Überforderung und Konflikt mit dem Gesetz erst gar nicht entstehen. Zitat: „Ein reifer Christ hingegen weiß, … dass man … durch das Freiheit schenkende Wirken des Heiligen Geistes nun tun und lassen (kann), was Jesus will. Denn das Gesetz Christi, an das Gläubige nun gebunden sind, ist ein Gesetz der Freiheit, ein Gesetz, das mit der neuen Identität in Christus vollkommen einhergeht. Nach und nach werden Herz und Verstand durch das Wirken des Heiligen Geistes so transformiert, dass die Glaubenden Gottes Willen tun wollen und können.“ So einfach ist das. Und wenn es nicht gelingt, dann ist die Ursache  „Unreife“ oder „reine Unwissenheit“ oder ein „Mangel an Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes“ ? (Zitate in der pdf-Datei: Seite 13, Spalte 1, Mitte)

An dieser Antwort wird eines deutlich:

 

2. Die tatsächlichen seelischen Notfälle interessieren nicht.
Ein schwerer handwerklicher Fehler liegt bereits darin, dass am Anfang keine Anamnese, keine Erforschung des Krankheitsbildes der religiösen Depression stattfindet. Welcher Arzt würde so vorgehen ? Tatsächlich aber gibt es Menschen, die über die Maßen unter dem Buchstaben des Neuen Testamentes leiden und gelitten haben und es erscheint mir angebracht, die Ursachen dafür im Detail zu beschreiben,  die die Autorin  entweder nicht kennt oder nicht nennen will. Zu diesen Ursachen gehört in den meisten Fällen keine  „Unwissenheit“. Vielmehr ist die Not oft erst durch eifriges Bibelstudium entstanden.

Wer zum Beispiel gelernt hat, dass auch die kleinste Sünde, an der man festhält, die frohmachende Gemeinschaft mit Gott wieder zerstört (Joh 3,8: „Wer Sünde tut, ist vom Teufel“ ), versucht, jede auch noch so winzige Vergehen baldmöglichst zu erkennen und zukünftig zu unterlassen, wie es Spr 28,13 sagt: „Wer seine Sünde bekennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen.“  Das scheint ihm zunächst ein Weg zurück in die „Gemeinschaft mit Gott“ (1.Joh 1,6) zu sein. Nun aber liest liest er auch in der Bibel: „wer etwas Gutes zu tun weiß und tut’s nicht, dem ist es Sünde…“ (Jak 4,17), und da fällt ihm vielleicht auf, dass er Hobbies hat, die Geld kosten, während Menschen, ja sogar Christen sterben müssen, weil sie kein Geld für Brot oder medizinische Versorgung haben. Soll es nun genügen, dem Rat zu folgen, den die Autorin in ihrem Artikel gibt, „Gemeinschaft mit anderen Gläubigen pflegen“ (in der pdf-Datei: Seite 13, Spalte 2, unten) und sich an ihnen zu orientieren?

Christen spenden gemäß Maleachi 3,10 den zehnten Teil ihres Einkommens, aber Johannes der Täufer hatte wenigstens eine 50-%-Abgabe gefordert: „wenn du zwei Mäntel hast, dann gib einem dem, der keinen hat.“ (Luk 3,11) Somit ist die Halbe-Halbe-Lösung etwas Besseres, was der Gläubige zu tun weiß. Bis er auf den Rat Jesu stößt: „Verkauft, was ihr habt, und gebt’s den Armen.“ (Lk 12,33). An dieser Forderung kann sich das Gewissen aufreiben, weil es kaum gelingen wird zu beweisen, dass diese Forderung nicht zum „Guten“ gehört, dass man tun könnte. Es ist hier keine Hilfe, dass man andere Gläubige sieht, die nur den zehnten Teil ihrer Einkünfte geben. Denn die Bibel macht klar: Wer ein empfindlicheres Gewissen hat als andere, wird genau daran gemessen. Wer zum Beispiel Wer gegen sein Gewissen Götzenopferfleisch isst, der wird „sterben„, „verderben“ (Rö 14,15),. Ende – aus ! Auch wenn also das Gewissen anderer Gläubiger großzügiger ist und sie dieses Fleisch gefahrlos essen können, kann der, der Bedenken hat, sich darauf nicht berufen. Gläubige mit einem sensiblen Gewissen haben offenbar einfach Pech.

