Die zentrale Gestalt in der Reformation ist zweifelsohne Martin Luther, der bei vielen Christen hohes Ansehen genießt. Der hartnäckige Widerstand gegen den Machtapparat der katholischen Kirche trotz ständiger Todesgefahr und das mutige Eintreten vor dem Kaiser in Worms für das Recht, mit der Bibel argumentieren zu dürfen beeindrucken den Christen heute ebenso wie Luthers beispielloser Fleiß, dessen Frucht nicht nur die Übersetzung der gesamten Bibel, sondern auch viele in einem tiefgründigen, originellen Stil verfassten Schriften sind, die auch heute noch von Gläubigen mit Gewinn gelesen werden.
Das Lutherbild ist zweifelsohne bei gläubigen Christen überwiegend positiv. Der 2003 gedrehte Lutherfilm mit Joseph Fiennes in der Hauptrolle gibt eigentlich sehr gut den Eindruck wieder, den viele Gläubige von Luther haben.
Es ist nun keineswegs die Freude, “ein Haar in der Suppe gefunden” zu haben, wenn jemand, der sich tiefergehend mit dem Lebensweg Luthers befasst, feststellen muss, dass bei dem späteren Luther doch sehr dunkle Seiten zu sehen sind. Darüber kann man sich nicht freuen – man muss es bedauern.
Luther blieb ja nicht der ohnmächtige Zeuge, sondern er gewann bald mächtige Helfer. Als Fürsten für ihn – ob aus Überzeugung oder aus Machtkalkül – Partei ergriffen, verfügte Luther, der eine seltene Redegabe und Überzeugungskraft hatte, plötzlich über gewaltige Macht, die er leider nicht nur zum Guten, sondern auch zum Schaden vieler Menschen missbrauchte.
Insofern kann man an seinem Beispiel sehr gut das Faktum demonstrieren, dass auch das beeindruckendste Glaubensvorbild, die größte Gelehrsamkeit und beispielloser Eifer keine Garantie für die Richtigkeit von Überzeugungen liefern können, sondern dass der vorsichtige Gläubige gut daran tut, auch bei solchen herausragenden Persönlichkeiten zu prüfen.
Der Heilige Geist gibt ihm zweifellos das Recht dazu: “Der geistlich gesinnte Gläubige beurteilt alles!” (1.Kor 2,15) “Alles” heißt: auch Luther. Es ist keine Anmaßung, sondern Auftrag Jesu. Zweifellos: in „bibeltreue“ Gemeinden ist eine kritische Sicht Luthers im allgemeinen unerwünscht.
Die Fakten indes belehren uns: der Gläubige muss sich hüten, einem Glaubensvorbild blindlinks zu folgen, mag es auch noch so beliebt und einflussreich sein.
Ein schrecklicher Irrweg sind die Empfehlungen, die Luther den Fürsten in Bezug auf die Juden gab. Warum konnte er sich nicht erinnern, was Jesus einst getan hatte, als die Samaritaner sie nicht aufnehmen wollten ? “Als die beiden Jünger Jakobus und Johannes das hörten, sagten sie zu Jesus: „Herr, sollen wir befehlen, dass Feuer vom Himmel fällt und sie vernichtet?“ Doch Jesus drehte sich zu ihnen um und fragte: Wisst ihr nicht mehr, wessen Geistes Kinder ihr seid” (Luk 9,53) ?
Luther hat es offenbar nicht mehr gewusst. Er hat den Landesherren empfohlen, bekehrungsunwilligen Juden das Dach über dem Kopf anzuzünden und ihre Gebetbücher zu verbrennen. [1]
Diese Anweisungen wirkten noch einmal zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur verheerend, indem sie gläubige Christen zu einer ablehnenden und gleichgültigen Haltung gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern verleiteten. Dieser Punkt ist ganz und gar nicht nebensächlich oder willkürlich herausgesucht, sondern eine absolute Katastrophe – in erster Linie eine mitmenschliche Katastrophe, aber auch ein Desaster für die Glaubwürdigkeit christlicher Gemeinden. Viele Nazis haben sich tatsächlich auf Luther berufen! Julius Streicher, der Herausgeber des antisemitischen Hetzblatts »Der Stürmer« sagte in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen am 29. April 1946: »Wenn Martin Luther heute lebte, dann säße er hier an meiner Stelle als Angeklagter.«
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Verhalten Luthers gegenüber täuferischen Glaubensgeschwistern. Auch wenn es manche Extremisten unter ihnen gab, so haben doch viele dieser täuferischen Geschwister den Wunsch gehabt, dem Evangelium von Jesus Christus in allem möglichst genau zu folgen, wie z.B. der schlesische Reformator Kaspar von Schwenckfeld [2].
Lutheraner haben in ihren Friedensvertrag mit den Katholiken die täuferischen Glaubensgeschwister nicht aufgenommen. Sie haben auf dem zweiten Reichstag zu Speyer 1529 ihrer Verfolgung zugestimmt. Die dort beschlossene Konstitution bedrohte jeden, der wiedertauft oder wiedergetauft worden ist, mit der Todesstrafe. Ein geistliches Inquisitionsgerichts musste vorher nicht mehr tätig werden [3].
