Das Gesetz erzeugt Illusionen!

Das gesamte jüdische Kultgesetz ließ die Selbsttäuschung blühen, denn es ließ überhaupt nicht erkennen, dass es eine nur vorläufige Frömmigkeit vermittelte. Im Gegenteil! Begünstigte es nicht damit ein fürchterliches Missverständnis? Paulus war vor seiner Bekehrung darauf hereingefallen. Er hielt die Christen für Irrlehrer und verfolgte sie. Es war niederschmetternd, als ihm plötzlich die Augen aufgingen.

Durch dreierlei kam dieser falsche Eindruck zustande. Erstens war es nicht das Liebesgebot, sondern das symbolische Gesetz, das Israel von den übrigen Völkern unterschied und seine Erwählung bezeugte. Zweitens war das symbolische Gesetz weit ausführlicher in die Einzelheiten hinein ausgebildet als die Liebe betreffende Gebote. Wenn der Verfasser des Gesetzes sich mit dem symbolischen Gesetz so viel Mühe gemacht hatte, dann schien es ihm ja besonders wichtig zu sein. Drittens ist aus dem symbolischen Gesetz selbst heraus nicht erkennbar, das es später zugunsten des Liebesgebots aufgelöst werden wird. Es erweckt den täuschenden Eindruck, als ob es in Ewigkeit gilt (“Ewigkeitsillusion”).

Die Betonung des symbolischen Gesetzes vermittelte also den Eindruck, dass die wahre Frömmigkeit im wesentlichen in der fehlerlosen Beobachtung eines umfassenden Rituals bestand. Dem Liebesgebot blieb nur die Nebenrolle eines weniger praktizierbaren Ideals.

In der Folge kommt es zu weiteren Illusionen. Da das Liebesgebot unterbelichtet war, entstand der Eindruck, dass es möglich sei, das Gesetz zu halten (“Erfüllungsillusion”). Das mosaische Gesetz wehrt diesem falschen Eindruck nicht. Die Anforderungen werden als leicht bezeichnet (5.Mo 30,11), was ja – bei oberflächlicher Beachtung des Liebesgebotes – auch zutrifft. Wer Gewissensbisse hatte, konnte sich damit beruhigen, dass das Tieropfer, das der Hohepriester einmal im Jahr darbrachte, sämtliche Schuld des Jahres (!) sühnte (3.Mo 16, 30+34). So verheißt es das Gesetz. Kam das Gewissen wegen der Schwere der Schuld dennoch nicht zur Ruhe, so gab es die Möglichkeit, zusätzlich noch ein eigenes Tieropfer darzubringen (3.Mo 4,1ff). David hat nach der Ermordung Urias zum ersten Mal an der Wirksamkeit dieser Opfer gezweifelt (Ps 51,18-19 / vgl Heb 10,4). Für andere Gläubige, die das Recht mit Füßen traten, diente dagegen der Opferkult als billige Gewissensentlastung (Am 5,22-24).

Weiter lässt das Gesetz den falschen Eindruck entstehen, dass sein Fluch, mit dem es den Ungehorsamen bedroht, durch Eifer und zufriedenstellenden Gehorsam abgewendet werden könne. “Befolgt meine … Gebote; denn sie werden dem Menschen, der sich nach ihnen richtet, das Leben bringen” (3.Mo 18,5). Dieser Satz hatte im mosaischen Gesetz eine positive Bedeutung und wurde auch immer als Verheißung verstanden. Erst Paulus entdeckte, dass die Verheißung des Gesetzes tatsächlich ein Todesurteil war: weil niemand all das in zufriedenstellendem Maße tun könne, was das Gesetz fordert (Rö 3,11+19+20), könne auch niemand am Leben bleiben!

Dessen ungeachtet hat Gott immer wieder gesegnet, obwohl die Bedingung, die das Gesetz stellte, eigentlich nicht erfüllt worden war. Die Gnade, die nicht aufgrund von Werken verliehen wird (Eph 2,8+9), wird somit schon im alten Bund gewährt. Sie ist jedoch dort nur aus der Geschichte zu erkennen und nicht aus dem Gesetz heraus. Wer nun über den äußerlichen Gehorsam nicht hinauskam, verfiel einer weiteren Selbsttäuschung: Er musste aus den Segnungen gerade den verkehrten Schluss ziehen, dass das Gesetz erfüllbar und der Segen verdienbar sei. Er musste annehmen, dass die äußerliche Gesetzeserfüllung Gott gefällt (“Qualitätsillusion” oder “Freiheitsillusion“). Das missverstandene mosaische Kultgesetz hängt wie eine undurchdringliche “Decke” vor den Augen der Gläubigen (2.Kor 3,15) Und zwar für Jahrhunderte!

Die mit dem Gesetz verbundenen Illusionen sind ein Beweis für das Phänomen der Selbstverstärkung.

Zur Zeit des Paulus waren etliche Christen tatsächlich der Meinung, dass sie besser und gläubiger waren als die Vertreter jüdischer Gesetzlichkeit (vgl. Rö 3,9ff). Doch damit irrten sie sich gewaltig (Rö 11,20-21). Auch in der christlichen Gemeinde wird  scheinbare Frömmigkeit ständig gerne mit echtem Glauben verwechselt (Mt 7,21 / Jak 2,14 / Off 3, 1+17). Auch dort hat man große Mühe, sich manipulativer Tendenzen und Methoden zu erwehren!

Artikel aktualisiert am 25.04.2018

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