Die Bibel kann einen Christen auch zu der Überzeugung bringen, dass er alles ihm Mögliche tun muss, um Menschen zu missionieren, wenn er nicht an ihrer Verdammnis schuld sein will. So kann man jedenfalls Hes 33,8-9 verstehen. Zweifellos ist der Bedarf in den Ländern am größten, in die kaum ein Missionar geht, weil es lebensgefährlich ist. Auch in diesem Gewissenskonflikt sollte die Entscheidung eigentlich leicht fallen, denn Jesus sagte ja: „wer sein Leben retten will, wird es verlieren, aber wer es verliert um meinetwillen, der wird es retten.“ (Mt 10,39). Dass andere Gläubige sich weniger problematische Missionsziele stecken, ist für das eigene Gewissen ohne Bedeutung (s.o.). Nun steht der Arme unter dem „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige…“ (1.Kor 9,16). Er weiß, dass er nicht hinausziehen wird, aber mit dem Frieden im Gewissen und mit der Heilsgewissheit ist es vorbei. Er sieht fortan seine Gottesbeziehung gefährdet, weil er sein Leben nicht aufs Spiel setzen will.

Ein anderes Beispiel: Ein Jugendlicher hat in emotionalem Überschwang Gott versprochen, wie der Apostel Paulus ehelos zu bleiben, um sich ganz dem Reich Gottes widmen zu können. Als der Rausch verflogen ist, bereut er seine Worte, erfährt aber aus der Bibel, dass er nun ehelos zu bleiben hat, wenn er nicht will, dass Gott wegen dem Bruch eines Gelübdes sein ganzes Leben ruiniert und „all seine Arbeit misslingen lässt.“ (Pred 5,3-5) Angesichts der sinnlosen Härte des Bibelwortes kann er an einen fürsorglichen und lieben Vater im Himmel nicht mehr glauben.

Ein anderer Christ in mehr oder weniger trostloser Lebenssituation, erfolglos in Schule und Beruf, dauerhaft depressiv, unansehnlich und mit wenig Chancen bei Frauen kommt von der Masturbation nicht los, die ihm wenigstens für ein paar Minuten ein Gefühl der Erfüllung und des Glücks bereitet. In der Gemeinde hat man ihm beigebracht, dass die mit der Masturbation verbundene Phantasie von Gott so bewertet wird wie vollzogener Ehebruch und nach Mt 5,28-30 mit der Hölle bestraft werde. Nun liest er in Hebr 10,26 ff dass bei wiederholtem „mutwilligen Sündigen“ „kein Opfer Jesu mehr“ zur Verfügung stehe, dass die Geduld Gottes mit solchen Leuten unversehens ein Ende hat. Die Konsequenz: Er verzweifelt.

Ein anderer liest in einem Bibelkommentar, dass auch ein Wort, das man über andere Christen gesagt hat, die „Sünde gegen den Heiligen Geist“ sein kann, die „bis in alle Ewigkeit nicht mehr vergeben wird“ (Mt 12,36). Er hat früher so einiges gegen manche Glaubensgeschwister geredet, kann sich sich aber gar nicht mehr erinnern, was im einzelnen gesagt worden ist. Die Angst vor einer möglichen Höllenstrafe wird immer größer. Er versucht sich an den Verheißungen der Bibel aufzurichten, doch sie geben  ihm keinen Trost mehr, denn sie gelten ja nur für Gläubige, die keine unvergebbare Sünde begangen haben.

Es gibt auch gläubige Menschen, die aus Leichtsinn, Zorn, innerem Zwang oder auch in anderen seelischen Extremsituationen beleidigend über den Heiligen Geist gesprochen haben. Welche Hilfe gibt es für sie? Nur ein furchtbares Warten auf das Gericht und die ewige Höllenqual?