Über Luther können und müssen wir uns ein Urteil bilden. Die Christenheit heute ist sich ja wohl einig, dass seine Aufrufe zur Gewalt gegen „Hexen“, andersdenkende Christen und Juden schwere
Verfehlungen waren. Doch es bleibt sein unbestreitbares Verdienst, die Notwendigkeit einer
spirituellen Autorität erkannt zu haben, die größer als die Macht des Buchstabens ist. Es bleibt sein
Verdienst erkannt zu haben, dass die Spätschrift des Hebräerbriefes trotz mancher wertvoller Textteile an manchen Stellen nachweislich Werkgerechtigkeit und Erbarmungslosigkeit predigt [4] und dass schon deshalb eine theologische Begründung der Heilsgewissheit auf der Basis der Gültigkeit aller Bibeltexte unmöglich ist. Mit dieser Erkenntnis ist er der „bibeltreuen“ Christenheit, in der heute noch eine Überprüfung des Hebräerbriefes absolut tabu ist, 500 Jahre voraus. Und nicht zuletzt ist sein großes Verdienst sein mutiges Eintreten für die Gewissensfreiheit des einzelnen Menschen und sein Recht, die Bibel in seiner Muttersprache zu lesen und auf dieser Grundlage Verfälschungen der Glaubenslehre abzuwehren.
Luthers Heilsgewissheit speiste sich schon sehr früh aus einer sehr trüben Quelle: nämlich aus dem
rauschenden Erfolg, ja Triumph seiner reformatorischen Mission. Wie konnte man bei einer
derartigen Wirksamkeit am Segen und Beistand Gottes zweifeln? Ihm war es zu verdanken, dass
das deutsche Volk die Bibel in der Muttersprache lesen konnte und dass die unumschränkte Macht
der päpstlichen Tyrannei gebrochen wurde. Luther sah sich bald selbst in einer quasi päpstlichen
Rolle, in Augenhöhe mit den Fürsten, als Stellvertreter Gottes, dem auch das Recht zustand,
Gesetze über Tod und Leben zu erlassen. Luther verkündete unmissverständlich, dass er selbst am
besten das rechte Wort Gottes vertrete.
Er forderte für alle Prediger, die keinen amtskirchlichen Auftrag aufweisen konnten, – ungeachtet der Qualität ihrer Lehre (!) – die Todesstrafe: „Wenn sie gleich das reine Evangelium wollten lehren, ja wenn sie gleich Engeln … vom Himmel wären – will er predigen, so beweise er den Beruf oder Befehl — Will er nicht, so befehle die Obrigkeit solchen Buben dem rechten Meister Hansen“ (Henker) [5].
Entsprechend rabiat ging er auch gegen andersdenkende Glaubensbrüder vor, die schließlich zu Tausenden vor Lutheranern auf der Flucht waren. Der Lutherische Weltbund hat 2010 die mennonitischen Christen dafür um Vergebung gebeten. [6].
Wer erinnert sich hier nicht an Mose, der in einem Augenblick der Hybris das Wort „WIR“ für Gott
und sich selbst gebrauchte und auf den Felsen schlug und zur Strafe für diese Anmaßung das Volk
Israel nur bis zur Grenze des gelobten Landes führen, es selbst aber nicht betreten durfte (4Mo
20,10-12). Entsprechend waren auch die Folgen der Hybris Luthers schlimm. Er hatte zwar eine
Ahnung vom Urwissen der Glaubensgerechtigkeit, aber dass Jesu Anweisung in Matth 23,23 den
gesuchten und geradezu ins Auge springenden Beweis für die überragende Autorität der
Glaubensgerechtigkeit über den „tötenden Buchstaben“ (2Kor 3,16) lieferte… – das blieb Luther verborgen. Denn dieser Beweis setzt ja eine praktische Konsequenz in der Liebe und das konsequente Festhalten an ihrer ausnahmslosen Gültigkeit voraus. Wozu brauchte Luther das, wenn seine fast unbegrenzte Macht ihm wenigstens eine rauschhafte Pseudo-Gewissheit gab?
Die Folgen sind schlimm. Luther war nicht nur für zahllose menschliche Tragödien verantwortlich,
sondern auch für den spirituellen Niedergang in der Christenheit Europas. Von der Freiheit des
Christen verstand er wenig – er gestand sie ja auch nicht anderen zu. Die Theologie wurde leblos.
Sie erstarrte zur Orthodoxie. Der Stress mit der Werkerei war abgehakt, jetzt genügte es zum Heil,
„das Richtige zu glauben.“ Irgendwann fiel es auch Luther auf, dass lebendiger Glaube selten
geworden war. Er jammerte, dass er „die Leute nicht hätte“, um lebendige Gemeinden zu
gründen. Das ist doch wirklich grotesk!
