Franz Spiera

Ein schreckliches Beispiel 

Franz Spiera wurde von der katholischen Obrigkeit bei Androhung der Todesstrafe gezwungen, seinem evangelischen Glauben abzuschwören. Nach der Abschwörung wurde er von der Angst gepeinigt, die unvergebbare Sünde (Mt 12,36) begangen zu haben, obwohl er freiwillig nie etwas Derartiges getan hätte. An der Lehre von der angeblichen Pflicht des Gläubigen  zur „freudigen“ Erduldung eines qualvollen Märtyrertodes sind schon viele  treue Gläubige zerbrochen. Die seelischen Qualen wurden so groß, dass Spiera binnen sechs Monaten verstarb.

Üblicherweise wird die seelische Not, die „buchstabenhörige   Theologie“ verursachen kann, in bibeltreuen Gemeinden als private „Überempfindlichkeit“ verharmlost. Man hält es für überflüssig zu fragen, inwieweit nicht die eigene Lehrweise und  Dogmatik dafür mitverantwortlich sein könnte, ob sie folglich korrigiert werden müsste.

Augenzeugenberichte können vielleicht dazu dienen, sich einmal darüber klar zu werden, ob  Verdammungsängste von Mitchristen tatsächlich nur deren „privates“ Problem sind.

Aufschlussreich ist auch die anschließende oberflächliche theologische „Auswertung“: man ist weit entfernt von der Erkenntnis, dass es bei Gleichwertigkeit aller biblischen Aussagen  nur widersprüchliche Auskünfte über die Heilshoffnung des Gläubigen gibt. So ist man blind für die Tatsache, dass Gläubige, die aufgrund ihrer Lebensumstände zum Optimismus nicht fähig sind, unter der Voraussetzung einer überall gleichwertigen Bibel keine stabile Glaubensfreude entwickeln, ja in Einzelfällen völlig verzweifeln.

Die Kraftlosigkeit des Trostes ist eine logisch leicht nachzuvollziehende  Tatsache. Sie ist keineswegs die Folge einer besonderen „Raffinesse“ des Gequälten, wie hier abschließend von theologischer Seite behauptet wird.

Grotesk erscheint auch der Vorwurf, Franz Spiera habe bis zum Ende an seinem alten Lebensstil festhalten wollen. Spiera hatte doch gesagt, dass er jetzt durchaus bereit wäre,  seine Abschwörung öffentlich zu widerrufen und sich hinrichten zu lassen, wenn nur die seelische Qual damit beendet werden könne. Für solche nachträgliche Widerrufung einer Abschwörung gibt es viele Beispiele in der Geschichte. Doch Franz Spiera hatte eben diese Hoffnung nicht mehr, dass Gott ihm wenigstens nach einem nachträglich erduldeten Märtyrertod gnädig sein würde.

Warum  lässt der Theologe diese Beteuerung nicht stehen und unterstellt stattdessen Spiera weiter Reuelosigkeit? Die Antwort ist einfach: Der Fehler und die Schuld darf nur bei Franz Spiera zu finden sein. Denn kritisches Nachdenken über die Dogmatik ist tabu.

Zweifellos: Franz Spiera hat zuvor ein gottloses Leben geführt und sich zugleich als Verteidiger des rechten Glaubens öffentlich aufgespielt. Sein Schicksal wird daher eher unter dem Gesichtspunkt einer wohlverdienten Quittung für lange praktizierte Scheinheiligkeit gesehen.

Und doch ist die Auswertung dieses Berichts sinnvoll. Erst einmal veranschaulicht er die ungeheure Grausamkeit jeglicher Verdammungsangst. Von dieser Grausamkeit haben viele Bibellehrer überhaupt keine Ahnung – sie wollen es auch gar nicht wissen.

Das sollten sie aber, weil ähnlich grausame Ängste auch treue Christen belasten, die sich mit großer Sorgfalt um Glaubensgehorsam bemühen. (Sorgfaltsparadox) Ein berühmtes Beispiel ist Martin Luther. Obwohl er nun vor jeder kleinsten Sünde in Panik zurückscheute, erging es ihm nicht besser als Franz Spiera.

Luther beschreibt die Qual seiner Verdammungsangst wie folgt:

Ich kenne einen Menschen, der versichert, solche Qualen oft durchlitten zu haben, zwar nur in ganz kurzer Zeitspanne, doch so gewaltig, so infernalisch, dass keine Zunge es aussprechen, keine Feder es niederschreiben kann, keiner es zu glauben vermag, der es nicht selbst durchgemacht. Eine halbe, ja nur eine Zehntelstunde länger – und wer das aushalten müßte, ginge darüber zugrunde, seine Gebeine würden in Asche verwandelt. Da erscheint Gott in fürchterlichem Zorn und Zugleich mit ihm die ganze Schöpfung. Nirgends ein Entrínnen, nirgends ein Trost, weder innen noch außen, alles klagt uns Da heult er; ››Ich bin vor deinen Augen verstoßenl« (Ps 31, 23). Da wagt er nicht mehr zu sagen: ››Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn« (Ps 6, 2). ln solchen Augenblicken vermag die Seele – wie schrecklich – nicht mehr zu glauben, daß sie jemals erlöst werde, sie fühlt nur eins: noch ist die Qual nicht vollendet. Denn sie ist ewig und die Seele vermag sie nicht für eine bloß zeitliche Qual zu halten. Da bleibt nichts anderes übrig als der nackte Schrei nach Hilfe, ein schreckliches Seufzen, das nicht weiß, wo Hilfe zu finden ist. Da ist die Seele mit [dern gekreuzigten] Christus weit ausgespannt, daß man alle ihre Gebeine zählen kann; kein Winkel in ihr, der nicht angefüllt wäre mit tödlicher Bitternis, mit Entsetzen, Angst, Traurigkeit – und dies alles scheint ewig zu währen.“ (Quelle: Aus den Erläuterungen zu den Ablassthesen (1518). WA 1,557,33 ff)

Dieses unbarmherzige Leid erzeugte selbst bei dem ängstlichen Luther einen unbändigen Gotteshass:

Ich vergesse alles, was Christus und Gott ist, wenn ich in diese Gedanken (über die Vorherbestimmung) komme, und komme wohl dahin, daß Gott ein Bösewicht sei . . . Beim Nachdenken über die Prädestination vergessen wir Gott; das laudate (Lobet!) hört auf/ blasphemate (Lästert!) fängt an.“ (Quelle: TR 2,2654a (September 1532))

Unter der Voraussetzung einer Gleichwertigkeit aller biblischen Aussagen bekam selbst ein Luther keine Heilsgewissheit.

Wie kam er aus dieser Not heraus? Er half sich auf eine Weise, die nach dem Maßstab der bibeltreuen Dogmatik überhaupt nicht zulässig ist! Kurzerhand entschloss er sich, wenigstens den Hebräerbrief (aus dem ja auch Spira häufig zitiert)  als „apokryph“ (wertvoll, aber mit Irrtümern behaftet) zu degradieren. Bei dieser „Notwehrmaßnahme“ konnte er sich sogar auf die Tradition der frühen Christenheit berufen, in der  u.a. der Hebräerbrief lange Zeit umstritten war.

Die Frage steht im Raum: was wäre mit ihm geschehen, wenn er den Hebräerbrief nicht als „apokryph“ hätte einstufen können, diesen Brief, der gleich an vier Stellen davor warnt, dass Menschen trotz aufrichtigster Reue verdammt werden können? Hätte er dann Frieden gefunden? Luther wurde darüber hinaus von dem Gedanken gequält, er könne von Gott noch vor seiner Geburt für die Hölle vorherbestimmt sein (Prädestination). Dieselbe Angst äußerte auch Spiera. Luther hat diese Not auf eine seltsame Art überwunden: er erklärte sich damit einverstanden und sah in diesem Einverständnis den Beweis für seine Gotteskindschaft. Gottlob hat das funktioniert – aber muss das bei anderen Betroffenen auch funktionieren? Wenn man diese „Rettungswege“ sieht, so entsteht schon der Eindruck, Luther hätte auch Pech haben und genauso enden können wie der unglückliche Spiera!

Wir können sogar noch deutlicher werden: mit einem Denkansatz des Theologen Adolf Schlatter wäre er höchstwahrscheinlich so geendet!

Gläubige heute sind gottlob nicht auf die umstrittenen Lösungsversuche Luthers angewiesen. Auf der Grundlage eines prioritätenorientierten  Bibelverständnisses ist eine Lösung im Rahmen des  heute akzeptierten Kanons möglich.

Ein Bibelverständnis, dass die Bewertung einzelner Bibelworte anhand eines übergeordneten biblischen Maßstabes (Mt 23,23) lehrt,  befestigt die Erkenntnis, dass das starke Seelengift der unvergebbaren Sünde zu allen Zeiten  auch bemühte und gutwillige Gläubige ihrer Heilsgewissheit berauben konnte und kann. Es führt uns zur Frage, wie wir auf diese Tatsache angemessen regieren sollen, um damit die frohe Botschaft von der Erlösung glaubwürdig bleibt. Dieses Bibelverständnis erlaubt die Frage ob ob Jesus nicht in diesem Punkt von seinen Jüngern gründlich missverstanden wurde, so wie es auch in der Frage der Naherwartung  geschah.

Der Bericht von Spiera zeigt uns noch anderes: wir sehen, dass die lutherische Theologie, auf der die Tröstungsversuche der Freunde Spieras fußen, gar keinen klaren Begriff von der Gnade Gottes vermitteln konnte. Als einziger Ausweg um die Gnade Gottes wiederzuerlangen, wird Spiera die Forderung präsentiert, wenigstens nachträglich seine Abschwörung zu widerrufen und eine qualvolle Hinrichtung zu erdulden.

Wem fällt auf, dass dieser Ratschlag der schlimmste Rückfall in  Werkgerechtigkeit und Selbsterlösung ist? Die Opferung des eigenen Lebens als Bedingung des Heils – eine größere Unbarmherzigkeit, eine perversere seelische Erpressung kann es kaum geben. „Wenn du dich nicht für mich, Jesus,  hinrichten lässt, werde ich dich ewig in der Hölle foltern…“ Wer soll denn unter solchen Bedingungen noch an eine persönliche und ernstgemeinte  liebevolle Beziehung Gottes zum Gläubigen glauben können?

Zudem: wäre es nicht selten unfair, wenn Gläubige, die zeitlebens keiner Verfolgung ausgesetzt waren, ohne größeren Aufwand in den Himmel kommen und dort vom hohen Sockel auf einzelne Unglückliche als Verlorene, Gottesfeinde, Verräter herabsehen dürfen, bloß weil diese eine unmenschliche Forderung nicht erfüllen konnten? So hinterlassen die „Tröstungen“, bei denen  Begriffen „Liebe“ und „Gnade“ eine innige Verbindung mit perverser Ethik (siehe Gift Nr 32)  eingehen, auch für Gläubige heute einen ziemlich abstoßenden Eindruck.

Immerhin hilft uns der Bericht zur Erkenntnis, dass das Problem der Verzweiflung am Gesetz und der Angst vor der Hölle gar kein spezifisch katholisches Problem ist, das Luther glanzvoll gelöst hätte. Ähnliche Ängste gibt es – ungeachtet aller lutherischen Propaganda – auch unter evangelischen und evangelikalen Christen. Luther ist mit seiner Heilslehre, die sich trotz Abservierung des Hebräerbriefes vom sklavischen Festhängen am Buchstaben nicht hat lösen können, kurzsichtig geblieben. Luther hat der Gemeinde viele wichtige Wahrheiten vermittelt – nicht zuletzt das Recht jedes Gläubigen, eine eigene Bibel zu besitzen und zu lesen – aber die Gnade Jesu, von der er predigte, konnte  er – dank seiner dogmatischen Festlegungen – nur teilweise erfassen,  wie sich übrigens auch durch seinen hartherzigen Umgang mit Andersgläubigen, Anderdenkenden und Außenseitern der Gesellschaft bestätigt. Es überzeugend nicht, wenn man seine Brutalität als „typisch für das Mittelalter“ bagatellisiert – gab es doch damals durchaus viele evangelische Christen, die sich so friedfertig und rücksichtsvoll verhalten haben wie es heute üblich ist.

Bei Gläubigen, die Luther auf den Sockel gehoben haben und als theologische Ikone verehren, dürfte es indes schwierig werden, gravierende Fehler in dessen Lehre überhaupt für möglich zu halten. (Was viele besser informierte weltliche Leute heute über Luther denken, wurde anlässlich des millionenteuren  Spektakels um das 500jährige Lutherjubiläum deutlich: vor dem Reichstag wurde von Lutherkritikern eine überlebensgroße Lutherskulptur aufgestellt, auf deren Mantel die von ihm verfassten Judengesetze  geschrieben waren.- Quelle. Humanistischer Pressedienst: „Luther :polizeilich attestierter Volksverhetzer„)

Was der Bericht von Spiera auch lehrt: Hilfe muss schnell und effizient geleistet werden, wenn sie nicht zu spät kommen soll! Intensive Verdammungsängste können lebensgefährlich sein (Schlaganfall! Herzinfarkt! Tod durch Erschöpfung und Asomnie!).