Andere Christen haben schreckliche Angst, dass sie den Heiligen Geist verloren haben, weil sie bei ehrlicher Selbstprüfung merken, dass sie die von einigen Theologen propagierte weitgehende Sündlosigkeit gar nicht erreichen können, selbst wenn sie sich darum bemühen. Für sie gilt offenbar nicht der Satz von Paulus: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“ (Phil 4,13) Kann er trotz aller Anstrengung die Sünde nicht überwinden, dann muss ihm der Geist Christi verlorengegangen sein. Das aber ist furchtbar, denn „wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm.“ (Rö 8,9) Auf ihn wartet folglich die Hölle. Welch ein Schicksal, jahrelang, vielleicht lebenslang unter Todesangst in Erwartung ewig dauernder Höllenqual zu leiden! Diese extreme Belastung kann den Verlust der Arbeitskraft, Armut, schwere familiäre Konflikte und eine erhöhte Anfälligkeit für weitere Krankheiten zur Folge haben. Wer kann da zusehen, ohne tiefes Mitgefühl zu haben ?

Nicht wenige gläubige Menschen kennen diese Kämpfe, vielleicht sogar die Mehrheit. Manche leiden über die Maßen. Wie ich noch zeigen will, könnten auch diese Menschen fröhlich ihres Glaubens leben, wenn die Theologie ehrlicher und barmherziger wäre. Kennt die Autorin solche Fälle nicht? Ist hier wirklich die Ermahnung ausreichend, ein bisschen mehr Heiligen Geist ins Leben hinein zu lassen und einfach mehr zu vertrauen, mehr zu beten, sich öfter mit Gläubigen zu treffen?  Ist das alles nur eine Frage der Quantität? Wie stellt sich die Autorin das denn vor? Wie soll ein Mensch, der die beschriebenen Bibeltexte mit ihren Forderungen ernst nimmt, zu einer Haltung des Vertrauens gelangen?

Vertrauen muss eine klare, nachvollziehbare Basis haben. Wie soll es entstehen, wenn das „Kleingedruckte“ in der Bibel und das zweideutig Bleibende weiter Angst machen? Es ist nicht schwer zu sehen: Die seelische Not entsteht einerseits durch eine an Härte nicht zu überbietende Strafandrohung, die Hölle, und zwar auch für Gläubige, sowie durch Forderungen, die hinsichtlich ihres Anspruchs nicht extremer sein können wie z. B.  Mt 5,24: „ihr sollt vollkommen sein, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Eine weitaus größere Gruppe von Geschädigten sind die Gläubigen, die zwar keine Angst vor unausweichlicher Höllenstrafe haben, aber die unter dem Einfluss perfektionistischer Theologie ihre Glaubensfreude verlieren. Sie werden zeitlebens den Eindruck nicht mehr los, dass Gott angesichts ihrer Mängel ständig mit ihnen unzufrieden ist und eher negativ über sie denkt. Diese Beziehung ähnelt einer Pflichtehe, an der man festhält, obwohl sie emotional am Ende ist. Wenn Gebet und Zeugnis noch stattfinden, sind es herzlose Pflichtübungen.

Solche Gläubigen kommen in die Regel nicht auf die Idee, dass mangelhafte Theologie eine Ursache für ihr trostloses Glaubensleben sein könnte.

 

3. Unklar bleibt, wie willkürliche, destruktive Auslegung vermieden werden kann.
Bibeltreue Theologie besteht unter anderem darin, allen biblischen Aussagen gleiche Wahrheit und Verbindlichkeit zuzuschreiben. Dieses Prinzip wird in „bibeltreuen“ Gemeinden als Bekenntnis zur Bibel als Gottes Wort hochgehalten, auch wenn man es in der Praxis nicht konsequent anwendet. Ist dies tatsächlich eine biblische Theologie, die der Art und Weise entspricht, wie biblische Autoren und Personen selbst mit der Heiligen Schrift umgehen?

Niemand anders als Jesus macht klar, dass es übergeordnete Prinzipien gibt, nach denen biblische Forderungen unterschiedlich zu gewichten und gegebenenfalls sogar außer Kraft zu setzen sind. So gibt er etwa in Mt 23,23 als Qualitätsmaßstäbe vor, anhand derer Inhalt und Anwendung aller anderen Gebote zu prüfen sind. Diese Maßstäbe sind: „Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit.“ Ohne ihre konsequente Beachtung wird die Anwendung biblischer Gebote erbarmungslos. Ohne sie lässt sich die oben beschriebene destruktive Wirkung gewisser Gebote nicht aufheben.

