Die Rache der Gibeoniter

Dieser biblische Text, mit dem bisher meines Wissens kaum jemand etwas anfangen konnte, eignet sich sehr gut zum Üben spirituellen Urteilsvermögens, weil er mit Hilfe der Axiome der Liebe und der Wahrheit neu bewertet werden muss.

2Sam 21 berichtet von einer Hungersnot, die – so heißt es im Text – durch eine theologisch begründete Bluttat Sauls verursacht wurde. Saul hatte etliche Gibeoniter ermorden lassen „in seinem Eifer für Israel und Juda“ (V.2). Josua hatte diesen Bewohnern des Landes Kanaan bei der Eroberung mit einem Eid zugesichert, dass sie am Leben bleiben sollten (Jos 9,15). Saul hielt sich nicht an diesen Eid – aus theologischen Gründen – denn der Eid war nur mit Hilfe eines Betruges zustande gekommen (Jos 9,11ff) Mit dem Einhalten von Eiden nahm es Saul sehr genau, wollte er doch seinen eigenen Sohn mit dem Tode bestrafen, als er – ohne es zu ahnen – gegen den Wortlaut seines Schwurs verstieß (1.Sam 14,24-28 / VV.37ff). Gott schien über diesen versehentlichen Verstoß ja auch zornig zu sein, denn „er antwortete Saul an diesem Tag nicht mehr“ (V.37). Saul nun hielt es für frömmer, die Gibeoniter nach­träglich auszurotten, obwohl sie Josua am Leben gelassen hatte. Ein Irrtum, den Gott mit einer drei Jahre dauernden Hungersnot im Lande bestraft haben soll.

Positiv ist hier zunächst zu sehen, dass ein lange zurückliegendes Verbrechen von Gott nicht vergessen worden ist. Zu Recht verlangt er, dass die Angelegenheit in Ordnung gebracht wird.

Doch wird sie in Ordnung gebracht? Die Gibeoniter forderten von König David, sieben Nachkommen Sauls herauszugeben, um diese zum Ausgleich hinzurichten. Zunächst vermutet der Leser, dass es sich bei den Getöteten um die Mörder gehandelt habe. In diesem Fall wäre die Hinrichtung die vom Gesetz vorgesehene Strafe.

Doch dann stößt der Leser auf eine Textstelle, die zutiefst schockiert, weil sie erkennen lässt, dass die Hinrichtung willkürlich war. Mephi­boseth (2.Sam 4,4), der nun aufgrund seiner Verkrüppelung im Alter von fünf (!) Jahren (2.Sam 4,4) sicherlich kein Soldat gewesen war und sich folglich auch keiner Mordtaten im Krieg schuldig gemacht haben kann, blieb nur deshalb verschont, weil er zufällig der Sohn Jonathans war (2.Sam 21,7)!

Diese Begründung beweist, dass keine Namensverwechslung mit dem zweiten Mephiboseth, der ein Sohn Sauls war (V.8), in Frage kommt.

Bei dem Todesurteil wurde nach persönlicher Schuld gar nicht gefragt. Die Opfer wurden willkürlich ausgewählt. Es handelte es hier um Sippenhaft! Nur durch glückliche Umstände blieb der verkrüppelte Mephiboseth am Leben. Bei den anderen wurde dieses willkürliche Urteil vollstreckt. Die Gibeoniter bekamen, was sie wollten und „hängten die Söhne Sauls auf dem Berge vor dem Herrn auf“ (2.Sam 21,9).

Lapidar heißt es am Ende der Geschichte „und danach wurde Gott dem Land wieder gnädig“ (2.Sam 21,14). Hat David tatsächlich mit dieser unsäglichen Rache an schuldlosen Menschen den heiligen Gott zufriedengestellt?