Der zeitgenössische Bericht über die der Abschwörung folgenden Ereignisse samt der wenig überzeugenden theologischen „Auswertung“ ist dem Buch von Karl Roenneke, Francesquo Spiera – eine Geschichte aus der Zeit der Reformation in Italien (Hamburg 1874) entnommen. Der gesamte Text ist durch kursive Schrift gekennzeichnet. Es wird also nun wie folgt berichtet:

Von Stunde ab hatte Francesco Spiera keine Ruhe mehr. Gleich die erste Nacht nach seinem Widerruf war schrecklich. Er war wie ein von Furien gepeinigter. Fortwährend klang ihm das niederschlagende Schriftwort in den Ohren: »Wer mich verläugnet vor den Menschen, den will ich auch verläugnen vor meinem himmlischen Vater« (Matth. 10, 33). Er hatte wie mit einem Male alle Gnadengaben des heiligen Geistes verloren. Alle Wohlthaten der Verbindung mit Christo waren dahin. Aller Trost war ihm entschwunden. Er hatte keinen Glauben, keine Liebe, keine Hoffnung mehr; ohne Unterlaß schwebten ihm die Strafen der Verdammten, die er bereits selbst an sich erfuhr, vor Augen. Sein Herz  war voll Hasses, Fluchens und Lästerns. Alle Sünden, die er von seiner Kindheit an begangen, stiegen wie ein zahlloses Heer wieder vor seinem Geiste auf. Grausen und Verzweiflung bemächtigten sich seines Gemüthes.

Seine Freunde sahen mit Schrecken diese Folgen seines Widerrufes und Abschwörung der erkannten evangelischen Wahrheit. Die Einen fingen an zu bereuen, daß sie ihm den Rath gegeben und zugeredet hatten, seinen Glauben zu verläugnen, die Andern hielten ihn für melancholisch und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Die Familienglieder des Unglücklichen beschlossen ernstliche Schritte zu thun, um dem jammervollen Zustand des Vaters abzuhelfen. Sie redeten ihm auf jede Weise zu, von Cittadella nach Padua überzusiedeln. Denn die dortige Universität zählte unter ihren Professoren der Medizin tüchtige und erfahrene Leute, welche in diesem so seltsamen Falle gewiß einen guten Rath zu geben wußten. Spiera gab auch wirklich dem Drängen der Seinen nach und reiste in Begleitung seiner Gattin, so wie einiger seiner Kinder und guten Freunde nach der nahen Universitätsstadt ab. In dem Hause eines achtbaten Bürgers, Namens Giacomo Nardini, der in der Nähe des heute noch so genannten Mühlenthores in der  Leonhardsstraße, wohnte, fand er mit den Seinen freundliche Aufnahme.

Spiera zählte damals 46 Jahre. Er war nach dem Bericht von Augenzeugen ein Mann von sehnigem, starken Körperbau, und sah auch im Gesicht noch ziemlich wohl aus. Aber trotzdem legte er sich gleich nach seiner Ankunft zu Bett, verließ dasselbe höchst selten und kam aus seiner Schlafkammer nie heraus. Nun wurden die ersten Ärzte der Stadt, Francesco Frizimeliga, Paolo Crasso, Stefanello und Alvisio Bellacati gerufen. Sie untersuchten den Patienten aufs sorgfältigste, hielten einen langen Consult über seinen Zustand, wußten aber wenig Rath. »Es sei hier zu vermuthen« — so lautete ihr Ausspruch — »daß der Tiefsinn, in welchen ihn seine That gestürzt, alle seine Sinne verwirrt habe. In Folge dessen seien auch die bösen Säfte, deren sich sehr viele im menschlichen Körper befinden, aufgeregt worden und stiegen nun qualmartig bis zum  Sitz der Einbildungskraft und der Vernunft empor, wodurch letztere nothwendig verdunkelt werden müßten. Es schien ihnen deshalb für den Augenblick das Zweckmäßigste seine Eingeweide durch einige gelinde Mittel zu reinigen.« Wir wundern uns gar nicht, daß Spiera diesen medicinischen Größen, nachdem er ihren weisen Rath gehört hatte, einen mitleidigen Blick zuwarf und sagte: »O ihr Armen, wie sehr seid ihr im Irrthum! Meint ihr denn, daß ich an einer Krankheit leide, welche durch Arzneien oder menschliche Kunst geheilt werden kann? Glaubt mir, hier ist ein anderes Heilmittel von nöthen. Einer Seele, welche durch die Erkenntnis; ihrer Sünde und die Last des göttlichen Zornes niedergeschmettert ist, hilft weder Trank noch Pflaster; für sie giebt es nur einen Arzt, Christum, nur ein Mittel, das Evangelium«

Man sieht, Francesco Spiera sprach ganz vernünftig und folgerichtig über seinen Zustand. Er war überhaupt bei vollen Verstandeskräften, wußte sich auf alles zu besinnen und wiederholte selbst nie dieselben Worte zweimal. Kurz, es war leicht zu merken, daß nicht sein Geist gestört, wohl aber sein Gewissen beschwert war. Er lag darnieder, ohne krank zu sein. Seine Kräfte mußten aber immer mehr schwinden. Von allen leiblichen Bedürfnissen war ihm nur ein brennender Durst geblieben, so daß er nach dem Bericht eines Augenzeugen mit Namen Gribaldus die Gewässer der Donau und des Nil hätte austrinken können.

Alle andern Funktionen des Körpers hörten nach und nach auf. Des Lebens müde, wies er jede ihm dargebotene Nahrung zurück. Er war fest entschlossen, Hungers zu sterben und weigerte sich beharrlich etwas zu essen. Es kam so weit, daß zweimal des Tages ein starker Mann ihm unter dem hestigsten Sträuben von seiner Seite die
Hände auf den Rücken binden mußte. Dann wurde ihm der Mund gewaltsam geöffnet und mit einem Löffel oder anderm Instrument klein geschnittenes Huhn, ein Ei oder etwas Brühe, von seinen Söhnen beigebracht. Er leistete aber immer, so viel er konnte, mit der Zunge Widerstand und wars wenigstens theilweise wieder heraus, was man ihm eingab. Wie er selbst sagte, war es ihm, als sähe er das Angesicht und die Hände seiner Peiniger, wenn seine Söhne zu ihm herantraten, um ihm unter Zwang und Drohungen Speise aufzunöthigen.

»Meine Kinder« —— rief er aus — ,,sind zu meinem Verderben geboren und meine Todfeinde. Seht, mit welcher Grausamkeit sie mir die unwillkommenen Nahrungsmittel aufdrängen. Ich sehne mich, dieses Leben zu verlassen, und sie wollen mich mit Gewalt am Leben erhalten.« Einer seiner Neffen wurde hierüber ernstlich böse, tadelte ihn mit harten Worten wegen seines Benehmens und erklärte seinen ganzen Zustand für Thorheit oder verstellten Wahnsinn.

Aber mit eben so viel Ernst als Ruhe antwortete ihm Francesco auf seine Vorwürfe:»Deute du die Sache immerhin wie du willst, ich weiß, daß ich kein Schauspieler bin. Wollte Gott, mein Leiden wäre Wahnsinn, möchte es nun ein wirklicher oder verstellter sein! Denn wenn ich eine Krankheit heuchelte, so könnte ich mich ja selbst davon befreien. Wäre der Zustand meines Geistes gestört, so dürfte ich immer noch auf Heilung hoffen. Leider weiß ich, daß es nicht so ist. Denn ich bin für einen Feind Gottes erklärt und eines Verbrechens gegen die göttliche Majestät schuldig. Jch bin verloren, ich gehe zu Grunde, ich bin ein Gefäß des ewigen Zornes Gottes» Du aber sicherer Mensch, der du mit einer so schrecklichen Sache zu spielen und mich der Lüge zu beschuldigen wagst, solltest durch mein entsetzliches Beispiel dich erschüttern und Gottesfurcht lehren lassen. Denn wäre ich wirklich wahnsinnig geworden, wie du mir vorwirfst, so würde selbst dies eine Strafe meiner Sünde und eine Züchtigung der Hand Gottes sein.«

Sein Zustand wurde von Tag zu Tag füchterlicher und unerträglicher. Oft bat er, man möchte ihm doch eine Waffe geben. Gribaldus frug ihn, was er denn thun wolle, wenn er eine Waffe erhielte. »Gebt sie mir nur, erwiederte er, und ihr werdet sehen, was ich damit machen werde.« Als aber Gribaldus fortfuhr in ihn zu dringen, er möchte doch sagen, welches seine Absicht dabei sei, gab er die ausweichende Antwort: »Ich weiß es nicht, kann auch nicht sagen, was geschehen würde.«

Nur beiläufig erwähnen wir, daß Spiera von den Seinen auch nach dem Grabe des heiligen Antonius gebracht und dort drei Tage gelassen wurde mit der stillen Hoffnung, daß dieser berühmte Wundermann „Padua’s, der nach der Meinung seiner abergläubischen Verehrer im Tode ebenso wie im Leben Macht über alle Dinge im Himmel und auf Erden hat, den Unglücklichen heile. Aber es war vergebens. »Der Heilige« wie der Schutzpatron noch heutigen Tages in Padua allgemein heißt, welcher, wenn man den Unmassen Von Votivtafeln Glauben schenken darf, die sich nicht nur in der Basilica des heiligen Antonio zu Padua und zwar genauer in der Kapelle del Santo, sondern in allen katholischen Kirchen und Altarnischen finden, die mit dem ,,Wundermann« Antonio in irgendwelcher näherer Beziehung stehen — der Heilige that nichts. Wir Evangelischen wissen auf das »Warum?« Alle die eine treffende Antwort. –

Das Geschick des unglücklichen Francesco Spiera hatte die ganze Stadt Padua in große Aufregung versetzt. Wer nur irgend konnte, kam, um den armen Mann zu sehen, und womöglich zu trösten. Francesco’s Zimmer wurde nie leer von Besuchern. In der Regel waren 25—30 Personen zugleich um sein Bett versammelt, darunter viele Studenten der damals zahlreich besuchten Universität, welche oft genug wegen des Trauerspieles in der Leonhardstraße die Vorlesungen ihrer berühmten Professoren versäumten. Von Männern, die sonst noch Spiera während seines Aufenthaltes in Padua besuchten, werden genannt der Bischof Arrivabene, Bartolomeo Fonzio, Giuliano del Colle, Bernardino Scardeone, Luigi, Soranzo, Giuseppe di.Verona, Dr. Henricus Scotus, Dr. Sigismund Gelous, Giovanni Sozomeno und auch der damalige Stadtvorsteher von Padua Bernardo Navagero.

Besondere Erwähnung verdienen aber abgesehen von den bereits genannten Männern zwei andere, die sich unablässig mit dem Kranken beschäftigten und sich alle mögliche Mühe gaben, nicht nur menschliches Mitleid und menschlichen Trost ihm zu erweisen, sondern in seine Verzweiflung auch das Licht der göttlichen Gnade und Erbarmung hinein strahlen zu lassen. Der Eine war Dr. Matthäus Gribaldus, Professor des bürgerlichen Rechts in Padua, ein frommer und treugesinnter Mann, der Andere Peter Paul Bergerius, Bischof von Capo d’Jstria. Dieser Letztere kam gerade damals im Herbst 1548 Von den Ufern des Gardasees, wohin er sich vor der Inquisition zurückgezogen hatte, nach Padua und bezog eine Wohnung in derselben Leonhardstraße, wo, wie wir wissen, Francesco Spiera’s Gastfreund wohnte. Gar bald erfuhr er die Geschichte seines bejammernswerthen Nachbars und nun trieb ihn, die Stimme Gottes, welche ihn, wie er sagt, »innerlich zupfte«, den Unglücklichen zu besuchen und zu trösten. Von diesem Augenblicke an ist er fast nicht mehr von seinem Bette gewichen. Bei fünf und zwanzig Malen ist er zu ihm gegangen und die Seele aller Unterredungen gewesen, welche mit ihm geführt wurden. Er  selbst bereitete sich auf jeden Besuch bei Francesco Spiera durch Gebet und Schriftbetrachtung vor.