Im vorliegenden Aufsatz, den das „Institut für Ethik und Werte“ offenbar bis heute für wegweisend und hilfreich hält, spielen diese zentralen Maßstäbe für die Analyse des Konflikts  keine Rolle. Sie scheinen für ein Urteil entbehrlich zu sein. Man tut so, als wenn sich alle biblischen Texte auf gleichem Niveau bewegen und nur exegetisch korrekt ausgelegt werden müssen. Die problematischen Stellen kommen nicht zur Sprache. Schon gar nicht werden sie entschärft. Menschen, die mit ihnen ringen, bleiben ratlos zurück. Würde man die Maßstäbe Jesu beachten und anwenden, könnte diesen Menschen mit wenigen einfachen Schritten geholfen werden, vgl. www.matth2323.de/zu-gott-gehoeren/#weg-heraus bzw. www.matth2323.de/resultat“)

Wenn Jesus sagt, dass „der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht ist und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ ? (Mk 2,27), so zeigt er uns damit unter anderem dies:

A: Ein Gebot kann in falscher Weise so verstanden werden, dass seine Einhaltung wichtiger ist als die Folgen, die daraus erwachsen. Die strenge, wörtliche Interpretation kann aber in die Irre führen und sogar gefährlich sein. Deshalb sagt Paulus: „Der Buchstabe tötet“ (2.Kor 3,6). Wenn ein Gebot dem Menschen schadet, so ist der Sinn des Gebotes nicht erfasst bzw. verfälscht.

B: das Gebot soll so ausgelegt werden, als ob es „für den Menschen gemacht“ sei. Das Gebot ist dazu da, um ihm zu helfen und ihn vor Schaden zu bewahren. Das bedeutet, ein Gebot „im Sinne Christi“ auszulegen (1.Kor 2,16).

C: Gläubige sind nicht verpflichtet, das Gebot gedankenlos und unterwürfig dem Buchstaben gemäß anzuwenden. Er ist Gottes Partner in der Rechtsfindung. Durch den Heiligen Geist und mit Hilfe der Prinzipien „Barmherzigkeit, Liebe zum Recht, Verlässlichkeit“, denen Jesus den höchsten Rang zuwies (Mt 23,23), kann er das Gebot in einer aufbauenden, lebensfördernden Weise verstehen und anwenden.

Bemerkenswert ist, dass Jesus die Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen buchstäblichem Sinn und geistlichem Verständnis bestätigt. Die Bibel ist lebendiges Gotteswort.

Sie ist im Gespräch mit uns. Sie liefert keine standardisierte, allen gleichermaßen zugängliche Information, sondern regt zum eigenen Denken an. Dabei führt der Heilige Geist auch zu neuen Erkenntnissen, eben „in alle Wahrheit“.

Was folgt aus der herausragenden Bedeutung der drei Prinzipien von Mt 23,23? Es folgt daraus, dass niemand und nichts, weder ein Mensch noch eine Lehre noch eine Aussage noch irgendein Gebot der Bibel gegen die Barmherzigkeit verstoßen darf, keine Aussage der Bibel darf dem Gebot der Fairness und der Liebe zum Recht widersprechen und dem, was gläubige Menschen unter Verlässlichkeit nach bestem Wissen und Gewissen verstehen. Sie haben nicht nur das Recht, die Maßstäbe Jesu auf jede Aussage der Bibel anzuwenden, sondern werden dazu ausdrücklich ermutigt.

Dem „Buchstaben, der tötet“ (2.Kor 3,17), dürfen Christen  den Buchstaben der höchsten und wichtigsten Gebote entgegenhalten. Wir können die Maßstäbe Christi deswegen auch als Schlüssel betrachten, der uns den lebensfördernden Sinn der Heiligen Schrift aufschließt. Je mehr eine Aussage diesen Maßstäben widerspricht, desto weniger Gewicht kann sie haben. So dürfen wir z.B. die Aufforderung Davids, „kleine Kinder an einer Mauer zu zerschmettern“ (Ps 137,9), als Satz von geringstem Rang einstufen, Rang „Null bis Negativ“  sozusagen. Wir dürfen solche Aussagen nicht nur ignorieren, sondern die Maßstäbe Jesu geben uns die Autorität, uns davon deutlich und unmissverständlich zu distanzieren. Derartige Aussagen zeigen uns bestenfalls, wie sehr selbst betende Menschen in die Irre gehen können. In dieser freien Weise können und sollen wir im Auftrag und in der Autorität Jesu mit der Bibel umgehen. Dieses Recht gehört zu unserer Würde als Gotteskinder.