Eine archaische, gruselige Geschichte, deren Sinn nur schwer zu verstehen ist ! Wie das Buch Josua berichtet, sollten die Gibeoniter eigentlich ausgerottet werden. Sie entgingen der Vernichtung, weil sie die Israeliten mit einem Betrug zu einem Eid verleiteten, sie zu verschonen. (Jos 9) Saul hat diesen Eid nicht anerkannt und wollte den ursprünglichen Willen Gottes ausführen. Damit ist er weitaus konsequenter als König Saul. der diesen Befehl nur halbherzig ausführte und deshalb sein Königtum verlor. (1.Sam 15)

Wegen diesem Schutzeid, den Saul nicht respektierte, wollte nun Gott, dass alle seine Söhne ihr Leben verlieren ? Das ist schwer zu glauben.

Denn David respektierte selbst den Schutzeid nicht, den er – in einem Augenblick der Selbsterkenntnis (2.Sam 16,10) – dem Simei gegeben hatte. Auf dem Sterbebett (!) beauftragte David in größter Seelen­ruhe seinen Sohn Salomo mit der Ermordung Simeis (2.Sam 19,22-24). Er hatte die Beschimpfung Simeis nie vergessen und vergeben. Aus der Sicht Jesu begeht David damit dieselbe unverzeihliche Sünde, deren sich der „Schalks­knecht“ schuldig gemacht hatte (Mt 18,23ff).

Wieder wird ein Schutzeid verletzt, der beim heiligen Gott geschworen wurde ! Warum kommt jetzt keine Hungersnot oder andere Katastrophe, die nur durch die Hinrichtung der Söhne Salomos zu beenden ist ? Warum geschieht hier keine Sippenhaft ?

Der sorgfältige Bibelleser weiß, dass Sippenhaft in jedem Fall gottlos ist. Sippenhaft ist selbst wieder ein Verbrechen, das im Wider­spruch zum heiligen Gottesgesetz steht. Denn dort heißt es unmissverständlich: “Eltern sollen nicht für die Verbrechen ihrer Kinder hingerichtet werden und Kinder nicht für die Schuld ihrer Eltern. Jeder soll nur für seine eigenen Sünde bestraft werden.” (5.Mo 24,16).

Dieses Gebot darf man als ein Versprechen Gottes sehen, dass allen Kindern der Israeliten gegeben wurde. Gleichgültig wie schwer sich Vater oder Mutter versündigt hatten, jedes Kind hatte das Recht, nicht für die Schuld ihrer Eltern zu büßen.

Das ist das Verstörende an dieser Geschichte: wenn Gott den Gibeoniter das Recht zugestanden hatte, an den Kindern Rache zu nehmen, so heißt das: dass ein wichtiges Schutzgesetz willkürlich aufgehoben werden kann. Woher soll der Leser dann wissen, dass Gott nicht auch andere Zusagen willkürlich und beliebig aufheben kann.

Woher soll er das wissen ?

Das ist die verstörende Schlussfolgerung aus dieser Geschichte.

Gehen wir umgekehrt davon aus, dass Gott seine im Gesetz verbrieften Zusagen niemals aufheben wird, sondern dass sie zuverlässig und ausnahmslos gültig sind, dann kann Gott diesen Sippenhaftbefehl nicht gegeben haben.

Auch hier sind wir wie bei der Unterscheidung von vorläufigen und letztgültigen Aussagen mit der Frage konfrontiert: „Muss man alles in der Bibel glauben ?“

Für den, der glauben möchte, dass jeder Satz der Bibel in einem endgültigen Lehrsatz-Stil geschrieben ist, ein unlösbares Dilemma ! Wie soll er Gläubigen, die aufgrund dieser Geschichte Angst bekommen, dass Gott seine Zusagen möglicherweise nicht einhält, Orientierung geben ?

Die Tatsache, dass auf diese Weise die Zuverlässigkeit der Bibel bestätigt ist, ist nur ein theoretischer Gewinn. Der Gläubige, der Angst bekommt, wird zwar nicht an der Bibel, dafür aber an Gott zweifeln.

Dies führt uns zum Umkehrschluss: es gibt Sätze und Textpasssagen, die nicht im endgültigen Lehrsatz-Stil geschrieben sind. Anders können wir den Text nicht aufschließen. Es hat Gott gefallen, hier ein Stück „Hofberichterstattung“ in die Bibel aufzunehmen.

