Eine wahre Geschichte?
Zu einer Zeit, als es schon schnelle Sportwagen, aber noch keine Ampeln gab, lebte ein Mann namens Hiob, der hatte viele Kinder. Die Kinder gingen zur Schule, und immer wieder übte Hiob mit ihnen das richtige Verhalten im Straßenverkehr, denn er dachte in seinem Herzen: “Übung macht den Meister. Andernfalls könnte doch einmal ein Unglück passieren.”
Eines Tages aber kam ein Bote eilends zu Hiob und sprach: “Als deine Kinder auf dem Schulweg über die große Straße gingen, da raste ein schneller Sportwagen mit betrunkenem Fahrer herbei und schlug sie alle mit der Schärfe der Stoßstange…” und während er noch redete, kam ein zweiter und schrie: in der Gemeinde sei ein furchtbares Unglück passiert mit einigen Glaubensbrüdern, und auch dieser hatte noch nicht ausgeredet, da wankte schon der dritte schreckensbleich herbei: alle Gebäude seines Betriebes seien komplett abgebrannt, nur er allein sei entronnen, dass er’s ihm ansagte. Ein Unglück kommt selten allein – man kennt ja dergleichen.
Als Hiob diese Worte hörte, saß er ganz starr, sieben Tage und sieben Nächte, ohne viel zu sagen und er sagte auch nichts gegen Gott. Als seine Freunde dies hörten, kamen sie, ein jeglicher aus seinem Ort. Und sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten. Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und merkten, dass sein Schmerz sehr groß war. Und sie hoben ihre Stimme auf und weinten.
Danach tat Hiob seinen Mund auf und was er sagte, das ist uns nicht mehr so erinnerlich, denn das interessierte kaum einen. Sehr wahrscheinlich ist, dass er auf den betrunkenen Fahrer des schnellen Sportwagens geschimpft hat, und was mit Sicherheit anzunehmen ist, dass er Vorschläge gemacht hat, wie zu verhindern sei, dass andere Kinder an dieser Stelle durch schnelle Sportwagen gefährdet werden können. Das ist bei ihm, der seinen Kindern so gründlich das richtige Verhalten im Straßenverkehr beigebracht hat, doch anzunehmen.
Was seine Tröster, die zufällig alles Herren mit den Namen A., B. und C. waren, gesagt haben, wissen wir viel genauer, denn noch heute wird häufig in ähnlicher Weise geredet. Bei der Rekonstruktion des Gespräches kommt dem Chronisten die Tatsache zugute, dass die Herren A., B. und C. unkomplizierte Menschen waren, die in der Tradition standen, Harmonie für die größte Tugend zu halten, und die Störung dieser Harmonie durch Korrektur für eine schlimme Sünde, selbst wenn die Korrektur jemanden vor Schaden bewahren könnte. Denktabus vereinfachen das Denken erheblich, sodass es sich nicht selten dem Niveau Pawlow´scher Reflexe nähert. Solche gesunden Reflexe sind gottlob der Menschheit erhalten geblieben bis auf den heutigen Tag. Deshalb war auch die Rekonstruktion des folgenden Gesprächs ohne großen Arbeitsaufwand möglich.
Hiob: | Vielleicht könnte man ein Schild mit Tempolimit aufstellen…. |
Herr A: | Merket, ihr Weisen, auf meine Rede! Wer ist ein solcher wie Hiob, der da auf dem Wege geht mit den Übeltätern und wandelt mit den gottlosen Leuten? Steht es nicht in der Schrift: Weh denen, die sich vermessen, Zeit und Gesetz zu ändern! Allein der Heiligkeit Gottes sind die Zeiten vorbehalten. Solltest du nicht lieber Gott danken, der schnelle Sportwagen erschuf und sie dem Menschen gab, um sie reichlich zu genießen… |
Hiob: | …. damit besoffene Raser, die keine Rücksicht auf Kinder nehmen …. |
Herr B: | Heißt es nicht in der Schrift: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet? Kehre vor deiner eigenen Tür! Sei nicht verstockt und wende dich bußfertig zu deinem Gott, dann wird auch wieder Frieden in deine Seele einziehen. Überlasse die Schnellfahrer und auch die Schulkinder der Weisheit des Herrn und greife nicht mutwillig ein, wo sein Ratschluss längst bestimmt hat. |
Hiob: | Ich will ja nur, dass nicht auch noch andere …. |
Herr C: | wirf deine Sorgen auf den Herrn! Er allein vermag deinen Fuß zu bewahren, dass du nicht strauchelst… |
Hiob: | Die Polizei muss sich verantwortungslose Raser notieren …. |
Herr A: | Hiob, du bist schon immer gesetzlich gewesen: genau das ist dein Problem! Hat Gott nicht deine Sünden allesamt gnädig vergessen und vergeben und im tiefsten Meer versenkt? Und da forderst du, verstockter Schalksknecht, dass die Sünden anderer notiert werden? |