In Gottes Schöpfungswerkstatt sehen wir eine ähnliche Vorgehensweise. Auch das vom Schöpfer konzipierte biologische “Lebensbuch”, die Erbsubstanz, wird mit Hilfe übergeordneter Mechanismen ausgelesen. Um das Leben zu entwickeln und zu erhalten, werden Abschnitte des genetischen Codes nach einem sinnvollen Plan aktiviert, zeitweilig deaktiviert oder für immer stillgelegt. Wenn eine gleichzeitige und dauerhafte Aktivierung aller Abschnitte erfolgt, entstehen Schäden wie der Krebs. Ähnlich verhält es sich mit der Bibel. Die Autorität der Heiligen Schrift nimmt durch Deaktivierung problematischer Bibelstellen so wenig Schaden wie die Funktionstüchtigkeit einer lebendigen Zelle.

Auf diese Weise kann der Gläubige an der Vertrauenswürdigkeit der Heiligen Schrift festhalten und gleichzeitig offen zugeben, dass er bestimmte negativ wirkende Aussagen der Schrift kennt, sie nicht ignoriert, verschweigt oder verharmlost, sondern sie als wertlos, fehlerhaft, ja ggf. schädlich einstuft, nicht eigenmächtig, sondern weil ihn dazu ein höherrangiges biblisches Prinzip autorisiert.

Erst dadurch entsteht wirklich Freiheit gegenüber dem Buchstaben, deren Missbrauch keine Sorge machen muss, da das Gewissen an die zentrale Motive Jesu gebunden bleibt. Zum anderen kann der Gläubige eine klare Grenze zur Propaganda ziehen („www.matth2323.de/propaganda“.) – und muss nicht im Interesse der eigenen Glaubensgewissheit lügen, was ihn im Gespräch mit Andersdenkenden erheblich glaubwürdiger macht. Nicht nur das, sondern er wird darin seinem Vorbild Jesu erheblich ähnlicher. Ich bin davon überzeugt, dass Jesus nie lügen würde, auch nicht im Interesse der Glaubenssicherung.

Wenn wir die Priorität der drei Maßstäbe Jesu anerkennen, so sind sie natürlich auch wichtiger als die Aufforderung der etablierten bibeltreuen Theologie, alles in der Bibel für 100% richtig und vollkommen und von göttlicher Qualität zu halten. Viele Gläubige indes befürchten ihr Vertrauen in die Bibel zu verlieren, wenn sie dieses Dogma anzweifeln. Ihre Befürchtungen vor einem Glaubensverlust lassen sich leider oft auch nicht durch Glaubensvorbilder (wie z.B. Dietrich Bonhoeffer) ausräumen, die einen starken Glauben ohne Beachtung dieses Dogmas geschenkt bekommen haben.

Deswegen verbietet es sich, aus dem Denkansatz einer schöpfungsgemäßen Inspiration ein Dogma zu machen. Wir können es nur als “Denk-Modell” anbieten, als eine Denkmöglichkeit, für die etliche sehr gute Argumente sprechen. Jeder Gläubige sollte selber – ohne Bevormundung und ohne erzwungene Anpassung – darüber entscheiden dürfen, welche Sichtweise seinem Glauben und seiner Heilsgewissheit nützlicher ist.

De facto werden Anhänger der Fehlerlosigkeitsdoktrin ebenfalls Bibelworte als weniger wichtig oder unbedeutend einstufen. Sie werden es aber in einer unauffälligen Weise tun und die Tatsache verdrängen bzw leugnen, dass auch sie mit unterschiedlicher Qualität von Bibelworten rechnen. Offiziell sollen alle Texte weiter als gleichermaßen göttlich inspiriert und heilsam gelten. Der Vorgang der Verdrängung wird am wenigsten bewusst, wenn er der Tradition gemäß von allen gleichermaßen praktiziert wird.