Warum sollte das nicht „zulässig“ sein? Es gibt wie gesagt Fernsehsender, die Filme aus Krisengebieten senden mit dem Untertitel „No comment„. Es gibt keine Kommentierung des Reporters, man hört stattdessen den Life-Sound: Strassengeräusche, Gesprächsfetzen, und Meinungsäußerungen von einzelnen Personen, die die Kamera ins Visier nimmt.

Wir haben es bei der Gibeonitergeschichte mit einer Meinungsäußerung zu tun, mit einer (von politischen Interessen geformten) Schilderung der Begebenheiten aus der Sicht und nach dem Wunsch Davids. Parallel sehen wir im Neuen Testament, dass auch Paulus seine Meinung kundtun durfte. (1.Kor 7).

Es gibt keinen Beweis dafür, dass Gott nicht gestattet ist, Hofberichterstattung oder Meinungsäußerungen in sein Heiliges Wort aufzunehmen. Dadurch wird das, was im endgültigen Lehrsatz-Stil gesagt wurde, nicht unzuverlässig.

Wenn den Gläubigen beim Lesen das ungute Gefühl beschleicht, dass in der Gibeoniter-Geschichte der Wurm steckt, so macht das Sinn. Der Leser ist gezwungen, den tatsächlichen Sachverhalt zu rekonstruieren. Dazu muss er auf feinste Unstimmigkeiten achten und seine Maßstäbe immer wieder neu ausrichten mit Hilfe von Aussagen, die im endgültigen Lehrsatz-Stil verfasst und absolut zuverlässig sind.

Das ist richtige Detektivarbeit. Sie schult das Urteilsvermögen ungemein ! Das ist das Interesse Gottes an dieser Geschichte. Seine Gläubigen sollen lernen, nicht auf alles und jeden hereinzufallen.

Sehen wir doch einmal genau hin!

Auffällig ist, dass Gott zunächst David präzise über die Ursache der Hungersnot informiert haben soll: der Grund seien Sauls militärische Maßnahmen gegen die Gibeoniter (V.1). Als es nun aber um die Fest­legung der angemessenen Sühne dafür ging, schwieg sich Gott urplötzlich aus. Offenbar wurde er zu diesem wichtigen Punkt erst gar nicht befragt. Dabei ist er doch in erster Linie der, der zufriedengestellt werden muss. Er ist derjenige, der genauestens in seinem Gesetz vorgeschrieben hatte, bei welchem Vergehen welche Sühnehandlung angemessen war (vgl 3.Mo 5)!

Statt­ dessen befragte David die Gibeoniter! Theologische Ignoranten! Warum sollten nun gerade diese Leute, die dem jüdischen Glauben distanziert gegenüber standen und sich deshalb auch Sauls fromme Aggression zugezogen hatten, über theologische Einsicht verfügen und etwas wissen, was David selbst nicht wusste?

Die Siebenzahl der Hingerichteten kann als Versuch verstanden werden, die fragwürdige Aktion mit frommer Symbolik als Gott wohlgefälliges Werk zu deklarieren.

Doch das, was die Gibeoniter als Sühne vorschlugen, war kein Gott wohlgefälliges Werk, keine wirksame Sühnehandlung, sondern ein schweres Verbrechen gegen ein wichtiges Schutzgesetz. David wusste genau Bescheid.

Nach der Hinrichtung blieben die Leichen noch tagelang am Galgen hängen, was ebenfalls im deutlichen Widersprung zum Gesetz stand (5.Mo 21,22-23). Manche Ausleger – wie z.B. Keil/Delitzsch – sind der Ansicht, dass auf diese Weise die Entsühnung des Landes aller Welt vor Augen geführt werden sollte .

Da ist zu fragen: woher stammt die Information, dass das nötig und erlaubt war? Hat sich Gott hierzu doch wieder geäußert, nachdem er zur Form der Sühne geschwiegen hatte ?