Hiob: | …. und ihnen eine abschreckende Strafe aufbrummen …. |
Herr A: | Dazu ist doch die frohe Botschaft zu uns gekommen, damit wir nicht mehr in Furcht und Schrecken leben müssen, lieber Bruder! Sind wir nicht allesamt schwach und ist uns nicht Gott gnädig in unserer Schwachheit? Du machst auch Fehler genug, Hiob. Wie oft hat man es dir …. |
Hiob: | Leute, die Unfälle mutwillig verursachen, müssen aus dem Verkehr gezogen werden… |
Herr A: | …. schon gepredigt und trotzdem kannst du das lieblose Richten nicht lassen. Ich will das nicht mehr mit anhören! |
Hiob: | ….. |
Herr C: | Ich werde es in der nächsten Predigt abkündigen: liebe Raser, es ist nicht verkehrt, mal einen Gang runter zu schalten, falls Kinder in Sicht sind. |
Herr B: | Eine hervorragende Idee. Vielleicht ist es auch gut, wenn du am Ende der Predigt nach dem Segen auch noch mal ausdrücklich darauf hinweist. |
Herr C: | Mach ich. |
Herr A: | Außerdem sollten wir die Schnellfahrer gelegentlich ermahnen, dass sie doch bitte darauf achten mögen, etwas vorsichtiger zu fahren, wenn sie betrunken sind. |
Hiob: | Wahrscheinlich ist ein Tempolimit gar nicht ausreichend, eine Ampelanlage muss her. |
Herr A: | Wenn einer lang geredet hat wie Hiob, muss er nicht auch hören? Soll ein Schwätzer immer recht haben? Ach, dass Gott mit dir redete und zeigte dir heimliche Weisheit! Blutegel wie Hiob haben zwei Töchter, die heißen: »Gib her, gib her!« Drei sind nicht zu sättigen, und vier sagen nie: »Es ist genug«. Ein rechter Haushalter gedenkt des morgigen Tags und ist sparsam, aber der Verschwender hat immer einen Loch im Beutel und des Mangels ist kein Ende. Wisse, dass die Straße bald abgenutzt ist und das Geld längst bestimmt ist für einen neuen Straßenbelag. |
Hiob: | …. weil ihn die schnellen Sportwagen schnell abnutzen …. |
Herr A | (schreit): Aaaaa! Jetzt weiß ich, was Hiob umtreibt: es ist der pure Neid! |
Hiob | (schreit): Man muss die Kinder vor Rasern schützen …. |
Herr C: | Willst du vor Zorn bersten? Meinst du, dass dadurch vielleicht das Meer erschrickt und zurückweicht und dass der Fels von seinem Ort verrückt werde? Der Zorn des Menschen tut nicht, was vor Gott gut ist. Ein Mensch wie du ist aggressiv und holt aus dem Schatz seines Herzens Böses und Falsches hervor! Wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über. |
Hiob: | Ihr redet wie die Papageien. Hört auf, das mit der Bibel zu begründen! |
Herr B: | Soll ein weiser Mann so aufgeblasene Worte reden und seinen Bauch so blähen mit leeren Reden? Es sollte dir zu denken geben, Hiob, dass wir uns viel enger als du an den biblischen Urtext halten. Du aber hast alle Furcht fahren lassen! Nur deine Missetat lehrt deinen Mund also und du hast erwählt eine listige Zunge. |
Herr C: | Wer sein Gemüt nicht in Zucht hält, Hiob, neigt leicht zur Übertreibung. Deine Seele sollte Frieden finden in der Erkenntnis, dass weitaus die meisten Kinder nicht überfahren werden und sogar ohne Zebrastreifen recht gut zurechtkommen. |
Hiob: | Mir scheint, dass manche Gläubige auch ohne Verstand recht gut zurechtkommen. |
Herr B: | Ja, ja, Hiob, alle haben unrecht, nur du selber nicht. Vergreife dich nicht an der Autorität, die Gott selber eingesetzt hat! Gehorche vielmehr deinen Lehrern A., B. und C. und folge ihnen nach! Nur wenn dein Ohr auf Weisheit achtet und du sie suchst wie Silber, dann wird sie sich auch von dir finden lassen. |
Herr A: | Ich glaube, Hiob ist von dir oftmals zu gesetzlich belehrt worden. Deswegen sieht er alles so verbissen. |
Herr C: | Nein, du hast ihm zu viel Freiraum gelassen. Deswegen nimmt er sich jetzt soviel heraus. |
Herr B: | Seufzet nicht widereinander, liebe Brüder. Der wahre Schuldige ist Hiob! Ich habe mit aller gottgefälligen Weisheit gesprochen, indes ich predigte tauben Ohren. Bei soviel Verstocktheit schnürt man sein Bündel und schüttelt den Staub von den Füßen. |
Und so ging das Gespräch weiter und weiter und weiter, bis Hiob jegliches Zeitgefühl verlor. Er wollte zwar eigentlich noch sagen, dass in der Bibel auch steht, dass der gläubige Christ nicht kindisch, sondern erwachsen denken soll (1.Kor 14,20), aber er unterließ es schließlich. Ob er es nun sagte oder nicht, blieb im Ergebnis das gleiche: er blieb auf seinem Scherbenhaufen sitzen, hielt dort stundenlange Monologe und nur der Wind hörte ihm zu.