Nachdem Spiera seinen Freunden eines Tages seine ganze Lebensgeschichte erzählt hatte, wie wir sie kennen, standen sie erst eine Weile in tiefem Schweigen. Aber dann knüpften sie das Gespräch an, Spiera auf das einzige Mittel hinweisend, durch welches ihm geholfen werden könne, und welches er selbst bei dem Besuche der Ärzte ganz richtig angegeben hatte. Sie erinnerten ihn an die Barmherzigkeit Gottes, die unendlich größer sei, als alle unsere·Sündenschuld. Denn er wolle ja, daß allen Menschen geholfen werde und zur Erkenntniß der Wahrheit kommen (1. Tim. 2, 4).

Da antwortete Spiera: ,,Mich hat Gottes gerechtes Gericht getroffen. Schon jetzt dulde ich der Hölle Pein und die Qualen der ewigen Verdammniß. Aller Friede, alle Gnade Gottes ist mir für immer genommen. Ich habe die Sünde gegen den heiligen Geist begangen, und diese Sünde wird weder in dieser, noch in jener Welt vergeben (Matth. 12, 32). Jedweden, der sie begeht, trifft der Verdammungsstrahl der göttlichen Strafgerechtigkeit. Ich kann Gott nicht mehr lieben, ich kann ihn nur noch hassen. Binnen kurzem wird das Maß der göttlichen Gerechtigkeit voll sein, und ihr werdet mein schreckliches Ende sehen, damit alle Auserwählten an mir ein schreckliches Beispiel haben» und ein jeder sich überzeuge von dem, was an allen denen geschieht, die den Namen des Herrn verleugnen-» Wohl stehet geschrieben: Gott will, daß allen Menschen. geholfen werde, aber das gilt nur für die Auserwählten, nicht für die Verworfenen, zu denen ich gehöre.«

Man entgegnete ihm hierauf, Auserwählte seien alle diejenigen, welche an Jesum Christum glaubten. Denn es stehe geschrieben: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh. 3, 16).« – Desgleichen schreibe der Apostel Paulus: »Das ist je gewißlich wahr und ein theuer werthes Wort, daß Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin (1. Tim. I, 15).«

»Jhr habt Andern gut solche Rathschläge geben,«« erwiderte Francesco, »denn ihr gehört zu den Gesunden, aber ich — ich kann nicht glauben, weil ich aus der Gnade gefallen bin. Was den Apostel Paulus betrifft, so ist zwischen ihm und mir ein himmelweiter Unterschied; denn er ist nach seiner Bekehrung im Bekenntniß des Glaubens standhaft geblieben. Wohl kann auch ein Gefallener wieder glauben und aufstehen, aber nur ein solcher, welcher wenigstens noch ein Fünkchen Glauben hat und nur aus Vergeßlichkeit oder Übereilung einen Fehltritt thut, so daß ihn eine väterliche Züchtigung noch zu bessern vermag. Der Gerechte fällt siebenmal des Tages und steht wieder auf. Aber gegen mich, der ich dem heiligen Geist beharrlich widerstrebt, hat sich alles verschworen: Himmel, Elemente, Welt, Gott, Engel, Menschen und Teufel.«

Als ihn hierauf einer der Besucher fragte, ob er denn glaube, daß das, was er widerrufen habe, wahr und katholisch gewesen sei? entgegnete er: »Ja, so lange als ich es verkündigte; aber seitdem ich, vom Satan überwunden, es abgeschworen habe, halte ich weder das, was ich früher geglaubt, noch das, was mir die römische Kirche zu glauben befiehlt, mehr für wahr. Kurz, ich glaube gar nichts mehr, ich habe alle Hoffnung weggeworfen. Ich bin verdammt wie Kain, Saul und Judas, ja ich beneide diese sogar noch. Meine Bosheit ist größer als Gottes Barmherzigkeit, denn ich habe mit Wissen und Willen Christum verleugnet. Ich empfinde auch in mir, daß er mich verstockt, und daß ich nicht mehr an ihn glauben kann. Man lasse mich nur bald zum Teufel fahren, wie ich verdient habe; denn als dann habe ich doch wenigstens nichts Schlimmeres mehr zu fürchten. Hier ist alles feindlich gegen mich gesinnt. Denen freilich, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen, den Gottlosen aber ist alles zuwider, die Natur, Freunde, Feinde, der Tod, die Sünde.«

Natürlich verwiesen ihm seine Freunde solche vermessene und gotteslästerliche Reden und baten ihn, sich doch nicht aufs Neue an Gott zu versündigen, indem er seiner Gnade gleichsam Schranken setze.

Namentlich war es Gribaldus, der zu ihm sagte: »Denket an den Apostel Petrus, dieses Vorbild aller Bekenner. Er hat seinen Heiland, von welchem er so viele Liebeszeichen empfangen, dreimal verleugnet, aber im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit seine Verschuldung mit Thränen bereut und Vergebung erlangt. Denkt an den Schächer, der nie etwas Gutes gethan, sondern sein ganzes Leben unter Missethaten hingebracht hatte und doch noch im letzten Augenblicke um einer einzigen guten Regung willen zu Gnaden angenommen worden ist. Wisset ihr nicht, daß die Hand des Herrn nicht verkürzt, ja daß er die Geduld und Barmherzigkeit selbst ist? Ruft ihn nur von Herzen an, so wird er euch gnädig sein, ja ich sage euch, er hat sich schon über euch erbarmt und alle Schuld euch durch Christum vergeben. »Denn der feste Grund Gottes muß bestehen: Von diesem zeugen alle Propheten, daß durch seinen Namen Alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen (Apostelgesch: 10, 43).«

»Ich glaube nicht« war die kurze Antwort Spiera’s. Gribaldus aber fuhr fort: »Ich habe viele gekannt, die sich noch schwerer als ihr versündigt hatten und in die äußerste Verzweiflung gefallen waren. Dennoch sind auch sie durch die Gnade Gottes und den Zuspruch treuer Freunde wieder aufgerichtet worden und in Frieden hingefahren. Warum solltet denn nicht auch ihr wenigstens noch ein Fünkchen Glauben an die überschwengliche Barmherzigkeit Gottes haben, an welcher kein Mensch verzagen darf, hätte er auch alle Sünden der ganzen Welt begangen?«

Vergerio unterstützte diese Vorstellungen auf die herzlichste Weise. »Liebster, theuerster Francesco, – sprach er, nehmt die Worte des Herrn Doktors zu Herzen. In. ihm hat Gott euch einen Boten seiner Barmherzigkeit gesandt. Warum glaubt ihr nicht? Hat Gott seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern hat ihn auch für euch dahingegeben, wie sollte er euch mit ihm nicht Alles schenken (Röm. 8, 82)?««

Spiera antwortete: »Ich glaube Alles, was ihr sagt. Die Teufel glauben’s auch und zittern (Jak. 2, 19). Aber das nützt mir nichts: meine Sünde ist zum Tode. Petro wurde vergeben, nicht weil er weinte, sondern weil der Herr ihn ansah! dieser Blick des Herrn brachte  ihn zur Reue und Buße, daß er hinaus ging und weinte bitterlich. Meiner hingegen erbarmt sich der Heiland nicht, mich sieht er nicht an und will mich nicht ansehen. Darum bin ich so ungerührt, darum kann ich auch nicht weinen und muß nothwendig schließen, daß ich einer von den Verworfenen bin. Denn ich fühle, daß kein Trostgrund in meiner Seele haften kann, sondern nur Qual und Marter. Nach diesen. Worten schrie er mit ungeheurem Schmerz laut aus: »Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen! (Hebr. 10, 31)« »Bei diesem Ausruf — schreibt Vergerio — schauderte ich zusammen.«

Es fehlte unter den Besuchern natürlich auch nicht an solchen, die mit ungeschickten Fragen und Einwürfen kamen. »Hast du denn — fragte ihn jemand — freiwillig oder gezwungen abgeschworen?

,,Darauf kommt gar nichts an,« entgegnete Spiera,. »denn Christus will auf keine Weise, auch mit dem Munde nicht, verleugnet sein. »Wer mich verleugnet vor den Menschen, sagt er ohne Einschränkung, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater (Matth. 10, 33).« Ist es nicht, als hätte der Herr dieses Wort mit besonderer Beziehung auf mich gesprochen? Noch mehr: heißt es nicht (Hebr. S, 4—»6): »Es ist unmöglich, daß die, so einmal erleuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und theilhaftig worden sind des heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen und wiederum ihnen selbst den Sohn Gottes kreuzigen, und für Spott halten, daß sie sollten wiederum erneuert werden zur Buße?« Und steht nicht endlich Hebr: 10 ,26-27) geschrieben: »So wir muthwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntniß der Wahrheit empfangen haben, haben wir fürder kein ander Opfer mehr -für die Sünden, sondern ein schreckliches Warten des Gerichts und des Feuereifers, der die Widerwärtigen verzehren wird?« Mir spricht Paulus hier das Urtheil. Von mir schreibt Petrus, wenn er sagt: »Es wäre ihnen besser, daß sie den Weg» der Gerechtigkeit nicht erkennet hätten, denn daß sie ihn erkennen und sich kehren von dem heiligen Gebot, das
ihnen gegeben ist (2. Petri 2, 21).«

Da meinte nun ein Anderer ihn entwaffnen zu können, indem er ihn zu überreden suchte, er habe ja nicht verlengnet, sondern nur gottlose Meinungen abgeschworen und mit der katholischen Wahrheit zugleich Christum aufs Neue bekannt.

Aber Spiera antwortete: »Ich hielt das, was ich glaubte, mit nichten für gottlos, sondern für wahr, weil ich es im Evangelium gelesen hatte, und dennoch habe ich es verleugnet.«

»Nun denn,« -fuhr der Andere fort, »so halte es nur jetzt wieder für wahr, damit du nicht im Mißglauben dahin sterbest.«

»Ich kann nicht,« jammerte der Arme, »denn jetzt läßt mich Gott nicht mehr glauben. Ich möchte es wohl glauben, selbst wenn ich deshalb verbrannt werden sollte. O wenn ich noch wäre, was ich gewesen, wenn ich durch Gottes Barmherzigkeit wieder in den Stand der Gnade zurück versetzt würde, ich wollte gewiß die Drohungen der Tyrannen verachten, mit hohem und ungebeugtem Muth jede Art von Qualen erdulden und mit Jauchzen Christum im Munde, in den Augen und im Herzen tragen, bis die Flamme meinen Odem erstickte und diesen Leib in Staub und Asche verwandelte. Aber ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr! Glauben und Hoffen ist Gottes Werk und Geschenk. Viele mit mehr Sünden beladen als ich, haben noch gehofft und Barmherzigkeit gefunden, weil sie unter Gottes Auserwählten waren. Die Verworfenen dagegen können
auch bei weit geringerer Sündenschuld der Verdammniß nicht entrinnen. Denn weder Christi Blut, noch Gottes Erbarmen kommt ihnen zu Gute.«

»Ich erzitterte am ganzen Leibe — schreibt Vergerio — und Schauder überläuft mich, wenn ich daran zurück denke. Mehr als zehnmal wiederholte er das Wort: »Gott erbarmet sich, welches er will und verstocket, welchen er will (Röm. 9, 18).« Meiner erbarmet er sich nicht, sondern er verstockt mich, denn ich fühle es. Und das ist es, was mich ängstet, was mich martert, was mich zur Verzweiflung bringt- O wie selig sind, die zu den Auserwählten gehören, und wie elend wir, die wir das ewige Feuer zu erwarten haben!« Bei diesen Worten sah ich ihn rasen und schäumen.

Ich möchte zu ihm zurückkehren — schließt Vergerio seinen Brief— und dann graut mir wieder davor. Ich werde aber doch fortfahren, ihn zu besuchen. Jeden Tag ereigneten sich neue erschütternde Szenen, und was das Schlimmste war, Francesco wies alle Tröstungen mit derselben Hartnäckigkeit wie bisher zurück.

Eines Tages war Vergerio mit andern Freunden wieder bei ihm eingetreten. Sie grüßten ihn freundlich, erkundigten sich nach feinem Befinden und versuchten aufs Neue, ihn aufzurichten. Er aber verhielt sich theilnahmlos, lag mit geschlossenen Augen da, als wäre er schlaftrunken, und gab kaum eine Antwort.

Da geschah es, daß ein Mann, der von CittadelIa kam, ins Zimmer trat. Dieser näherte sich dem Bette und frug: »Kennt ihr euern Freund nicht mehr?« Spiera schlug die Augen halb auf und betrachtete ihn einen Augenblick, es schien aber nicht, als ob er sich seiner entsinne.

Darauf sagte jener: »Jch bin der Presbyter Antonius Fontanina, der vor mehreren Monaten bei euch war, gerade an dem Tage, da ihr nach Venedig reistet.« »O des verfluchten Tages, o des verfluchten Tages!«-« rief Francesco da stöhnend aus. »Wäre ich doch nie hingegangen, oder vorher gestorben!«

Seine Freunde, die wohl gesehen hatten, wie wenig menschlicher Zuspruch dem Kranken nützte, wollten es nun mit dem Worte Gottes probieren. Sie nahmen die Bibel zur Hand und fingen an, ihm die Leidensgeschichte
Christi vorzulesen.