Wahrscheinlich ist jedenfalls, dass David selbst Soldaten unter den Galgen postiert hat, die die Beerdigung verhindern sollten. Andernfalls hätten die Anhänger der Familie Sauls die Gehenkten noch am selben Abend abgenommen und der schändlichen Schaustellung ein Ende gemacht. Für die Frau, die bei den Galgen blieb und Tiere und Vögel abwehrte (V.10), hatten die Soldaten keine Anweisungen. Sie duldeten es also und berichteten es später David. Der ließ daraufhin – eine “groß­zügige” Geste – die Überreste bestatten (V. 13-14).

Lässt man das „Fromme“ an dieser Geschichte weg, so bleibt das nackte Faktum stehen, dass David zielstrebig seine politischen Konkurrenten aus dem Hause Saul beseitigte. Die öffentliche Aufhängung sollte auch dem letzten Sympathisanten der Saul’schen Sippe vor Augen führen, dass von dieser Königsfamilie nichts mehr zu erwarten war.

Irgendwas stimmt in dem Bericht von David nicht. Wie es tatsächlich gewesen ist, hat uns der Autor der Bibel nicht verraten. Der Gläubige soll selber – so gut er kann – mit Hilfe biblischer Maßstäbe “ermitteln”, d.h. Tatsachen von Behauptung und Recht von Unrecht unterscheiden. Was “ermittelt” und erarbeitet werden muss, darf nicht von vornherein bekannt sein! Wäre alles klar, dann bräuchte der Leser nur noch zuzustimmen. Was wäre damit pädagogisch gewonnen? Genauso viel, als wenn – wie bereits gesagt – ein Lehrer vor der Klassenarbeit einen Zettel mit den fertigen Lösungen austeilen würde!

Der Gläubige kann an solchen Texten seine Urteilskraft schärfen. Er kann sich damit keine völlige Gewissheit, wie es in diesem Fall tatsächlich gewesen ist, erarbeiten. Denn es können keine lebenden Zeugen mehr befragt werden. Er wird also nur zum Ergebnis einer gut oder weniger gut begründeten Vermutung gelangen. Nicht die Wiederherstellung eines 100% genauen historischen Textes ist der Zweck der Übung, sondern die Verbesserung der Urteilskraft!

Die Bibel ist nun einmal kein Auskunftsbüro. Sie hat einen klaren pädagogischen Auftrag, der in knappem Zeitrahmen effizient zu bewältigen ist.

Im folgenden nun der Versuch einer “kriminalistischen” Rekonstruktion der Ereignisse:

Um das Volk der Gibeoniter zu dezimieren, hat Saul natürlich Truppen eingesetzt. Diese Israeliten aber waren genauso schuldig wie Saul, da sie ja alle den Eid kannten, auf den Josua sein ganzes Volk verpflichtet hatte (Jos 9,26).

Warum verzichteten die Gibeoniter darauf (2.Sam 21,4), diese Leute zur Rechen­schaft zu ziehen? Wahr­ scheinlich waren es zu viele, die an dem Feldzug teilgenommen hatten, sodass ihre Bestra fung, zu der David nach dem Gesetz verpflichtet gewesen wäre (4.Mo 35,31), politisch nicht durchsetzbar war. Und der Anstifter des Massakers – Saul – konnte nicht mehr bestraft werden, denn er war im Kampf gegen die Philister bereits gefallen (1.Sam 31,5).

War aber das im Gesetz dringend Gebotene – Blutschuld nur mit der Hinrichtung des Täters zu sühnen (4.Mo 35,31) – nicht durchsetzbar, dann hätte er zumindest auf die gebräuchliche Alternative zurückgreifen müssen, nämlich zur Zahlung eines Sühnegeldes. Daran ändert nichts, dass die Sühnung einer Blutschuld mit Geld in der genannten Bibelstelle ausdrücklich verboten wird. Blutschuld mit Mord zu sühnen, wäre das weitaus größere Übel. Dadurch wäre das Land ja erneut verunreinigt.