Für die genannten Seelsorgenotfälle steht wenig Auslegungstradition zur Verfügung. Entweder wird man eine dem Buchstaben gemäße Auslegung anbieten, die einen unbarmherzigen und armseligen Eindruck macht oder man wird eine großzügige Bewertung liefern, die aber nicht mit biblischer Autorität begründet werden kann. Das ist aber die entscheidende Voraussetzung, ohne die das verwundete Gewissen nicht zur Ruhe kommen wird.

Leider spielt der vom Ethikinstitut vorgelegte Aufsatz das Problem herunter. Er behauptet, dass der „reife Gläubige“ durch den Heiligen Geist einen Zustand der „Beinahe-Vollkommenheit“ erreichen könnte, in dem der Konflikt mit dem Buchstaben nicht mehr vorhanden ist.

 

4. Eine oberflächliche Sicht von Sünde lässt Illusionen blühen.
Diese irrige Vorstellung kann entstehen, wenn man eine sehr oberflächliche Sicht der Sünde hat und darunter nur negative Gefühlsaufwallungen versteht, Gefühle des Hasses, des Neides, der Gier, des Hochmutes usw. Solche Regungen lassen sich in der Tat auf ein Minimum zurückfahren, besonders wenn man gute Kompensationsmöglichkeiten hat.

Wenn man aber den Bereich der Unterlassungssünden ansieht, dann fällt das Bild schon wesentlich negativer aus. Wie häufig haben wir Gemeindevorstände angeschrieben und um Erlaubnis gebeten, die Mitglieder der Gemeindeversammlung über die Gefährlichkeit des Hebräerbriefes informieren zu dürfen – vergeblich.  Dabei war bisweilen noch nicht einmal die theologische Brille für die Ablehnung verantwortlich, sondern schlicht und einfach der Wunsch, den Glauben möglichst werbewirksam und positiv präsentieren zu können. Auf das Image sollte keine dunklen Flecken fallen. („www.matth2323.de/blinder-fleck“.) Nur auf diesem Weg – so hofft man – werden möglichst viele Mitglieder hinzugewonnen – was ja für Ansehen und Einfluss des Gemeindevorstandes und nicht zuletzt für die Kollekte von erheblicher Bedeutung ist.

Man beruhigt sich damit, dass es „nur so wenige“ sind, die von ihrem Gewissen zerfleischt werden. Es sind in der Tat nur wenige, aber verträgt sich die Gleichgültigkeit gegenüber ihrem schweren Leid mit dem Gebot: „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2) ? Nur wenn ein solcher Unglücksfall plötzlich die eigene Familie betrifft, wird man sich der Grausamkeit dieser Einstellung bewusst. „Wenn du ein neues Haus baust, so mache ein Geländer ringsum auf deinem Dache, damit du nicht Blutschuld auf dein Haus lädst, wenn jemand herabfällt“ (5Mo 22,8).  Ist das Schweigen zum Hebräerbrief nun als eine Bagatelle anzusehen oder ist das verantwortungslose, herzlose, scheinheilige, ohne Reue begangene Sünde ?

Auch wenn es nur ganz wenige sind, die mit solchen Problemen in der Seelsorge erscheinen, sollte ein Seelsorger darauf vorbereitet sein. Wenn keine klare Auskunft kommt, dass ist es verständlich, dass der Ratsuchende nicht wieder erscheint, sondern weiter auf der Suche nach einer Antwort herumirrt. Kein Wunder, wenn auf diese Weise in der Gemeinde der Eindruck entsteht: „Bei uns gibt es solche Nöte nicht!“

Es werden mehr Menschen geschädigt als man denkt. Viele finden in einer Gemeinde, wo für den Glauben manipuliert und bevormundet wird und wo ehrliche Fragen stören, kein Zuhause. Viele werfen den Glauben schlussendlich weg, der nicht ohne Selbstbetrug lebensfähig zu sein scheint oder sie machen von vornherein darum einen großen Bogen.

 

5. Das empfohlene Patentrezept taugt nichts!
Was gibt die Autorin nun für einen Rat? Sie verspricht sich etwas davon, wenn „der Gehorsam sich … mehr auf die eigene Identität in Christus (konzentriert), als auf das eigentliche Handeln, das diese Identität widerspiegeln soll.“ ( Seite 13, 2.Spalte oben.) Was soll dieser nebulöse Satz bedeuten ?