»Gieb Acht, Francesco — sagten sie zu ihm, — jetzt wirst du hören, daß der Herr alle deine Sünden getragen und gebüßt hat.«

Als der Vorleser zu der Stelle kam, wo die Kreuzigung Jesu erzählt wird, fiel Spiera ein: »Ja, das ist der Trost der Auserwählten. Sie dürfen sich mit Recht freuen, wenn sie eine so fröhliche Botschaft hören. Aber uns Elenden, die wir von Gott verworfen sind, ist sie vielmehr eine Pein, eine Marter. Denn wir haben durch Verleugnung Christi sein Opfer und sein Verdienst von uns gestoßen.« Dabei brüllte er wie ein Löwe, wälzte sich auf seinem Lager umher und beschwor die Anwesenden, nicht weiter zu lesen.

»Er ist besessen — sagte einer Von den Umstehenden mit leiser Stimme — weil er vor Christi Leidensgeschichte einen Abscheu hat.«

Spiera hatte es wohl gehört und sprach: »Solltet ihr noch daran zweifeln? Ja ich habe eine Legion von Teufeln in mir, die mich besitzen, und deren rechtmäßiges Eigenthum ich bin; denn ich habe Christum verleugnet.« -Und nun erzählte er unter Thränen von furchtbaren Erscheinungen, die er gehabt habe: ,,wie immerfort die bösen Geister seinem Gemach und seinem Lager sich näherten, Lärm und Getös machten, ihm Schrecken einjagten und kleine Nadeln in sein Kopfkissen bohrten.  Das sei, fügte er hinzu, nicht etwa eine Ausgeburt seiner Einbildungskraft, sondern so wahr, als er die Umstehenden selbst vor sich sehe und sprechen höre, und eben daran, daß Gott ihn in die Macht des Teufels gegeben habe, erkenne er, daß er ein Verworfener sei.« ,Zufällig geschah es, daß einige Fliegen sich auf seinen Körper setzten. »Seht!« rief er aus, »die wollen auch zu ihrem Herrn; Beelzebub kommt zum Mahle, denn er heißt ein Fürst der Fliegen, und bald werdet ihr hören, was für ein Ende ich genommen habe.«
Dabei wandte er sein Angesicht ab und drehte sich nach der andern Seite des Bettes.

Vergerio und alle Freunde baten ihn, sich doch keinem solchen Wahne hinzugeben; es sei ja nicht wahr, daß er von Teufeln umlagert sei. Er aber sprach: ,,Es ist genug, ich fühle, was mir geschieht.« — Man suchte ihn wieder durch biblische Verheißungen zu beruhigen. Einer schlug Römer 11, 29 auf und las mit lauter Stimme: »Gottes Gaben und Berufung mögen ihn nicht gereuen.« Aber es war Alles umsonst. »Hoffet nichts mehr für mich,« sprach er zu seinen Freunden; »denn ich spüre, daß mich der Herr von Stunde zu Stunde mehr verhärtet, und darüber vergeht auch meine körperliche Kraft. Nie hat sich in der Welt etwas so Ungeheuerliches wie mit mir begeben, denn wer ist jemals seliger gewesen, als ich? Nehmt euch ein Beispiel an mir, meine Brüder! Nehmt ihr die Sache nicht so leicht, wie ich sie genommen habe. Ich habe angefangen, die heilige Schrift zu verstehen, ich bekam Einsicht in das Wort der Rechtfertigung, und dennoch reiste ich hin, abzuschwören, um dieses mein Leben von Ungemach frei zu erhalten und mein kleines Besitzthum meinen Kindern zu sichern. Darum hat Gott mich gestraft und läßt jetzt über mich, mein Leben und meine Seele solche Betrübniß und Marter kommen, daß nie ein Mensch größere Pein erduldet hat. Und Gott weiß, was für ein Ende es mit meinen Kindern nehmen wird! Jch glaube, mein Haus wird von Tag zu Tag mehr verfallen und so gänzlich zu Grunde gehen, daß auch nicht ein Stein auf dem andern bleibt. Und das mit Recht, weil ich es mit der Sünde wider den heiligen Geist, welcher mir die Wahrheit kund gethan hatte, zu bauen gedachte. Gott hat an mir Elenden zeigen wollen, welch ein Gräuel ihm solche Gottlosigkeit und Lästerung ist.«

Als ihm hier Jemand einwarf, viele Andere hätten ja auch wie er abgeschworen, ohne deshalb in solche Verzweiflung gefallen zu sein, antwortete er: »Ich bürge ihnen für nichts; sie sind noch nicht sicher vor der Rache Gottes, wenn auch sein Zorn sie bis jetzt nicht getroffen hat. Es hat aber, und zwar mit Recht, seiner unerforschlichen Vorsehung gefallen, sein Strafgericht über mich hereinbrechen zu lassen, wie ihr seht, damit für alle Zeiten und Menschen ein warnendes Beispiel an mir aufgestellt würde. Ich ermahne euch, meine lieben Brüder, nochmals, nehmt die Sache nicht so leicht, wie ich sie genommen, und denkt nicht, daß ihr die Wahrheit nur in dem Falle verläugnet, wenn ihr vor den Richter gerufen, vor Fürsten und Oberpriester gestellt werdet. Denn ihr sagt euch von ihr und Christo los, so oft ihr das, was ihr als wahr einsehet, verhaltet oder den profanen Gewohnheiten von Freunden euch anbequemt, so oft ihr durch euer Wort oder eure Gegenwart abgöttische Gebräuche bestätiget oder ein Leben führt, welches eines Christenmenschen unwürdig ist. Dadurch habe auch ich mich versündigt. Denn während ich mich fleißig mit dem Evangelium beschäftigte, öffentlich mich zu demselben bekannte und Andere darin unterweisen wollte, verwickelte ich zugleich zu Gunsten meiner Freunde sowohl die peinlichen als bürgerlichen Rechtshändel. Das hieß aber mit der That läugnen, was ich mit dem Munde bekannte. Während ich mir anmaßte, den vollkommenen Glauben erlangt zu haben, und ich alle Stellen der Schrift bei der Hand hatte, lebte ich Gott und der Religion zuwider. Den Glauben an das Evangelium gebrauchte ich als Vorwand für die Freiheit des Fleisches. Ich mißbrauchte diesen Glauben, um ferner sündigen zu können. Darum hat mich Gott mit Recht in solches Unglück kommen lassen.«

Ebensowenig als alle bisher vorgebrachten Trostgründe wollten bei ihm die Beispiele Hiobs und Davids fruchten, auf die man ihn hinwies. Auch diese beiden, sagte man ihm, wären zu Zeiten von ähnlicher Verzweiflung angefochten gewesen und hätten sich von Gott verstoßen geglaubt, aber nachmals wären sie doch wieder der hülfreichen Gegenwart Gottes inne und seines Trostes theilhaftig geworden.

»O mein Bruder,« antwortete Spiera dem, der solches zu ihm sagte, ,,das weiß ich sehr wohl. Aber David konnte mitten in der Anfechtung Gott danken; denn er hatte seine Hülfe bereits erfahren. Darauf darf jedoch ich mir keine Hoffnung machen. Denn «ich fühle, daß ich Zeit meines Lebens in dieser Herzenshärtigkeit und trostlosen Verzweiflung bleiben werde.« Dann sprach er tief ausseufzend: Ach, wie ist Gott mein so großer Feind! O wie selig wäre ich, wenn ich nur einen Augenblick seine Liebe empfände, aber es ist mir nicht möglich. Denn ich stehe schon die höllische Pein aus: wo man solche Verzweiflung empfindet, da ist die Hölle.«

Von diesem Ausdruck nahm Vergerio Anlaß, ihm zu bemerken, daß, wenn die Schrift sage, Gott führe in die Hölle und wieder heraus, dies nicht von dem Aufenthaltsort der abgeschiedenen Seelen zu verstehen sei, sondern von einem Zustand im gegenwärtigen Leben, wie dem seinigen. Gott lasse uns bisweilen in Gefahr und Verzweiflung gerathen, um uns wieder herauszureißen, sobald es ihm gefällt. Darum „solle er auf Gott trauen, der dasselbe auch an ihm thun werde.

Spiera erwiederte: »Das ist’s eben, daß ich nicht vertrauen, noch hoffen kann. Ich kann nicht, sage ich, ich kann nicht. Als ich meinen Widerruf zuerst in Venedig unterschrieb und dann in Cittadella nochmals öffentlich besiegelte, sprach beide Male der Geist zu mir: »Schreibe nicht, besiegle nicht!« Ich habe, dem Geist widerstrebend, es doch gethan, und noch in demselben Augenblicke fühlte ich einen Streich, der gegen meine Willenskraft und mein leibliches Dasein geführt wurde, so daß ich nun weder hoffen, noch am Leben bleiben kann.«

Dabei richtete er sich auf seinem Bett empor und sprach mit aufgehobenen, krampfhaft zusammengepreßten Händen: »Seht, ich bin ein starker Mann, und dennoch verzehre ich mich und sieche langsam hin. Diese dort «freilich (auf seine Angehörigen weisend) wollen mich wider meinen Willen am Leben zurückhalten. Aber endlich muß doch Gottes Wille erfüllt werden, daß ich »elendiglich umkomme, wie ich verdient habe. Freuet euch des Herrn und seid fröhlich, ihr Gerechten, und rühmet, alle ihr Frommen! Selig, wem der Herr ein weiches lenksames Herz gegeben hat.

Er war, wie Bergerio urtheilt, gleich einem Gebundenen zu erachten, welcher gern erledigt sein möchte und diejenigen selig preist, ja beneidet, welche ihrer Banden los sind, aber selbst nicht im Stande ist, sich von denselben zu befreien. Er wünschte, daß Gott ihm gnädig und barmherzig sein, daß er ihm seine Sünden vergeben möchte. Aber er fühlte es an sich selbst, daß Gott das nicht thue und er ihn dazu nicht zwingen könne. Er wunderte sich selbst darüber, daß er das Verlangen habe, ihn im Geist anrufen zu können, und es dennoch nicht vermöge, daß er seine Verdammniß sehe und das in Christo dargebotene Heil erkenne und es dessen ungeachtet nicht erfassen könne. Darin sah er die Strafen der Verdammten. Ihr Bekenntniß hielt er auch für das seinige. Wie sie die Auserwählten beneiden, aber sich nicht bekehren können und ihnen alle Reue nichts mehr hilft, so gehe es auch ihm, in dessen Person allen Menschen Gott ein warnendes Beispiel hingestellt
habe. —

Spiera’s Zustand verschlimmerte sich von Tage zu Tage. In Folge dessen hatte man sich am 18. November zahlreicher als je um den Ungliicklichen versammelt und waren unter andern besonders viele Studenten zugegen.

Vergerio, mit welchem zusammen sich noch ein anderer Bischof, wie auch Dr. Gribaldus eingefunden hatte, nahm das Wort und sprach: »Deine Krankheit, Francesco, ist von der Art, daß sie nur durch Gottes Wort und das Gebet geheilt werden kann. Gott hat verheißen, daß er uns um seines» Sohnes willen erhören wolle; er stößt keinen hinaus, der ihn mit Ernst anruft. Ich beschwöre dich deßhalb, das Gebet des Herrn zu sprechen. Wir andern wollen alle im Geiste mitbeten.«

Spiera sagte nun wirklich das Vaterunser in italienischer Sprache her und zwar that er dies in so andächtiger, salbungsvoller Weise, daß die Umstehenden davon tief ergriffen wurden. Aber kaum war er damit zu Ende, so erklärte er, daß sein Herz nicht gebetet hätte, was die Lippen gesprochen. Man bat ihn darum, das Gebet noch einmal zu wiederholen. Jetzt sagte er es lateinisch. Nach den Worten: ,,Vater unser, der Du bist im Himmel« stockte er und die Thränen traten ihm in die Augen.