In diesem Konflikt kann sich ein Gott gehorsamer Mensch nur für die weniger schlimme Variante entscheiden. Ähnliche Beispiele: Im Alten Testament werden Gläubige für eine Notlüge belohnt, mit der sie Verfolgte geschützt haben (2.Mo 1,19-21 ). Für Jesus war es keine Frage, dass das sehr strenge Sabbatgebot (Todesstrafe! (2.Mo 31,15) gebrochen werden darf, um jemandem in seiner Not zu helfen (Mk 3,4 ) Seine Worte legen sogar nahe, dass nichts dagegen einzu­ wenden ist, wenn man am Sabbat einem Schaf, das in den Brunnen gefallen war, heraushilft (Mt 12,11).

Deshalb kommt also auch für die Gibeoniter nur ein finanzieller Aus­gleich in Frage. Einst waren die Gibeoniter zur Strafe für den durch Täuschung erschlichenen Eid zu ewigem Sklavendienst verpflichtet worden (Jos 9,23). Da Saul diesen Eid gebrochen hatte, hätte David den betreffenden Familien die Befreiung vom Sklavendienst anbieten können. Darüber hinaus wäre es angemessen gewesen, Steuerfreiheit oder Steuer­ermäßigung (vgl. 1.Sam 17,25) zum Ausgleich des Verlustes an Arbeitskraft zu gewähren.

Die Gibeoniter mögen ja als echte Heiden so von Unversöhnlichkeit erfüllt gewesen sein, dass sie die Blutrache einer großzügigen finanziellen Entschädigung vorzogen! Vielleicht hätten sie sich aber auch nach einigem Hin- und Her von dem langfristigen Vorteil der unblutigen und bibelgemäßen Lösung überzeugen lassen. Doch wollte David sie über zeugen?

David will glaubhaft machen, dass ihm keine andere Lösung als die im Gesetz verbotene Sippenhaft zur Verfügung stand, dass er keine andere Wahl hatte, als dazu schweren Herzens seine Zustimmung zu geben. Solange die Gibeoniter nicht einen Segen über Israel ausgesprochen hätten, wäre das Land weiter verflucht (V.3). So stellt es sein Bericht dar. Muss der Bibelleser das glauben?

Einst hatten die Moabiter den Propheten Bileam gebeten, Israel für sie zu verfluchen. Das Ergebnis dieser Bemühung war die Erkenntnis, dass Israel unter dem Schutz Gottes steht und nicht verflucht werden kann: “Gesegnet sei, wer dich segnet, und verflucht, wer dich verflucht!” (4.Mo 24,9). Was hätte da der Fluch der Gibeoniter bewirken können? Sie sind ja weiter gottlose Heiden geblieben – und deswegen ja auch von Saul verfolgt worden.

Somit existiert der von David präsentierte tragische Entscheidungszwang überhaupt nicht. Hier werden nur abergläubische Klischees bemüht. Es mag sogar sein, dass er die Gibeoniter lange Zeit mit scheinheiligen theologischen Bedenken hingehalten hat, die dann soviel Hass und Rachsucht wiederaufflammen ließen, dass die Gibeoniter zu guter Letzt selbst nichts mehr von einer finanziellen Lösung wissen wollten. Für David, der dieses Ergebnis von vorherein angestrebt hat, war es erstens billiger. Zweitens war ihm sehr daran gelegen, den langen Kampf (2.Sam 3,1) zwischen ihm und den Anhängern Sauls baldmöglichst zum Ende zu bringen – notfalls auch mit einem fromm getarnten Justizmord.

Eins ist jedenfalls sicher: wenn David tatsächlich so gehandelt hat, wie berichtet wurde, dann ist bei ihm – genauso wie bei seinem Sohn Salomo – ab einem gewissen Zeitpunkt offen­ sichtlich eine nicht mehr korrigierbare charakterliche Degeneration festzustellen (offiziell wird das aller­dings bestritten: 1.Kö 15,5). Möglicherweise ist es seit Ehebruch und Auftragsmord (2.Sam 11,1ff) mit ihm weiter bergab gegangen. Er hat sein Tun zwar bereut (1.Sam 11,13), und auch Gewissensnöte deswegen empfunden (Ps 51), aber solche Reue kann – besonders bei charakterlicher Abstumpfung – leicht in einem selbstmitleidigen Vorstadium stecken­ bleiben.