Indes: aus dunkler, unsicherer Quelle sind uns die Motive der Gesprächspartner bruchstückhaft überliefert. Herr A. soll morgens regelmäßig zu spät aufgestanden sein und anschließend seinen Sportwagen schnell und nicht immer ganz nüchtern gefahren haben, um seine Arbeitsstelle noch rechtzeitig zu erreichen. Herr B. hörte sich gerne reden. Er war ein theologischer Gourmet, der nur die Worte der Bibel berücksichtigen konnte, die ihm schöne Gefühle verschafften. Herr C dagegen fühlte überhaupt nichts. Er soll so geredet haben, weil seine Eltern so redeten, seine Freunde, überhaupt alle Leute, die er kannte. Weil er aber außer der Bibel kaum etwas las, war er der Ansicht, dass die schreckliche Katastrophe nichts anderes als eine uralte biblische Geschichte sei, die man sich nach 2000-jähriger Abklärung ohne Gemütsbewegung ruhig mal anhören könnte.
Weil aber Hiob so litt, trieb es ihn schließlich doch wieder herunter von seinem Scherbenhaufen. Er versuchte noch einmal, seine Brüder zu überzeugen: “Merkt ihr nicht, dass hier etwas faul ist und stinkt?” Doch sie kniffen die Lippen zusammen und antworteten ihm nicht ein einziges Wort.
Und weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte, beschloss er eines Tages, sich nicht mehr zu waschen. Das Gotteshaus besuchte er fleißig Sonntag für Sonntag in muffigem Zustand. Bald wollte keiner mehr auf der Kirchenbank neben ihm sitzen. Eines Tages wollte auch keiner mehr in die Kirche hinein. Auf der Kanzel revanchierte sich der Pastor mit einer wütenden Gerichtspredigt, und wer sich davon angesprochen fühlen sollte, wusste Hiob ganz genau, denn schließlich saß er ja allein da. Während nun der Pfarrer Gerichtsworte und -blicke auf den armen Hiob schleuderte, stank dieser freundlich lächelnd zurück.
Die Worte, so wütend sie waren, drangen nur undeutlich an sein Ohr, denn der Redner auf der Kanzel hatte – notgedrungen – inzwischen einen Mundschutz umgebunden. Sie klangen so ähnlich wie das Rauschen des Meeres und allmählich sank Hiob in einen tiefen Schlaf.
Als er aufwachte, standen seine Brüder A., B. und C. vor ihm. Bruder A. sagte: “Hiob, wenn man es recht bedenkt, kostet ein Schild mit Tempolimit nicht viel. Nichts hindert uns, es sofort aufzustellen.” Bruder B. sagte: “Wenn man es recht bedenkt, Hiob, hast du uns gar nichts Neues gesagt. Viele haben uns gewarnt, und dass sie recht hatten, ist ja auch einfach zu sehen. Doch wir haben immer auf die falschen Leute Rücksicht genommen. Auch ein Zebrastreifen ist bereits gemalt. Wer A sagt, muss auch B sagen.” Bruder C. sagte: “Und sogar C. Wir legen Geld zusammen für eine Ampelanlage.”
Da stand Hiob auf und freute sich natürlich sehr. Und viele andere freuten sich mit ihm, auch seine Brüder A., B. und C. Hiob schor Bart und Haar und blieb einen ganzen Tag in der Badewanne. Er benutzte auch eine ganze Menge von dem Parfüm, das ihm der Küster vor Wochen geschenkt hatte. Viel später erinnerte sich kaum noch einer an das große Unglück, weil man an eine Gefahr, die nicht mehr zum Unglück werden kann, nicht mehr denkt.