Da sagte einer: »Das ist ein gutes Zeichen, daß du Schmerz fühlst und weinst.« «

Er aber antwortete: »Jch weine über mein Elend, weil ich mich von Gott verlassen fühle und bei diesem Gebete nicht mehr wie sonst andächtig sein kann.« Darauf fuhr er fort: ,,Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme.« Hier brach er abermals in Thränen aus und seufzte: »O Herr, mache, daß auch ich in diesem Deinem Reiche sei, schließe mich nicht aus!« Nach der Bitte um das tägliche Brod setzte er hinzu: »Ich habe mehr als genug, um diesen Leib zu nähren; aber ich bitte Dich um das Brot Deiner Gnade, ohne welche ich ein Kind des Todes bin: darum lebe ich in solchem Grausen.« Als er gesprochen hatte: »Führe uns nicht in Versuchung« sagte er im jammervollsten Tone: »Ich bin in Versuchung geführt, hilf Du mir heraus. Mich hat der böse Feind besiegt, laß mich wieder siegen!« –

Alle mußten weinen, und als er das Amen gesprochen hatte, sagte Gribaldus: »Gott sei gelobt! Denn Niemand kann Jesum Christum einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist (1. Cor. 12, 3). Ihr könnet ihn noch mit großer Inbrunst und Zerknirschung anrufen, habt also den Geist Gottes noch zum Beistand.«

Aber Spiera antwortete wieder: »Nur mit dem Munde nahe ich mich zu Gott, aber mein Herz ist ferne von ihm; denn er hat mir alle seine Gnade entzogen. Darum bete ich nur zu meiner desto größeren Verdammniß. Jhr aber mühet euch vergebens um mich.« Als die Freunde dann im weitern Verlauf der Unterredung aufJudas zu sprechen kamen und sagten, daß, wenn er länger gelebt hätte, er sich gewiß zu Christo geflüchtet, und Gott ihm vergeben haben würde, obwohl sein Verbrechen schwerer als irgend eines gewesen, da er seinen Herrn verrathen, von welchem er gespeist und geehrt worden war, so antwortete Francesco: ,,Auch mich hat er gespeist und geehrt, auch mein Verrath kommt dem des Judas gleich; denn zwischen der geistigen und leiblichen Gemeinschaft ist kein Unterschied. Daß aber Judas hätte wieder umkehren können, glaube ich nicht; denn dieses Vermögen war ihm genommen, gleich wie mir.« «

Da sagte Vergerio: »Wenn du dich in einem so schlimmen Zustande zu befinden glaubst, so darfst du dich eben deßhalb nicht auf dein eigenes trügliches Urtheil verlassen. Glaube darum nicht, was dir der Teufel eingiebt, denn er ist ein Lügner. Glaube vielmehr uns, von denen du selbst urtheilst, daß wir in guter Verfassung des Geistes seien. Wir geben dir aber die Versicherung, daß Gott dir gnädig sein will.«

»Hier sitzt eben der Knoten — sagte er — ich kann weder euch glauben, noch auf Gottes Barmherzigkeit trauen; ich möchte können, aber ich kann nicht. Denn gerade um meines elenden Zustandes willen, muß ich vielmehr alles dasjenige glauben, was meinem Heile entgegen ist. Du aber, der du in guter Verfassung zu  sein behauptest, siehe wohl zu, ob du es wirklich bist. Denn es gehört nicht wenig dazu, solches versichern zu können. Man muß im Glauben sehr stark und in der Wahrheit tief gewurzelt fein, um mit Grund von sich glauben zu dürfen, daß man in guter Verfassung sei. Sehr viele spiegeln sich das vor; aber es ist nicht so.«

Die unaufhörliche Folter und Qual, die Spiera’s Geist auszustehen hatte, mußte nothwendig auch an seinem Körper immer bemerkbarer werden. Er selbst fühlte das, wie wir oben gesehen haben. Ganz verzehrt und abgemagert lag er in seinem Bett. Von Tag zu Tag nahmen seine Kräfte mehr ab. Die körperlichen Organe versagten ihre Thätigkeit, er konnte und wollte nicht essen. Das, was man ihm mit Gewalt beibrachte, verdaute er nicht. Die Ernährung hatte aufgehört, kein Schlaf kam mehr in seine Augen. Kurz, man konnte in der Welt nichts Unglückseligeres, als diesen von Gott verlassenen Menschen sehen.

Seine Freunde konnten nicht aufhören zu hoffen und nicht ablassen, alles zu versuchen, um dem Armen zu helfen. Sie erinnerten ihn wiederholt an David, der oft auf ganz ähnliche Weise geklagt habe, er sei von den Schrecken des göttlichen Gerichtes umgeben.

,,Das habt ihr mir schon oft vorgehalten,« lautete Spiera’s Antwort. »Jch muß aber in Abrede stellen, daß er jemals in einen so tiefen Abgrund der Verzweiflung versenkt war, wie ich. Denn ich kann nicht mehr beten, wie er: »Nimm deinen heiligen Geist nicht Von mir« (Ps. 5l, 13), weil er schon gänzlich von mir genommen ist und mir nicht mehr wird gegeben werden. Ich- bin ein Beispiel der gerechtesten Rache Gottes« Man redete ihm zu, Gott zu danken und seine Gnade anzurufen.

Er antwortete: »Die Todten loben den Herrn nicht, wer will ihm in der Hölle danken? (Ps.1l5, 17; 6, 6). Die Todten aber — fuhr er fort — sind wir, die wir in solche Verzweiflung, das ist in die Hölle versenkt sind. Die Stelle Jak. 2, 10: »So jemand eine Sünde begeht, der ist des ganzen Gesetzes schuldig« wendete er folgendermaßen auf sich an: Die vielen Sünden, welche ich früher begangen, fechten mich nicht mehr an, denn ich hegte das Vertrauen, daß Gott mir dieselben nicht zurechne, daß er sie mir um Christi willen vergeben habe. Aber seitdem ich wider den heiligen Geist gesündigt habe, seitdem das Vertrauen, welches ich durch Christum zu Gott hatte, mir genommen worden ist, sind alle meine frühern Verschuldungen wieder ins Gedächtniß gekommen vor Gott. Deßhalb schweben sie mir jetzt alle vor Augen, ohne Fürsprecher, ohne Mittler. Und weil ich fühle, daß Gott mein ergrimmter Feind ist, darum muß ich so viel Schmerz und Qual erleiden. O ihr Brüder, führt ein christliches Leben! Nicht alle, die Herr, Herr! zu Christo sagen, werden in das Himmelreich eingehen (Matth. 7, 21).

Man sprach ihm Ps. 89, V. 31 34 vor: ,,Wo seine Kinder mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln; so sie meine Ordnung entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Ruthe heimsuchen und ihre Missethat mit Plagen; aber meine» Gnade will ich nicht von ihnen wenden und meine Wahrheit nicht lassen fehlen.« Es schien, als hätte man ihm keinen schlagenderen und tröstlicheren Bibelspruch entgegen halten können.

Aber wie gewöhnlich wußte er auch diesen in seiner Weise gegen sich zu kehren. Scotus und Gelous, beide Augen- und Ohrenzeugen versichern, daß wohl nie ein Mensch beredter, scharfsinniger und erfinderischer war, wo es galt sich zu rechtfertigen, als er, um zu beweisen, daß er mit Recht und auf ewig verdammt sei.

Alle mußten die Geschicklichkeit bewundern, womit er alle Aussprüche der Schrift, mit denen man ihn zu trösten suchte, gegen sich anwendete. »Man dürfe  nicht verwechseln, sagte er, was sich auf die Auserwählten beziehe, und was auf die Verworfenen; denn anders handle Gott mit jenen, anders mit diesen.«

Er berief sich auf Ps. 37, 24: Fällt der Gerechte, so wird er nicht weggeworfen, denn der Herr hält ihn bei der Hand;« aber die Gottlosen (setzte er selbst hinzu) und die Verworfenen können, wenn sie fallen, nie wieder aufstehen. Wenn man diese Unterscheidung nicht beachte, während man die heilige Schrift lese, so werde man Vieles falsch deuten und mißverstehen.

»Aber, fragte man ihn, woran erkennst du denn mit solcher Gewißheit, daß du ein so herbes Urtheil über dich fällen mußt, daß du ein Verdammter bist?«

»Ich erkannte, war seine Antwort, Gott den Vater nicht allein aus der Schöpfung, sondern auch aus meiner Wiedergeburt. Ich erkannte ihn durch seinen lieben Sohn, unsern Heiland. Ich konnte ihn anrufen und von ihm Vergebung meiner Sünden hoffen. Ich empfand—seine Süßigkeit, seinen Frieden und Trost in meinem Herzen. Jetzt empfinde ich von alle dem das Gegentheil. Jch kann zwar Gott noch erkennen, aber nicht als meinen Vater, sondern nur als Feind. Ja, was wollt ihr? Mein Geist sinnt nach, wie er sich etwa über Gott erheben könnte; er hegt Haß und Widerwillen gegen Gott. Jch kann jetzt nicht mehr hoffen oder glauben, daß er mir meine Sünden vergeben werde, nur Entsetzen und Verwirrung ist mir übrig geblieben.«

»Du glaubst also, — fragte man ihn — daß ein Rückfall möglich sei, nachdem man die göttlichen Gnadengaben und das Unterpfand des ewigen Lebens empfangen hat?« ·

»Gottes Gerichte — erwiderte er — sind unergründlich. Wir versinken, wenn wir uns in diese Tiefe zu versenken wagen. »Wer da steht, der sehe wohl zu, daß er nicht falle« (1. Cor. 10, 12); mich wenigstens treibt es davon zurück. Das weiß ich übrigens, daß ich die Wahrheit erkannt hatte, wenn ich sie auch nicht hinlänglich ergründete. Denn wäre ich einer der eurigen gewesen, so wäre ich ja bei euch geblieben. Ja, Gottes Gerichte sind unergründlich. Was soll ich weiter sagen? Ich gehöre zu denjenigen, von welchen es Pf. 50, 22 heißt: ,,Sehet zu, daß ich euch nicht einmal hinreiße und sei kein Retter mehr da«

Es wurde ihm entgegnet, man dürfe die Hoffnung nie aufgeben, so lange die Seele noch im Leibe sei; Gottes Erbarmen könne uns noch im letzten Augenblick, noch beim letzten Odemzuge retten. Gribaldus fügte hinzu, gerade daraus, daß Gott ihn hier so schwer züchtige, schöpfe er die Hoffnung, daß er ihn noch bekehren und dort zu Gnaden annehmen wolle. xxx

Spiera aber antwortete: »Das eben ist mein Unglück, daß Gott mir seine Gnade entzogen und die Kraft zu hoffen genommen hat. Wenn er nur meinen Leib geschlagen und meine Seele verschont hätte, dann würdet ihr Recht haben; aber er hat in seinem Zorn und Grimm meine Seele, mein Herz und meinen Geist zur ewigen Verhärtung verurtheilt. Nur den Auserwählten sind Schutzgeister beigegeben, nicht auch den Gottlosen, wie das Volk fälschlich annimmt. Jch habe das nicht allein aus der heiligen Schrift gelernt, sondern auch an mir selbst bestätigt gefunden. Denn mir leistet weder ein Engel noch irgend ein anderes Wesen Beistand. Die Auserwählten haben schon hier einen Vorgeschmack des ewigen Lebens und der heilige Geist giebt ihnen das Zeugniß, daß sie Gottes Kinder sind. So fühlen auch die Verdammten schon in diesem Leben den Wurm, der nicht stirbt, das Feuer, welches nicht verlöscht, kurz die Strafen der Hölle — und ich mit ihnen. Denn ich trage eine tiefe Wunde in meinem Gewissen, ich habe die himmlischen Gnadengaben verloren. Es ist um mich geschehen, ich weiß es. So straft Gott die Verworfenen; während er die Auserwählten durch liebliche Strafen züchtigt, um sie gleich dem Golde zu läutern und desto mehr zu reinigen, verstockt er die Herzen der Gottlosen, reißt ihnen die Augen des Verständnisses aus, und schrecklich ist es, wenn er die Gaben des Geistes von uns nimmt: Gott bewahre euch davor!«

An dem Tage, da Spiera sich so aussprach, befand sich unter den Besuchern auch ein Priester, mit Namen Bernardinus Scardoneus. Dieser hatte ein Buch voll exorcistischer Formeln mitgebracht, um den Teufel, der seiner Meinung nach in diesem Falle die Hand im Spiele hatte, zu beschwören und aus dem Unglücklichen auszutreiben.

Als er sich dazu anschickte, äußerte Spiera kopsschüttelnd, er sei zwar überzeugt, daß Gott ihn der Gewalt böser Geister übergeben habe, wie er sie denn auch in der That rings um sich her spüre; diese Dämonen seien aber nicht Von der Art, daß sie durch das Ablesen von Litaneien oder durch drei Psalmen gebannt  werden könnten. Ohne sich dadurch irre machen zu lassen, begann der Geistliche seine Ceremonien, und indem er eine Zeitlang schrie, beschwor er die Geister, auf die Zunge des Besessenen zu kommen und Rede zu stehen.

Spiera blickte mit verachtender Gebärde auf ihn und sein Tun hin und seufzte. Berg rio aber, vielleicht um diesem peinlichen Auftritt ein Ende zu machen, sprach: »Mein Bruder, Gott hat seine Gnadenwirkungen in das Wort und in die·Sakramente gelegt. Wir haben uns nun schon etliche Tage bemüht, dich mit dem Evangelium und den göttlichen Verheißungen aufzurichten: sollte es sich nicht verlohnen, es auch mit dem Sacramente zu Versuchen? Genieße du einmal nach dem Brauche der katholischen Kirche Christi Leib und Blut: das ist die wirksamste Arzenei für unsere Seelen.«

Aber Spiera gab die ablehnende Antwort: »Wen die Verheißungen nicht angehen, für den sind auch die Sakramente nicht da. Das Abendmahl ist den Gläubigen zu Gut eingesetzt worden. Diese empfangen Christum, wenn sie die Eucharistie empfangen. Wer hingegen den Glauben nicht hat, der empfängt Christum nicht. Vor einem Monat oder etwas früher ließ ich mich nöthigen das Abendmahl zu nehmen; ich hätte es nicht thun sollen: denn ich habe es mir zur Strafe und Verdammniß empfangen, weil ich den Glauben nicht hatte. Wer dasselbe ohne Glauben genießt, der isset und trinket ihm selber das Gericht. (1. Cor. 11, 29).«

Im Monat Dezember desselben Jahres 1548 wurde nun ernstlich daran gedacht, Francesco aus Padua fort und wieder nach seiner Vaterstadt Cittadella zu bringen. Irgend welche Hülfe hatte er ja in der berühmten Universitätsstadt nicht gefunden. Die Familie fühlte sich durch das Aufsehen, welches sein Zustand an dem volkreichen fremden Orte machte, beschämt und gedemüthigt. Diejenigen aber, in deren Interesse es lag, ein so klares Zeugniß der Wahrheit, ein so augenscheinliches Beispiel des göttlichen Gerichts nicht in noch weitern Kreisen bekannt werden zu lassen, mußten vollends wünschen, daß er unverzüglich fortgeschafft werde. Freilich geschah dies für ihre Absichten viel zu spät, da die fast aus allen Theilen Europa’s in Padua sich aufhaltenden Studenten die furchtbare Geschichte schon längst in ihre Heimath berichtet hatten.

So wurde denn die Abreise beschlossen und festgesetzt. Am Tage vorher war man wieder, wie gewöhnlich, um das Bett des Unglücklichen versammelt. Vergerio fehlte auch heute nicht. Hatte er doch, wie er selbst gesteht, an diesem Bette mehr gelernt, als in allen Schulen. An diesem Tage war es, als Spiera alles, was er bisher gesagt, noch einmal in wenige schlagende Sätze zusammenfaßte.

»Zeigt mir doch, rief er aus, einen Ort, wohin ich mich flüchten, einen Hafen, in welchen ich einlaufen kann! Ihr verweist mich an Gottes Barmherzigkeit? Gott hat mich verworfen. Ihr sprecht von der Gnade und Fürbitte Christi? Ich habe Christum verläugnet. Ihr heißt mich glauben? Ich kann nicht. Ich bin sein erklärter Feind: was ihr befehlt, ist mir unmöglich. Nichts von dem, was ihr sagt, tröstet mich. Eure Rede ist für mich Gesetzespredigt. Nun denkt euch aber einmal, ihr wolltet einem Menschen, der auch nicht einen Funken des göttlichen Geistes hat, die Erfüllung des Gesetzes, und namentlich jenes größten Gebotes: ,,Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, Von ganzem Gemüthe, von ganzer Seele und von allen Kräften« (Marc. 12, 33) vorschreiben. Ihr seht doch, daß er das nicht kann, wenn Gott ihm nicht die Kraft dazu verleiht! Singt nicht die Kirche: »Gieb uns die Liebe zu deinen Geboten? Die Heuchler sagen wohl, sie liebten Gott von ganzem Herzen, aber sie lügen. Ich dagegen will nicht lügen, sondern geradezu gestehen, daß die eben gemachte Vergleichung auf mich gar nicht paßt. Denn mein Zustand und was ich gethan, ist von ganz anderer Art und noch gar nicht da gewesen.“

»Theuerster Francesco,« bat nun einer von seinen Freunden, sei nicht so hartnäckig, gib diesen Wahn auf und hefte die Augen deines Geistes auf Gottes Verheißungen. Siehe auf Jesum, der zur Rechten Gottes sitzt, der, von der Jungfrau Maria geboren, Knechtsgestatt angenommen hat, um dich mit einer königlichen Krone zu schmücken. Um deinetwillen hat er am Kreuz gehangen und deine Sünden gebüßt, Er hat das Gesetz, welches zu erfüllen dir unmöglich war, erfüllt und Gott den Vater mit dir versöhnt, als er ward ein Opfer für dich. Er hat die Handschrift, welche wider uns war, ausgetilgt nnd ans Kreuz geheftet, und hat ausgezogen die Fürstenthü1ner und die Gewaltigen und einen Triumph aus ihnen gemacht. Ihm verdankst du es, daß du ein Kind Gottes und ein Erbe der ewigen Herrlichkeit bist. Das Gesetz kann dich nicht verklagen: denn sein Fluch ist abgethan. Der Tod kann dich nicht vernichten: denn sein Stachel ist ihm genommen. Bedenke wohl: Wie groß auch deine Missethat ist, Christi Verdienst und Gottes Barmherzigkeit ist noch weit größer. Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger worden (Röm. 5, 20). Gott hat alles beschlossen unter den Unglauben, aus daß er sich aller erbarme (Röm. 11, 32).«

Aber auch diese gewaltigen, so herrlichen Worte der Schrift waren bei ihm vergeblich geredet (Er entgegnete: ,,Das müßt ihr den Auserwählten sagen, welche, wenn sie auch gefallen sind, auf den Weg des Lebens zurückkehren und im Glauben wieder aufstehen können, diese wird euer Wort trösten, mich foltert es, mir bringt es den Tod. Auch mir kam einst Christi Verdienst zu Gut, aber ich habe es verachtet und ihn verrathen. An der Größe der Gutthat ermesset die Größe meiner Sünde und die Härte der Strafe, die ich verdient. Ihr dringt in mich, doch zu hoffen. Ich selbst Inöchte es so gerne und kann nicht, weil Gott mir alle seine Gnadengaben entzogen hat.«

Hier fiel ihm Gribaldus ins Wort und sagte: »Wie kannst du denn seiner Gaben beraubt sein, da du so richtig über den Inhalt der heiligen Schrift sprichst, da du erkennst, daß du aus der göttlichen Gnade gefallen bist, und so sehr verlangst, ihrer wieder theilhaftig zu werden?«

»Wenn ich nur -— erwiederte er — nicht gerade die größte und nothwendigste Gabe verloren hätte, nämlich den Glauben! Hat mir Gott sonst noch eine gelassen, so hat er es nur zu eurer Warnung und zur Vermehrung meiner Martern gethan. Denn je lebhafter ich mich an das, was ich gehabt habe, erinnere, je mehr ich davon spreche und sprechen höre, desto größer wird meine Pein. Ihr meint wohl gar, ich finde eine Art von Genuß in dieser Vorstellung und meine Verzweiflung sei nichts als eine Grille? Aber ich betheure euch wiederholt: Wenn ich auch nur einen Tropfen göttlicher Güte empfangen, nur einen Augenblick Gott als meinen gnädigen Gott empfinden könnte, so würde ich gern tausend, ja zehntausend Jahre Höllenstrafe leiden. Denn die gewisse Aussicht auf ein Ende würde mir doch noch Trost bringen, ich dürfte wenigstens für die übrige Zeit Ruhe hoffen; nun aber weiß ich, daß meine Marter endlos sein wird.«

Es begreift sich, daß die Umstehenden, namentlich durch die letzten Worte, aufs höchste überrascht waren, um so mehr, da Spiera diese Äußerungen durchaus nicht im Tone eines Wahnsinnigen, sondern mit großer Besonnenheit machte.

,,Geliebteste Brüder! sprach nun Vergerio, ich sehe, daß unser Zuspruch nichts fruchtet. Nur Ein wirksames Mittel ist noch übrig geblieben: unsere Fürbitte. Lasset uns mit Einem Munde und aus Einem Herzen den ewigen Gott und Vater unsers Herrn Iesu Christi anrufen, daß er diesem Armen seine Schuld Vergehen und das Licht seines Erbarmens ,wolle ausgehen lassen, um seines eingebornen Sohnes willen!« Da warfen sich alle auf die Kniee und beteten inbrünstig um seine Errettung.

Spiera selbst wurde ergriffen, nur blieb sein Zustand unverändert. Unter Thränen, die ihm über die Wangen flossen, sagte er im weichsten und rührendsten Tone: »O meine Brüder, wenn ihr betet, so wird eure Fürbitte euch Segen bringen, aber an mir bleibt sie wirkungslos. Den armen Verstoßenen muß alles zum Verderben gereichen, selbst das Wort Gottes. Ich spüre auch, daß es mir ein Geruch zum Tode ist, daß es meine Qual und Verzweiflung mehrt, so oft ich dasselbe höre. O ich Unglücklicher! Ich bitte euch, lieben Brüder, gebet wohl Acht und merket auf! Schätzet ihr die Gaben Gottes höher, als ich gethan. Lernet es an meinem Falle und seid auf eurer Hut! denket nicht, es sei etwas Leichtes Christ zu sein. Lasset ihn fahren, diesen Wahn der Menge, als ob es schon genüge, getauft zu sein, evangelische Bücher gelesen zu haben, etliche Elemente der Religion zu betrachten, Christum im Munde zu führen und es in einigen Dingen mit den Bessern zu halten, in den übrigen mit dem Widerpart. Seid ihr standhaft und tüchtig zur Vertheidigung des Evangeliums, ja wenn es nöthig ist, zum Bekenntniß bis in den Tod! Denn ein Christ muß männlich und stark, unbesiegt und unüberwindlich sein. Er muß allewege die himmlische Lehre freimüthig bekennen, bis zum letzten Athemzuge vertheidigen und mit seinem Leben besiegeln. Wer das nicht thut, der ist kein Christ. Ihr wisset was Christus selbst gesagt hat: »Wer Vater, Mutter, Brüder, Schwestern, Söhne, Töchter, Verwandte, Häuser, Aecker, Weinberge und Anderes mehr liebt denn mich, der ist mein nicht Werth« (Matth. 10, 37; 19, 29). Und was sagt Petrus? »Thut desto mehr Fleiß, meine Brüder, euren Beruf und Erwählung fest zu machen« (2. Pet. 1, 10). Und obwohl ich in der Qual bin, will ich dennoch thun wie jener Schwelger (Luc. 16, 19 ff.), der in die Hölle hinabgestoßen, noch um seine Brüder bekümmert war und den Vater Abraham beschwor, ihnen bezeugen zu lassen, daß sie sich bessern sollten, damit sie nicht auch an denselben Ort der Qual kämen.«

Am Abend dieses letzten Tages, den Spiera in Padua zubrachte, kam Vergerio zum letztenmale zu ihm und nahm in herzlichster Weise Abschied von dem Unglücklichen. Spiera nahm seine Hand und sagte: »Mit all meiner Verzweiflung und wenn gleich den Verstoßenen und Verdammten Alles zum Schaden ausschlägt, danke ich euch für eure Liebesdienste. Segne euch Gott mit allem Guten.«

Man bat ihn, durch seine Söhne über seinen Zustand Nachricht zu geben. Er versprach es, aber fügte gleich hinzu: »Ihr werdet nichts Gutes Von mir zu hören bekommen, sondern etwas Gräßliches.« Die Freunde legten den Seinigen ans Herz, ihn nicht zu verlassen und dafür zu sorgen, daß er stets von frommen Menschen umgeben sei, ob er vielleicht durch ihre unablässigen Fürbitten und Tröstungen doch noch zum Glauben an die Barmherzigkeit Gottes zurückgeführt werden möchte.

Tags darauf, als der Arme schon angekleidet und aus dem Gemach geführt war, warf er noch einen Blick hinein, sah mit wilder schrecklicher Geberde um sich und als er zufällig ein Messer liegen sah, griff er hastig darnach, um sich zu durchbohren. Aber seine zwei Söhne, welche ihn nicht aus den Augen ließen, entwanden ihm dasselbe. »Ach, rief er aus, daß ich doch über Gott wäre! Denn ich weiß, daß ich kein Erbarmen bei ihm finde.«

Beinahe einen Monat lebte Francesco Spiera  noch in seiner Vaterstadt, ehe er starb. Ueber die letzten Tage seines Lebens wußte man bis jetzt gar nichts. Nur vom Hörensagen konnten seine Zeitgenossen und Biographen wie Vergerio, Gelous u. A. erfahren, daß er in seiner hartnäckigen Verbitterung gestorben sei.

Jetzt nun sind unter den im Archiv des Inquisitionsgerichtes zu Venedig gefundenen Prozeßakten auch zwei  Briefe zu Tage gekommen, welche von Priestern zu Cittadella nach Venedig an das Jnquisitionsgericht geschrieben sind und nähern Aufschluß geben.  Monsignor della Casa hatte auch vernommen von Spiera’s schrecklichem Zustand nach seiner Abschwörung. Und da er Gewißheit darüber haben und den wahren Sachverhalt erfahren wollte, so mußte sein Auditor Dr. Gerardo Busdrago an den Erzpriester Cantio nach  Cittadella schreiben, damit dieser sorgfältige Erkundigungen einziehe und dann berichte »was Spiera gesagt und geredet habe, in welcher Weise er gestorben sei, ob er die Sterbesacramente empfangen, und wie ernach der Abschwörung gelebt habe« weil – wir zitieren wörtlich aus dem Brief — unsere und der wohlweisen Herrn Deputierten Absicht ist, wenn er unchristliche Dinge geredet oder«gethan haben sollte, jene Anordnungen zu treffen, welche Gott der Herr zur Vermehrung des christlichen Glaubens uns lehren wird zum Exempel für Jeden, der eine schlechte Meinung haben sollte.« Zum Schluß wurde großer Fleiß, Peinlichkeit und Sorgfalt in diesem Stück anempfohlen. Der Erzpriester Cantio von Cittadella konnte durch eigne Bemühungen nur so im allgemeinen erfahren, Spiera habe den Glauben gehabt, Gott werde ihm nie vergeben, weil er ihn verläugnet habe. So ließ er denn die zwei Priester der Stadt, welche vor Spiera’s Tode in dessen Haus gewesen waren, zu sich kommen, theilte ihnen den Wunsch des hochwürdigen Legaten mit und forderte sie auf, ihm schriftlich das mitzutheilen, was sie Näheres über das Lebensende des Spiera wüßten, daß er es nach Venedig senden könne. Dies geschah, und da es vielleicht den Leser interessieren wird, den Inhalt beider Schriftstücke genau kennen zu lernen, so theilen wir dieselben mit.

A.
»Ich Priester Francesco deli Ambrosi habe einige Male Herrn Francesco Spiera besucht, und wenn ich ihn fragte, wie er sich befände, antwortete er: »Wie es Gott gefällt,« und als ich ihn ausforschte, ob er, wenn es Gott gefiele, ihn in seine Arme zu nehmen, zufrieden sein würde, antwortete er: »Ja, wollte Gott, es wäre so.« Und dies sagte er mir ein einziges Mal, weil man ihn nicht öfters fragen konnte, da er oftmals von Sinnen war und tausenderlei dummes Zeug schwatzte, wie es Verrückte thun, und mir sagte, ich sollte nicht zuviel mit ihm sprechen. Bisweilen sagte er seiner Frau auch Grobheiten. Es könnte sein, daß er irgend etwas gegen den Glauben gesprochen hätte, aber ich erinnere mich nicht. Als ich ihn frug, ob er beichten wolle, sagte er, er habe gebeichtet und communiziert. Als ich ihn ein andermal frug ob er beichten wolle, war er nicht bei Sinnen und es ist wahr, daß er das Zeichen des Kreuzes mit Verstand machte, aber dann überging er das Vorhaben mit Stillschweigen. Jch habe nie Sorge getragen, ihn darüber zu befragen oder über gewisse Dinge auszuforschen. « Dies ist, was ich versichern kann. Der obige Presbyter Francesco.

B.
Vier oder sechs Tage vor dem. letzten Weihnachtsfeste wurde ich Priester Zuanne (Giovanni-Johannes) gerufen, dem Herrn Francesco Spiera die heilige Ölung zu geben, und fand denselben an schwerer Krankheit darniederliegend, sehr phantasierend und Viel wirres Zeug schwatzend, manchmal auch Gott lästernd. Aber als er darob getadelt wurde, sagte er: »Habe ich Gott gelästert?« Und als ich ihn fragte: ,,Dürstet ihr Armer?« antwortete er: »Gewiß bin ich ein armer, sehr elender Mensch.« Als ich ihn weiter fragte, ob er gebeichtet und communiziert hätte, entgegnete er: »Ja. « Und so bestätigten es seine Frau und Kinder. Oft sagte er: ,,O Gott, o Gott, mein Herz, helft mir.« Und wenn er zur Geduld ermahnt wurde und daß er sein Vertrauen und feine Hoffnung auf Gott setzen möge, der ihm helfen könne, antwortete er ganz außer sich vor Raserei: »Da ist keine Möglichkeit mehr; ich habe kein Herz mehr,«  und dann sagte er: »Mein Herz ist mit Ketten belaset.« Oft sagte er: »Herr Gott, ich bitte dich, Vergib mir meine Sünden« und dann fing er an, verrückte und sinnlose Dinge zu sagen. Meiner Meinung nach war er nicht so lange bei Sinnen, als man brauchen würde, ein Vaterunser zu sagen, und gewiß ist, daß er fast immer phantasierte. Es ist wahr, daß er auf die Ermahnung, seine Hoffnung auf Gott zu setzen, antwortete: »Wenn ich nun kein Herz habe, wenn es nun in Ketten gelegt ist, ich kann es nicht sagen, warum seht ihr nicht, was ich unter der Zunge habe? Das hält mich (sagte er), o weh, mein Herz!« so daß man gar nichts davon verstehen konnte und dies, wie ich glaube, wegen der Dämpfe und Dünste, die zum Hirn stiegen, wenn er ja einmal nicht phantasierte. Als er gefragt wurde, ob er zufrieden wäre, die heilige Oelung zu empfangen, schüttelte er freilich mit dem Kopfe zum Zeichen, daß er sie  nicht wollte, und darum wurde sie ihm, um ihn zufrieden zu lassen, nicht gegeben.

Als ich denselben Morgen, da er starb, es war am 27. Dezember, frühzeitig wieder hinging, fand ich ihn bereits gänzlich theilnahmlos, und während ich wegging, nachdem ich die Passion und andere Gebete gelesen, um für Se. Magnificenz, den Bürgermeister der Stadt, um 9 Uhr eine Messe zu lesen, in dieser Zeit starb er. Sonst weiß ich nichts weiter, da ich in der Zeit, bevor er in solche Raserei, oder was es sonst war, verfiel, Gespräche mit: ihm nicht geführt, noch ihn besucht habe, außer als ich gerufen wurde, ihm die letzte Ölung zu geben. Da aber war er nicht bei sich und von seiner Krankheit hart mitgenommen. Nec aliter.

Mittwoch den 9. Januar 1549.
Priester Zuanne Ancillotto de Cittadella.
Diesen getreuen Bericht mache ich Priester Zuanne – im Auftrage meines Ehrwürdigen Herrn und Gebieters des Erzpriesters der Kirche von Cittadella, der mich angewiesen hat, ihm Mittheilungen über den verstorbenen Francesco Spiera zu machen, weil er Briefe von dem. Ehrwürdigen Auditor des .Hochwürdigen Legaten erhalten  hatte, die mir selbiger Herr Erzpriester vorgelesen hat, und um ein gehorsamer Sohn zu sein, gebe ich vorstehenden Bericht«

Was nun ist die furchtbare Geschichte des Francesco·  Spiera aus Cittadella, furchtbar in ihren Einzelheiten, noch »fürchterlicher in ihrem Abschluß, wenigstens für unser menschliches Auge. So viel wir nun wissen, ist der Arme auch in Cittadella, wo er noch fast einen Monat sein gefoltertes Leben hinschleppte, in einer hartnäckigen Verbitterung gegen Gott und seine Gnade verblieben. Alle Bemühungen der Aerzte, aller Zuspruch der Familie und guten Freunde, alle Tröstungen des Evangeliums und der Kirche waren vergebens. Er ist  gestorben, ohne daß wir einen Grund hätten vermuthen zu dürfen, daß er hienieden noch Gnade bei Gott gefunden habe.

Daß das furchtbare Lebensende Spiera’s ohne Zweifel eine Folge seiner Verläugnung und Abschwörung, gewesen, darüber herrscht unter allen unpartheiisch Urtheilenden nur eine Stimme. Die römische Hierarchie wollte freilich schon damals und will auch heute noch nichts davon wissen. Sie, die in dem Wahne steht, des Himmelreiches Schlüssel in ihrer Hand und für alle ihre Unterthanen und Anhänger dadurch die ,,unfehlbare« Seligkeit bereit zu halten, wird nie begreifen können, wie ein Mensch an Gewissensbissen und leiblichen wie geistigen Folterqualen sterben kann, weil er ihren Schoß zurück gekehrt ist. Die neuerdings erschienene katholische Enzyklopädie von Wetzer und Weite, welche so gern protestantische Apostaten behandelt, hat  Spiera und seine Geschichte ganz mit Stillschweigen übergangen.

Damals aber nach Spiera“s Tode sandte, wie Curio meidet, der Teufel überall seine Sendboten in Gestalt von päpstlichen Legaten, Vicaren, Inquisitoren, Mönchen und ungebildeten Theologen aus, um an allen Orten und Enden auszubreiten, daß an der ganzen Geschichte von Spiera kein Wort wahr sei, daß es sich bloß um eine boshafte Erfindung der Feinde Gottes  und des heiligen katholischen Glaubens handle, weßhalb die Gläubigen wohl auf ihrer Hut sein und sich nicht in solchen Netzen fangen lassen möchten. Der römischen Hierarchie mußte die Geschichte allerdings sehr unangenehm und ärgerlich sein, aber freilich das Leugnen  und in Abredestellen der Thatsache schaffte diese selbst nicht aus der Welt.

In seiner Vertheidigungsschrift, welche der Bischof Paul Bergerio, unser Bekannter vom Krankenbette Spiera’s am December 1548. dem Suffragan-Bischof Rota zu Padua überreichte, macht dieser die richtige Bemerkung: »Wenn das, was  sich mit Spiera zugetragen,hat, erdichtet oder falsch ist,  dann sollst du alles Schlimme von mir denken dürfen, und ich will jeder Strafe, selbst des Todes schuldig sein! Aber daß es sich nicht so verhält, das läßt sich leicht nachweisen. Denn nicht am Ende der Welt, nicht vor hundert Jahren haben sich diese Dinge zugetragen, sondern vor wenigen Tagen, mitten in Padua, vor deinen Augen·und vor denen der ganzen blühenden Universität. Zudem lebt derselbe Francesco Spiera noch in Cittadella, fortwährend dieselben Reden führend, wie vor einem Monat. Sende nur Abgeordnete hin und laß dir Alles berichten,  was sie gesehen haben; du kannst, du darfst das nicht unterlassen, wenn du eine Täuschung vermuthest. Oder wünschest du, daß ich dir einige ausgezeichnete Männer, welche mit zugegen waren und Spiera sprechen gehört haben, benenne? Auch dies will ich gerne thun.«

Nachdem er nun die uns schon bekannten Persönlichkeiten namhaft gemacht hat, fährt er also fort: »Hier  hast du zwölf Zeugen aus verschiedenen Nationen; im Ganzen sind aber wohl mehr als drei bis vierhundert Menschen mit uns ein- und ausgegangen und in Folge dessen ist der Thatbestand bereits der ganzen Universität,  ja dem ganzen Erdkreis bekannt geworden. Von einer Erdichtung kann also hier nicht die Rede sein; eine solche voraussetzen zu wollen, wäre (mit Erlaubniß zu sagen) Verläumdung.« Selbst Cantu giebt zu, daß die Thatsache weit verbreitet war und viele dadurch im neuen Glauben festgehalten und bestärkt wurden.

Während die römische Hierarchie sich alle Mühe gab, die Geschichte der Verzweiflung Spiera’s für ein Märchen zu erklären und so viel als möglich zu vertuschen, sahen alle Evangelischen innerhalb und außerhalb Italiens in Spiera’s tragischem Ende ein furchtbares Gottesgericht, ein allen Menschen zur Warnung anfgestelltes Exempel, das man nach Kräften überall  verbreiten und bekannt machen müsse. So weist Calvin, welcher den Bericht des Henricus Scotus über die Geschichte Spiera’s mit einer Vorrede im Dezember 1549 veröffentlichte, darauf hin, wie die Meisten die Gerichte Gottes über die Missethaten der Menschen nicht beachten. Daher lasse Gott bisweilen Ungeheures geschehen, welches auch die Schlafenden zwinge, aufzumerken. Diese stumpfsinnigen Italiener, welche ungeachtet ihrer sonstigen vorzüglichen Begabung meistentheils den Glauben an Gott den Schöpfer der Welt und an den zukünftigen Richter aufgegeben hätten und Gott so hochmüthig verachteten, möchten denn die Lehrer hinnehmen, wie sie dieselben verdienen und unter diesen Lehrern gebühre Spiera die erste Stelle. Denn dieser (wie der Augenschein lehrt) windige und von Eitelkeit aufgeblasene Mensch wollte auf profane Weise in der Schule Christi philosophieren und drängte sich unter diejenigen, zu denen er nicht gehörte. Möchten die Jtaliener, welche nur zu leicht mit Gott scherzen, hieraus lernen, daß er sich nicht spotten lasse. Sie, wie den römischen Papst mit seiner Räuberhorde nenne er vor allen Andern. Denn auch ihnen ertönten die Stimmen der Märtyrer, die sie mit ungeheurer Grausamkeit mordeten. Während diese Stimmen im Himmel Erhörung fänden, hielten sie sie nicht für würdig mit ihren Ohren auszunehmen. Darum habe Gott ihnen dieses Schauspiel unmittelbar vor die Augen gerückt, weil sie höchstens nur durch solche Katastrophen ausgerüttelt werden könnten. Sie mögen sich denn an dem Liede dieses ihres Märtyrers ergötzen, bis sie in denselben Ort der Verzweiflung hinabgezogen würden.