Einst hatte David König Saul zweimal verschont, obwohl ihn Saul töten wollte (1.Sam 24/ 26). Hier ist aber einzuwenden, dass es für seine Milde einen ganz wichtigen strategischen Grund gab: David fürchtete Königsmord (2.Sam 1,14-16). Die Stabilität der Monarchie wäre schon in ihrem Anfang gefährdet gewesen, wenn er gleich mit der Ermordung des ersten Königs Israels einen üblen Präzedenzfall geschaffen hätte. Das hätte den Glanz seiner gött­ lichen Erwählung, die der alte Samuel vor aller Augen mit einer Salbung symbolisiert hatte (1.Sam 16,13a), beschmutzt und entwertet. Auf die Legitimation „von Gottes Gnaden“ wollte und konnte David nicht verzichten, zumal große Teile des Volkes zu Saul hielten (2.Sam 2). Das ist der Grund, warum er auch alle, die in eigener Regie einen Nachkommen Sauls töteten, hinrichten ließ (2.Sam 4). Ja, er ließ sogar – eine große dramatische Geste – den Mann töten, der ihm berichtete, dass er Saul auf dessen eigenen Wunsch getötet hatte (1.Sam 1,14). Diese Art „Feindesliebe“ ist publikumswirksame “Öffentlichkeitsarbeit!” Nur den Gibeonitern erlaubte David den Mord – dann aber gleich siebenfach.

In vielen Gemeinden gilt David bis heute als das Vorzeige­ beispiel für praktizierte Feindesliebe. Saul hat es damals – den sicheren Tod vor Augen – so empfunden (1.Sam 24,17).

Wer sich mit der gesamten Davidsgeschichte näher befasst, kommt zu einem anderen Urteil. Normalen Mitbürgern wurde die berichtete Großzügigkeit nämlich nicht zuteil. Nachdem ihm Nabal Unter­stützung versagt hatte, schwor David, “nichts Männliches [!] in seiner Familie am Leben zu lassen” (1.Sam 25,22). Hier hätten alle blutig mitbüßen müssen – Verwandte, Kinder und Knechte! Alles Menschen, die die Entscheidung des Nabal gar nicht zu verantworten hatten. Nabal hatte ja nicht einmal auf die Warnung seiner eigenen Frau gehört. Dennoch hätte David seinen grauenhaften Schwur zweifelsohne wahrgemacht, wenn ihn Abigail nicht rechtzeitig ange­troffen hätte (V.34!). Nur der Zufall hat sie gerettet!

Warum auch nicht? “Nabal” ist das hebräische Wort für “Narr”. Nabal war eine Null, seine Leute waren folglich auch Nullen: nach ihnen hätte kein Hahn gekräht. Dass David leichtfertig und gerne Blut vergoss, war später der Grund, dass er für den Tempelbau nicht in Frage kam (1.Chr 22,8!). Die Chronik berichtet hierin objektiver als Salomo, der den Verzicht Davids damit begründet, dass die mit Davids Kriegen verbundene Unsicherheit den Tempelbau verhindert habe (1.Kö 5,17).

Erleidet die Glaubwürdigkeit der Psalmen dadurch Schaden? Die Psalmen Davids zeigen geistliche Kraft. Wenn er die Kreuzigung Jesu prophetisch beschreibt (Ps 22), haben wir es mit endgültigem, zuverlässigen Lehrsatz-Stil zu tun. Im alten Testament wird offensichtlich geistliche Kraft unter anderen Bedingungen verliehen als im Neuen Testament. Ein Jünger Jesu muss sich vom Bösen distanzieren, um mit Gottes Geist erfüllt zu werden. Bei Simson sehen wir, dass er weiter über die Kraft des Heiligen Geistes verfügen konnte, obwohl er sich entgegen dem ausdrücklichen Gebot Gottes und seiner Eltern mit Huren und heidnischen Frauen einließ. (Ri 16) Gleichwohl wird auch vom im Alten Testament vom Verlust der Kraft Gottes infolge von Sünde berichtet. (Bericht von Achan in Jos 7).

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert