Der Kanon Muratori stammt aus dem 2.Jahrhundert nach Chr. und ist eines der ältesten überlieferten Verzeichnisse aller neutestamentlichen Schriften, die damals von Christen als inspiriert und zur Bibel gehörig eingeschätzt wurden. (Siehe dazu auch den Wikipedia-Artikel).
Interessant ist, das der von Luther aus nachvollziehbaren Gründen als fehlerhaft bzw. apokryph eingestufte Brief an die Hebräer nicht in der Auflistung enthalten ist. Auch fehlen noch der Jakobusbrief, der dritte Brief des Johannes sowie beide Briefe des Petrus. Ebenso interessant ist, dass eine dem Petrus fälschlicherweise zugeschriebene Offenbarung in diese Liste aufgenommen ist, ein sadistisches Machwerk, das später – gottlob – wieder aus dem biblischen Kanon entfernt wurde.
Hier folgt der Text, in dem die heute akzeptierten Schriften grün markiert sind:
„… wobei er doch zugegen war und es so hingestellt hat. Das dritte Evangelienbuch nach Lukas. Dieser Arzt Lukas hat es nach Christi Himmelfahrt (Auferstehung?), da ihn Paulus als des Weges (der Lehre) Kundigen herangezogen hatte, unter seinem Namen nach (dessen) Meinung verfasst. Doch hat auch er den Herrn nicht im Fleische gesehen, und daher beginnt er so, wie es ihm erreichbar war, auch von der Geburt des Johannes an zu erzählen. Das vierte der Evangelien, des Johannes, (einer) von den Jüngern. Als ihn seine Mitjünger und Bischöfe aufforderten, sagte er: Fastet mit mir von heute ab drei Tage, und was einem jeden offenbart werden wird, wollen wir einander erzählen. In derselben Nacht wurde dem Andreas, einem der Apostel, offenbart, dass Johannes in seinem Namen, indem alle (es) überprüfen sollten, alles niederschreiben sollte. Und deshalb, wenn auch verschiedene Anfänge (oder: Tendenzen?) in den einzelnen Evangelienbüchern vorgetragen werden, trägt es doch für den Glauben der Gläubigen nichts aus, da durch den einen und führenden (anfänglichen?) Geist in allen alles erklärt ist: über die Geburt, über das Leiden, über die Auferstehung, über den Verkehr mit seinen Jüngern und über seine doppelte Ankunft, erstens verachtet in Niedrigkeit, was geschehen ist, zweitens herrlich durch königliche Macht, was noch geschehen wird. Was Wunder also, wenn Johannes so sich gleichbleibend das Einzelne auch in seinen Briefen vorbringt, wo er von sich selbst sagt: Was wir gesehen haben mit unseren Augen und mit den Ohren gehört haben und unsere Hände betastet haben, das haben wir euch geschrieben. Denn damit bekennt er (sich) nicht nur als Augen- und Ohrenzeuge, sondern auch als Schriftsteller alle Wunder des Herrn der Reihe nach. Die Taten der Apostel aber sind in einem Buche geschrieben. Lukas fasst für den ‚besten Theophilus‘ zusammen, was in seiner Gegenwart im einzelnen geschehen ist, wie er das auch durch Fortlassen des Leiden des Petrus einsichtig macht, ebenso durch (das Weglassen) der Reise des Paulus, der sich von der Stadt (Rom) nach Spanien begab. Die Briefe aber des Paulus, welche es (d. h. von Paulus) sind, von welchem Orte und aus welchem Anlass sie geschrieben sind, erklären das denen, die es wissen wollen, selbst. Zuerst von allen hat er an die Korinther, (denen) er die Häresie der Spaltung, sodann an die Galater, (denen) er die Beschneidung untersagt, sodann an die Römer, (denen) er darlegt, dass Christus die Regel der Schriften und ferner ihr Prinzip sei, ausführlich geschrieben. Über sie müssen wir einzeln handeln, da der selige Apostel Paulus selbst, der Regel seines Vorgängers Johannes folgend, mit Namensnennungen nur an sieben Gemeinden schreibt in folgender Ordnung: an die Korinther der erste (Brief), an die Epheser der zweite, an die Philipper der dritte, an die Kolosser der vierte, an die Galater der fünfte, an die Thessalonicher der sechste, an dir Römer der siebente. Aber wenn auch an die Korinther und an die Thessalonicher zu ihrer Zurechtweisung noch einmal geschrieben wird, so ist doch deutlich erkennbar, dass eine Gemeinde über den ganzen Erdkreis verstreut ist. Denn auch Johannes in der Offenbarung schreibt zwar an sieben Gemeinden, redet jedoch zu allen. Aber an Philemon einer und an Titus einer und an Timotheus zwei, aus Zuneigung und Liebe (geschrieben), sind doch zu Ehren der katholischen Kirche zur Ordnung der kirchlichen Zucht heilig gehalten. Es läuft auch (ein Brief) an die Laodicener, ein anderer an die Alexandriner um, auf des Paulus Namen gefälscht für die Sekte des Markion und anderes mehr, was nicht in die katholische Kirche aufgenommen werden kann; denn Galle mit Honig zu mischen, geht nicht an. Ferner werden ein Brief des Judas und zwei mit der Aufschrift (oder: zwei des oben erwähnten) Johannes in der katholischen Kirche gehalten und die Weisheit, die von Freunden Salomos zu dessen Ehre geschrieben ist. Auch von Offenbarungen nehmen wir nur die des Johannes und DES PETRUS an, welche EINIGE von den Unsrigen nicht in der Kirche verlesen wissen wollen. Den Hirten aber hat ganz vor kurzem zu unseren Zeiten in der Stadt Rom (kein Zeuge der Urgemeinde, sondern) Hermas verfasst, als auf dem Thron der Kirche der Stadt Rom der Bischof Pius, sein Bruder, saß. Und deshalb soll er zwar gelesen werden, aber öffentlich in der Kirche dem Volk verlesen werden kann er weder unter den Propheten, deren Zahl abgeschlossen ist, noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten. Von Arsinous aber oder Valentin und Miltiades (?) nehmen wir überhaupt nichts an, die auch ein neues Psalmenbuch für Markion verfasst haben zusammen mit dem Kleinasiaten Basilides, dem Stifter der Kataphryger.“
Quelle: Vgl.: Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen (Tübingen 3. Auflage 1959) I/19-20. Siehe auch den Originaltext in Lateinisch und Deutsch.
Es fehlt die Angabe des Hebräerbriefes. Kann das als Hinweis darauf dienen, dass dieser Brief schon in frühester Zeit sehr umstritten war? Doch die Kanonisierung der angeblichen und heute vergessenen OFFENBARUNG DES PETRUS durch die Mehrzahl (!) der Gläubigen damals ist ein viel deutlicherer Hinweis darauf, dass sich die christliche Glaubensgemeinschaft der Erpressung mit der Höllenstrafe schon sehr früh bedenkenlos bediente. So gesehen hätte eigentlich auch der Hebräerbrief in dieser Auflistung nicht gestört. Wer den Hebräerbrief genau liest, stellt fest, dass er Verdammnisangst noch brutaler fördert als die Petrusoffenbarung.