Anonymus – das Grauen ließ mich nicht mehr los

Ich ging als Jugendlicher in einen evangelikalen Jugendkreis, in dem man uns belehrte, dass die Bibel Gottes irrtumsloser Brief an die Menschheit sei. Auf dem Büchertisch in der Gemeinde wurden Bücher von Wilhelm Gottwald, Francis Schaeffer, A.E. Wilder-Smith, Gerhard Maier, Georg Huntemann und Rene Pache präsentiert, die für diese Sichtweise Argumente zusammentrugen. Für uns war klar, dass der Zweifel an Aussagen der Bibel zutiefst gottlos sei. Und wer gottlos lebte, der war für die ewige Qual in der Hölle bestimmt.

Der Pastor der Gemeinde sah auch die Mitglieder des Jugendkreises in der Verantwortung. Wir sollten unseren christlichen Glauben offen unsern Mitschülern bekennen, damit sie auch die Chance hätten gerettet zu werden. Würden wir das unterlassen, so hätten wir wie einst der Prophet Hesekiel mit strengster Bestrafung zu rechnen.  Er las uns die betreffende Stelle aus dem Hesekielbuch vor: „Wenn ich nun zu dem Gottlosen sage: Du Gottloser musst des Todes sterben!, und du sagst ihm das nicht, um den Gottlosen vor seinem Wege zu warnen, so wird er, der Gottlose, um seiner Sünde willen sterben, aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern. 9 Warnst du aber den Gottlosen vor seinem Wege, dass er von ihm umkehre, und er will von seinem Wege nicht umkehren, so wird er um seiner Sünde willen sterben, aber du hast dein Leben errettet.“ (Hes. 33,8-9) Ich hatte nun überhaupt keine Lust, öffentlich von meinem Glauben zu erzählen und mich damit möglicherweise zu blamieren. Aber ich tat es schließlich doch, weil ich die Aussicht, deswegen unter dem Zorn Gottes zu stehen, unerträglich fand. So „bepredigte“ ich schließlich meine Mitschüler und erzählte von der Liebe Gottes. Das, was ich sagte, schien wenig überzeugend gewesen zu sein, nämlich dass uns ein Gott lieben würde, der vorhatte, fast die gesamte Menschheit – wenige Auserwählte ausgenommen – ewig in der Hölle zu foltern.

Dieses Argument konnte ich nicht widerlegen, aber zumindest hatte ich immer wieder einmal Freude über die Vergebung erlebt und dieses einzigartige Gefühl bewahrte in mir irgendwie den Glauben, dass ich ein Recht hatte von Gottes Liebe zu reden. Aber die Vorstellung, dass meine Mitschüler, die einfach keine Antenne für Gott zu haben schienen, dereinst ewig gefoltert werden würden, ließ doch immer mehr Grauen in mir entstehen, sodass ich außerstande war, irgendeinen privaten freundschaftlichen Kontakt mit irgendjemandem von ihnen aufzunehmen. Ich zog mich völlig in den Jugendkreis zurück, wo dieser Gedanke mich nicht mehr quälte, weil dort überwiegend Leute waren, die ich dereinst im Himmel wiedersehen würde.

Indes leuchtete mir immer weniger ein, dass ein Bekehrungsgebet, das aus egoistischem Interesse gesprochen wurde, nämlich Schuldgefühle abzubauen und nicht in die Hölle zu kommen, das alles entscheidende Verdienst sein sollte, mit dem man sich vor dem Trip zur Hölle rettete. In der Bibel stieß ich in der Tat auf höchst anspruchsvolle Forderungen, die mir Angst einjagten, Forderungen der völligen Selbstverleugnung und Selbstaufgabe. Es genügte nicht „Herr, Herr“ zu sagen, man musste Taten aufzuweisen haben, sonst blieb die Himmelstür zu (Mt 7,22), Taten der völligen Selbstverleugnung und völligen Selbsthingabe. Ja man musste sich so sehr verleugnen, dass man zu den „Elendesten aller Menschen“ gerechnet werden würde (1Kor 15,19), dass es einem „Verlieren des eigenen Lebens“ gleichkam. (Luk 9,24) Ja, man musste sogar bereit sein, für den Glauben zu sterben, falls es der Antichrist es verlangte, wenn man nicht in der Hölle landen wollte. (Offb 14,11). Überhaupt musste auch alles Gute, was das Gewissen verlangte, getan werden, sonst beging man eine Sünde, die Gemeinschaft mit Gott unmöglich machte (Jak 4,17).

Ohne Zweifel war es gut, alles Materielle, so weit es irgend ging, zu opfern, damit Menschen nicht hungern müssten.  Jesus hatte in völliger Armut gelebt, auch der Apostel Paulus sprach von sich und seinen Brüdern als Menschen, die „nichts haben und doch alles haben“ (2Kor 6,10). Der reiche Jüngling scheiterte an der Forderung, „allen Besitz aufzugeben und Jesus nachzufolgen“ und deswegen konnte er „nicht gerettet“ werden. (Mk 10,25-26) Dass sich meine Glaubensgeschwister mit der Abgabe des Zehnten begnügten, half mir nicht. Denn mein Gewissen verlangte 99%. Und wie beim Verbot des Götzenopferfleisches war der skrupelhafte Gläubige verpflichtet, seinem engen Gewissen zu folgen. Er durfte sich nicht am weiten Gewissen der anderen orientieren, wenn er nicht selbst zugrunde gehen wollte (Röm 14, 14-15). An dieser Stelle schnappte die Falle, in der sich meine Seele befand, sehr bald endgültig zu.  Ich konnte nicht völlig selbstlos leben und ich konnte auch nicht mehr glauben, dass ich zu den Erwählten gehörte, für die der Himmel vorgesehen war. Ich konnte auch diesen Gott, der mich tagtäglich bedrohte und erpresste, nicht mehr lieben. Und als Mensch, der Gott nicht lieben konnte, gehörte ich zu den Verfluchten. (1Kor 16,22) Auf den Verfluchten wartete die Hölle – was sonst? Ich kam aus dem Grauen vor der Hölle nicht mehr heraus.

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