19. Behauptung: “Zwanghafte Lästergedanken sind ein Beweis, dass der Gläubige vom Satan besessen ist. Er kann nur durch Exorzismus befreit werden.”
Es ist doch sonnenklar. Lästerung ist eine Entwürdigung Gottes und wer anderes als der Satan könnte dahinter stecken? Und wenn der Gläubige diese Gedanken nicht will, aber dennoch aussprechen muss, so kann doch nur eine viel stärkere Macht als er selbst in ihm wirksam sein und diese Macht ist nicht gut, sondern böse!
Tatsächlich? Ein gläubiger Mensch möchte Gott loben und gut von ihm reden und findet Gedanken, die Gott beschimpfen, natürlich sehr störend. Doch woher kommen diese Gedanken? Dass man etwas denken muss, was man nicht denken will, ist ein bekanntes Phänomen. Sagen Sie einem Mann, dass er auf keinen Fall an eine große Frauenbrust denken soll und er wird sofort und wiederholt daran denken. Und je mehr Energie er darauf verschwendet, eben das nicht zu denken, desto mehr wird ihn diese Vorstellung beschäftigen. Es ist wie ein Sog. Dieser Mechanismus funktioniert mit allen Gedanken, die mit starken Emotionen verbunden sind, mit lustigen, aber auch mit beschämenden und erschreckenden Gedanken. Die Person Gottes muss dabei gar nicht vorkommen.
Die Neigung zu solchen Gedanken kann verstärkt werden durch dazu passende Erlebnisse. Nehmen wir an, jemand war mit einer sehr attraktiven Frau liiert, aber leider hat sie sich von ihm getrennt. Je schöner die gemeinsame Zeit war, desto mehr wird dem Betreffenden das sexuelle Defizit schmerzhaft bewusst. Man darf annehmen, dass ihn deshalb sexuelle Phantasien viel mehr beschäftigen. Wenn jetzt ein Gläubige stark unter religiösen Zwängen leidet, sich durch vermeintlich biblische, aber unbarmherzige Theologie ständig überfordert sieht, und – so sehr er es auch wünscht – Gott gar nicht mehr als liebevollen Vater, sondern eher als Tyrann empfindet, dann wird er gegenüber negativen Gedanken über Gott immer weniger Widerstandskraft haben. Er erkennt diesen Zusammenhang und fühlt sich schuldig, da er die Forderungen der vermeintlich biblischen Theologie nicht erfüllt. Würde er sie alle erfüllen, dann könnte er ja auch positiv über Gott denken. Er erkennt nicht, dass das Gebot, “vollkommen zu sein” (Mt 5,48) gar nicht erfüllt werden kann, und hat nie erfahren, wie Sätze dieser Art tatsächlich gemeint sind.
Vollends verzweifelt wird seine Situation, wenn sich die beschimpfenden Gedanken gegen den Heiligen Geist richten, da er weiß, dass die Lästerung des Heiligen Geistes eine Sünde ist, die “niemals mehr vergeben werden kann“. (Mt 12,36) Da er meint, wegen mangelnder Vollkommenheit für diese Gedanken trotz allen Widerstandes teilweise verantwortlich zu sein, kreist sein Denken bald ständig um dieses Thema. Die einzige Möglichkeit, jeden Verdacht einer Mitschuld – der die Seele unheilbar belasten würde – auszuschließen, ist die sofortige Korrektur des Gedankens. Wenn er immer sofort das Gegenteil gedacht hat, dann hat er sich und Gott den Beweis erbracht, dass er die Lästerung nicht wollte. Nur so kann er seinen Seelenfrieden retten. Seine große Angst ist, dass Gott eine einzige ausbleibende Korrektur als Zustimmung werten konnte. Man kann sich leicht vorstellen, wie extrem stark der Sog solcher Gedankengänge und wie grausam diese ständig überfordernde Zwangslage ist. Faktisch ist es aber derselbe Mechanismus, den es auch in harmloser Form bei jedem Menschen gibt.
Solche Ängste sind nur möglich, wenn der Gläubige kein verlässliches, positives Gottesbild bilden konnte. Das Gottesbild wird geprägt durch die Theologie, aber auch durch die Biographie. Einem Mensch, der ein weitgehend störungsfreies Leben führen durfte, fällt es nicht schwer, an einen freundlichen und liebevollen Vater im Himmel zu glauben. Ein Mensch dagegen, der immer wieder von Schicksalsschlägen verfolgt wurde, empfindet sich sehr schnell als “verflucht” und Gott als entsprechend fern und ablehnend. Umso wichtiger ist es, Abstand zu schädlicher und verzerrender Theologie zu halten.
Menschen, die in dieser Situation stehen, wird ein Exorzismus nicht helfen. Besonders muss man davor warnen, einen Exorzismus gegen den Willen des Betroffenen durchzuführen, da man ihn damit aufs Äußerste entwürdigt und ihn als willenloses Stück Fleisch sieht, eine Marionette, die von bösen Geistern bewegt wird.
Das Neue Testament berichtet, dass Jesus den bösen Geistern gebot und sie daraufhin ausfuhren. Auch von Paulus wird Ähnliches berichtet (Apg 16,18). Wo sie auftraten, wurde die Kraft der unsichtbaren Welt sichtbar. Verständlich ist es, dass der Gegenspieler Gottes auch seine Macht öffentlich zum Ausdruck bringen wollte. Es war eine geschichtlich einzigartige Situation, die wir heutzutage nicht haben. Auch hatte Jesus und die von ihm bestimmten Apostel eine besondere Autorität. Mit dem Kopieren der Austreibungsformel ist es sicherlich nicht getan.
Um den Satan auszutreiben, muss er überhaupt erst einmal in den Betreffenden hineingefahren sein. Wenn das nicht der Fall ist, sondern wenn es sich nur um eine Verklemmung der Seele handelt, dann sind solche Versuche im besten Fall überflüssig und erniedrigend. So können manchmal sogar zum Tod führen, wie im Fall der katholischen Studentin Anneliese Michel. Bei ihr diagnostizierten religiöse Fanatiker, dass ihre Lästergedanken und -worte dämonische Manifestationen seien. Dabei waren sie eine gesunde und nachvollziehbare Reaktion gegen lebenslange Vergewaltigung der Seele und erpresserische Frömmigkeit. Dies konnte sie sich aber nicht eingestehen, weil sie zu große Angst vor der immer wieder angedrohten ewigen Verdammnis hatte.