Von Luther ist bekannt, dass er gerne und fleißig gebetet hat. Er hat viel erreicht und aufgebaut,
doch zugleich auch unendlich viel kaputt gemacht. Es genügt eben nicht mit Gott zu reden, sondern
man muss auch zuhören können. Die Wahrheit hat eine Autorität ohne Ansehen der Person. Einem
Kind, einem unbedeutenden, ja sogar einem unsympathischen, bösen Menschen kann das göttliche Wort zur rechten Zeit in den Mund gelegt werden. Wir dürfen davon ausgehen, dass Luther vielfach
von Gläubigen gewarnt worden ist, die den geistlichen Missbrauch gesehen haben. Doch alle
Warnungen stießen bei ihm auf taube Ohren. Er mag wohl gedacht haben, wie können diese
unbedeutenden Kreaturen es wagen, mir, dem großen Reformator, ans Bein zu pinkeln! Hat nicht
Gott selbst mein Werk bestätigt? Die Erinnerung an dieses Werk ist nun durch all das Böse, das
Luther nebenbei verübte, auf das Schwerste belastet.
Wen soll es überzeugen, dass Luther – nachdem er zur Glaubensfreude hindurchgedrungen war
– sich auch nach der teilweise kritischen Beurteilung des Hebräerbriefes wieder auf die ausnahmslose Gültigkeit des Buchstabens festlegt? Wollte er, der Machtmensch, nicht auf die Macht über die Gewissen verzichten, die er durch Berufung auf den „Buchstaben“ ausüben konnte? Das scheint plausibel zu sein, zumal wir auch bei etlichen Bibellehrern heute eine makabre Lust beobachten, ihren Hörern mit der Bibel rücksichtslos „einzuheizen“.
Luthers „bibeltreuer“ Aufruf, sich auch „Teuflischem“ und „Verlogenem“ im biblischen Text unterzuordnen [7] , bleibt ein klarer Verstoß gegen das wichtigste Gebot in Mt 23,23. Dieser fromme Wahn, der alles, auch das Bösartigste in der Bibel meint heilig sprechen zu müssen, ist wesentlich verantwortlich für die spätere charakterliche Verrohung Luthers, der nicht einmal mit gutwilligen Glaubensgeschwistern Erbarmen haben konnte. „Im Geist habt ihr das Werk begonnen und wollte es nun im Fleisch zu Ende führen“ (Gal 3,3) ? O Bruder Luther, hat dich dieser wichtige Satz des Apostels Paulus nicht warnen können?
[1] Weimarer Ausgabe (WA) 53,523,1 ff.
[2] s.a. Karl Ecke, Kaspar von Schwenckfeld, Ulm 1965
[3] Eine Zusammenfassung der Konstitution findet sich in: Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer – Geschichte und Deutung, München 1980, die Konstitution selbst in: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V, VII.Band, 2.Halbband, Göttingen 1963, 2, 1325 ff
[4] matth2323.de/risiko-hebraeerbrief
[5] Der 82.Psalm ausgelegt durch Martin Luther anno 1530, Tomos 5, S.74 b ff.
[6] Mit einem einstimmig gefassten Schuldbekenntnis gegenüber den Täufern haben die Delegierten der Elften Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) am Donnerstagnachmittag, 22. Juli, in Stuttgart (Deutschland) mennonitische ChristInnen um Vergebung gebeten. „In einem historischen Akt kam es ,,,zur Versöhnung des Lutherischen Weltbundes (LWB) und der Mennonitischen Weltkonferenz (MWK)…. der LWB empfinde „tiefes Bedauern und Schmerz über die Verfolgung der Täufer durch lutherische Obrigkeiten und besonders darüber, dass lutherische Reformatoren diese Verfolgung theologisch unterstützt haben“. (www.mennonews.de/archiv/2010/07/23/lwb-vollversammlung-bittet-mennoniten-um-vergebung/) Dazu gibt es ein Videodokument (www.youtube.com/watch?v=CPl4z9kB4m8).
[7] Luther: „Der Glaube sagt so: ich glaube dem Gott, der da spricht. Was spricht er? Unmögliches, Verlogenes, Unhaltbares, Verächtliches, Ketzerisches, Teuflisches – wenn du die Vernunft befragst” (Weimarer Ausgabe 40I,361.1). “Der Glaube opfert die Vernunft und tötet diese Bestie … diese schärfste und heilloseste Feindin Gottes” (W.A. 362,15). Die schauerlichen Worte Luthers über die angebliche Pflicht, „Teuflisches zu glauben“ wurden von etlichen Theologen wie Prof. Dr. Helge Stadelmann, dem Rektor der renommiertesten bibeltreuen Pfarrerausbildung, der FTH Gießen, allen Ernstes als Vorbild für die “evangelikale Bibelauffassung” präsentiert (Helge Stadelmann, Evangelikales Schriftverständnis, Hammerbrücke 2005, S.33). Bis heute wird das geglaubt: Christen, die Gott ihr
Gewissen und ihren Verstand „zum Opfer gebracht“ haben und „um des Glaubens willen“ wider
besseres Wissen reden, sollen sich als Menschen betrachten, die Gott besonders wohlgefällig sind.
Wie glaubwürdig ist das, sich angesichts der verheerenden Auswirkung in der Geschichte dumm zu
stellen und zu behaupten, man könne und dürfe solche Texte nicht beurteilen?