Ist Leben in der Freiheit Gottes wirklich nur eine Frage der theologischen Intelligenz ? Die Autorin resümiert: „Denn wer das Gehorsamshandeln vor die Gottesbeziehung stellt, hat letztendlich die Botschaft des Kreuzes und die Essenz des Christseins nicht verstanden.“ (ebd.) Der war also schlicht zu dumm für die frohe Botschaft ! Ach was !

Wer soll glauben, dass Ratschläge dieser Art den Gläubigen, deren Not oben beschrieben worden ist, zu einem Leben in der Freiheit des Geistes verhelfen werden ? Zweifellos werden viele Details über das Gesetz zusammen getragen, die nicht falsch sind, doch wozu ? Die Quintessenz der Bemühung bleibt nebulös, ein Sack voller Phrasen ohne praktischen Nährwert.

 

6. Wie ist Jesus mit dem Gesetz umgegangen ?
Hat Jesus die Menschen auch so mit dem Gesetz allein gelassen ? Ich glaube nicht. Denn wo Jesus ist, da ist wirklich Freiheit ! Hat er nicht die Vertreter des Gesetzes zurechtgewiesen, als er sagte: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ ? (Mk 2,27) Warum erscheint diese äußerst wichtige Aussage Jesu nirgends im vorliegenden Artikel ? Ist sie für die Not mit dem Gesetz nicht relevant ?

Warum fällt niemandem im Ethikinstitut dieser gravierende Mangel auf ?

Die Überschrift nennt den Aufsatz „einen Text zur Diskussion“. Doch wo sind die kritischen Gegenstimmen ? Es sind keine da. Findet die Diskussion noch statt oder ist das auch wieder nur eine Phrase ? Üblicherweise findet doch nur wieder eine zensierte Diskussion statt, eine Scheindiskussion, wo der Sieger von vornherein feststeht. Wo das geschieht, ist die Lüge zu Haus. Mit dieser Einstellung werden junge Menschen manipuliert und lernen, ihrerseits andere zu manipulieren.

Wem fällt auf, dass die ganze Art und Weise, über das Problem zu schreiben, dem Stil Jesu und der Apostel fremd ist ? Jesus und seine Jünger redeten von Herz zu Herz, voll Liebe und Erbarmen, freundlich und verständlich. „Alles Volk hörte Jesus gern.“ (Mk 12,37) Von den Lehrern zur Zeit des Nehemia heißt es: „sie legten das Gesetz so aus, dass es jedermann im Volk gut verstehen konnte“ (Neh 8,8). Kann man das über diesen – zweifellos in üblichem Stil gehaltenen – Artikel auch sagen ?

Es liegt mir fern, der Verfasserin allein die Verantwortung für diesen Artikel zuzuweisen, der den falschen Eindruck vermittelt, dass die Not mit dem Gesetz verantwortungsbewusst und kompetent angegangen wird. Man kann damit rechnen, dass solche und ähnliche Schriften in großer Zahl in einer Institution entstehen, deren monopolartige Position es erlaubt, sich gegen notwendige Korrektur abzuschotten. Sie wird nicht nur ihren Studenten durch Hierarchie und Denkverbote Anpassung nahelegen, sondern auch dem „schlichten Gläubigen“ von hoher Warte her mitteilen, was er leichtgläubig zu übernehmen habe. Eine echte Diskussion der Qualität des Erarbeiteten kann so schwerlich zustande kommen.

Eine solche Institution mag sich selbst von vornherein als die „beste aller theologischen Welten“ verstehen. Ihr Plus ist natürlich der (zu Recht) bestehende Vorwurf gegenüber der liberal-atheistischen Theologie, einen von Gott losgelösten Intellektualismus zu betreiben und auf diese Weise den Irrtum zu fördern. Doch der Verdacht will nicht verschwinden, dass hier auch ein „linientreues“, sich als „bibeltreu“ verstehendes Institut auf andere, ebenso nachteilige und unkorrigierbare Weise einem Intellektualismus verfallen ist, der sich zwar noch auf Gott und sein Wort beruft, aber mit der Geisteshaltung Jesu und seiner Jünger sehr wenig zu tun hat.

Artikel aktualisiert am 30.10.2025

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