Aber nicht allein die Jtaliener gehe dies Beispiel an; auch die übrigen Nationen sollten wissen, daß der Herr sie durch dasselbe zur Buße rufen wolle. Das sei den leichtsinnigen, übermüthigen und frivolen Franzosen gesagt, desgleichen den Deutschen, die schon immer träumerisch und stumpfsinnig, wo sie auf Gottes Gerichte hätten merken sollen, unter dem Übermaß ihrer gegenwärtigen Drangsale selbst das allgemeine Menschengefühl verloren zu haben scheinen; endlich aber auch den Engländern und Andern, damit sie erkennen möchten, mit welcher Ehrfurcht und Heilsbegierde sie den ihnen sein Licht zeigenden Christus auszunehmen schuldig wären. Diesem Urtheil Calvin’s muß ein Jeder im Großen und Ganzen beistimmen. Francesco hatte der römischen Kirche und ihren Jrrthümern den Rücken gekehrt und sich dem Evangelium zugewendet. Aus Furcht vor den Menschen, um sein Leben und sein Vermögen zu retten, faßte er trotz den Einwendungen Von Seiten des Gewissens und des Geistes den Entschluß, den für wahr erkannten Glauben abzuschwören, ja er führte diesen Entschluß nicht ein Mal, sondern zwei Mal, in Venedig und Cittadella aus, obwohl er sehr genau wußte, daß das, was er für Finsterniß erklärte, doch das wahre Licht sei. Eine solche Verläugnung Gottes und seiner selbst ist eine ungemein schwere Verschuldung, die aus innerer Nothwendigkeit furchtbare Strafe nach sich ziehen muß. Darum urtheilte Spiera über sich selbst ganz richtig, wenn er einmal sagte: »Gott hat an mir Elenden zeigen wollen, welch ein Gräuel ihm Gottlosigkeit und Lästerung ist.«

Weil nun aber in der Anerkennung dessen, daß das geistliche Elend, in welches Spiera verfiel, eine Folge seiner Abschwörung der erkannten evangelischen Wahrheit·war, zugleich ein Beweis für diese evangelische Wahrheit liegen würde, so haben katholische Schriftsteller, die ja das nicht zugeben dürfen, eine andere Erklärung gesucht. Sie sagen: Weil Spiera seine Abschwörung um weltlicher Zwecke willen und ohne wahre Reue vollzog, kamen Gottesverlassenheit, Gewissensbisse und Verzweiflung über ihn. Hierfür gab es nur ein Heilmittel: wahrhafte Aussöhnung mit der Kirche, in der er geboren war.

Leider fehlt nun für solche Erklärung in der ganzen Geschichte Spiera’s, in allen seinen Gesprächen, wie in den schriftlichen Aufzeichnungen seiner Besuchen jeder Anhalt. Nie, auch nicht ein einziges Mal deutet Spiera an, daß er die Abschwörung nicht aufrichtigen Herzens vollzogen habe, dagegen wiederholt er unzählige Male, er sei verdammt und verloren, weil er durch die Verläugnung Christi, welche er bei der Abschwörung» der evangelischen Wahrheit öffentlich vollzogen, die Sünde zum Tode, welche weder in diesem noch injenem Leben vergeben werde, begangen habe.

Die Kirchengeschichte bietet noch andere Beispiele von Personen, die durch Abfall von der evangelischen Wahrheit sich geistliches Elend zugezogen haben. Eins der schlagendsten ist König Heinrich IV. von Frankreich. Er wurde nach seiner Abschwörung vom ernsten Bedenken befallen, daß er die Sünde wider den heiligen Geist begangen habe. Molines ferner, ein reformirter Geistlicher zu Nismes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wurde ergriffen, schwor seinen Glauben ab, um dem Galgen zu entgehen, flüchtete aber sobald wie möglich nach Holland und widerrief seine Abschwörung. Er gerieth zwar nicht in dieselbe Verzweiflung wie Spiera, blieb aber zeitlebens in einem bejammernswürdigen Zustande. Wenn man ihm auch zum hundertsten Male Vorhielt, daß Gott um des Verdienstes Christi willen jeden Sünder, der Buße thue, zu Gnaden annehme, so gelangte er doch niemals mehr zu der Freude in Christo-— Dreißig Jahre in Herzenstraurigkeit zugebracht, schienen ihm nicht hinreichend, um seine Sünde gebührend zu beweinen. Duperron, auch ein reformirter Geistlicher in Grenoble, der 1745 in die Hände der Verfolger gerathen, schwur ebenfalls ab, um dem Tode zu entgehen, und starb bald darauf, von fürchterlichen Gewissensbissen zernagt. Benoit in seiner Geschichte des Ediktes von Nantes beschreibt in beweglichen Zügen den Seelenjammer der Neubekehrten nach den Dragonaden und Gewaltmaßregeln des siebenzehnten Jahrhunderts — wie es im Innern der Familie die herzzerreißendsten Auftritte gab, wie ein Gatte den andern anklagte, ihn zum Widerruf verführt zu haben, wie Landbebauer mitten auf dem Felde, die Hände ringend, auf die Kniee fielen und Himmel und Erde zu Zeugen anriefen, daß sie nur der Gewalt nachgegeben hätten. Derselbe Benoit erzählt, wie ein reformiertes Fräulein, in die katholische Kirche und zur Annahme des Schleiers verlockt, darüber in Wahnsinn verfiel und sich selber das Leben nahm. Er führt noch mehrere Beispiele von Frauen an, die, ohne in das Kloster gegangen zu sein, in Verzweiflung geriethen und durch Selbstmord dem verhaßten Leben ein Ende machten. Sollen wir auch bei Spiera annehmen, daß nach seiner Abschwörung und in Folge derselben Wahnsinn seinen Verstand umdüsterte?

Graf Gian Rinaldo Carli behauptet, daß Spiera, der kein starker Geist war, nach seinem Widerruf aus Verzweiflung über das Heil seiner Seele verrückt wurde und in Padua sein Irrsinn sich zum unheilbaren Wahnsinn steigerte. Es wäre das nicht unmöglich, aber in unserem Falle entbehrt die Behauptung in ihrer Ausdehnung hinreichender Gründe. Daß Spiera sich von Teufeln umgeben sah, die ihn ängstigten und Nadeln in sein Kopfkissen steckten, daß er in der Fliege, die ihn umschwirrte, den Boten des Fliegengottes, des Obersten der Teufel sah, daß er unter seiner Zunge etwas fühlte u. s. w. das sind jedenfalls Halluzinationen d. h. vermeintliche sinnliche Wahrnehmungen, die nicht auf äußerer, sondern auf innerer Erregnng der Sinnesnerven oder ihrer Ausläuser im Gehirn beruhen, aber nichtsdestoweniger Vorstellungen hervorrufen, welche ganz den Charakter der Wahrnehmung tragen. Gewiß hat nun Cesare Cantu Recht, wenn er darauf hinweist, daß Jrrenärzte überraschende Fälle von Geisteskrankheiten beobachtet haben, wo der Kranke, wenn man nur nicht auf seine Eine fixe Idee kam, sich ganz vernünftig ausdrückte. Es gibt wirklich Wahnsinnige, die, obwohl von einer fixen Idee besessen, doch Stunden und Tage lang vollkommen vernünftig handeln und sprechen, ja wissenschaftlich sich beschäftigen und arbeiten. Aber darin hat Cantu nicht Recht wenn er sagt, daß Spiera’s fixe Idee war, ewig verdammt zu sein. Das ist weiter nichts als eine von seinen vielen im polemischen Interesse gemachten grundlosen und unhaltbaren Behauptungen. Kann man sich nicht für ewig verloren halten, ja ewig verloren sein, ohne an Geistesstörung zu leiden? Wenn einer in religiösen Dingen und Glaubenssachen seine besondere Meinung hat und diese festhält, hartnäckig und unbeugsam, weil er mit Scharfsinn und Geschicklichkeit alle Einwürfe und Versuche des Gegners ihn davon abzubringen zurückweist, können, dürfen wir folgern, daß er wahnsinnig ist? Gewiß nicht.

Francesco Spiera ist nach und in Folge seiner Abschwörung nicht wahnsinnig geworden. Sämtliche Berichterstatter versichern, daß bei allem  in Folge der geringen Nahrung eingetretenen leiblichen Elende er doch den vollen Gebrauch aller seiner Geisteskräfte behielt, ja daß dieselben gesteigert, verdoppelt schienen. Vergerius schreibt: »Er sprach ganz vernünftig und folgerichtig über seinen Zustand; er war bei vollen Verstandeskräften; es war leicht einzusehen, daß nicht sein Geist gestört, wohl aber sein Gewissen beschwert war.« Wir sehen ja auch, daß Spiera den berühmten Ärzten Padua’s, welche meinten, seine That habe ihm die Sinne verwirrt und die bösen Säfte hätten ihm Einbildungskraft und Vernunft verdunkelt mit aller Bestimmtheit und Ruhe erklärte: »Einer Seele, welche durch die Erkenntnis? ihrer Sünde und die Last des göttlichen Zornes niedergeschmettert ist, hilft weder Trank noch Pflaster; für sie giebt es nur Einen Arzt, Christum« Ebenso erklärte er seinem Neffen, der seinen ganzen Zustand als Thorheit oder verstellten Wahnsinn tadelte mit ebensoviel Ernst als Ruhe: ,,Wollte Gott mein Leben wäre Wahnsinn, möchte es nun ein wirklicher oder verstellter sein. Denn wenn ich eine Krankheit heuchelte, so könnte ich mich ja selbst davon befreien; wäre der Zustand meines Geistes gestört, so dürfte ich immer noch auf Heilung hoffen.«

Nach den pathologischen Ergebnissen der neuern Seelenheilkunde kann es kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß Geistesstörungen und Gemüthskrankheiten im Grunde nur Nervenkrankheiten sind. Diese haben aber durchaus nicht immer heftige Gemüthsbewegungen und leidenschaftliche anhaltende Aspekte zu ihrer Voraussetzung, sondern entstehen sehr oft aus rein körperlichen Ursachen. Denkbar wäre es nun»wohl, daß Spiera nach seinem aufregenden vierwöchentlichen Aufenthalt zu Venedig in den Händen der Jnquisition, der mit seiner Verurtheilung und Abschwörung endete, sowie namentlich nach dem öffentlichen Widerruf in seiner Vaterstadt vor allem Volk, was für ihn, den angesehenen und ehrgeizigen Advokaten, gewiß ein schweres Stück war, in Folge der übermäßigen Erregung der verschiedensten Seelenkräfte nervenkrank und gemüthskrank wurde.

Wie gesagt, unmöglich wäre das nicht gewesen. Aber wir dürfen nicht beliebige Hypothesen, sondern die Thatsachen reden lassen und nach diesen steht es fest, daß bei Spiera durchaus nicht von einem habituell gewordenen, bleibenden Wahnsinn gesprochen werden kann, sondern höchstens in Berücksichtigung nämlich der Halluzinationen, auf welche wir oben hingewiesen, Von einem partiellen, nur stellenweise, vorübergehend auftretenden. Dieser aber begreift sich leicht, wenn man bedenkt, daß der kräftige Mann (totus nervosus nennt ihn Vergerius) monatelang kaum Speise und Trank zu sich nahm und monatelang nur in dem einen Gedanken lebte, von Gott verstoßen und ewig verdammt zu sein.

Wir haben also gar keinen Grund zu zweifeln, daß Bergerius Urtheil auch in diesem Punkte zuverlässig ist. Dieser erfahrene Mann von großer Nüchternheit und tiefem Ernst, der in Padua fast unausgefetzt bei dem Krankenbette Spiera’s gewesen ist, läßt sich aber in seiner bereits erwähnten Vertheidigungsschrift folgendermaßen aus: »Meines Erachtens ist er weder melancholisch, noch wahnsinnig, sondern ein ganz hoffnungsloser Mann, der gerne zu Gott umkehren möchte, aber nicht kann, — ein Schauspiel, so selten und grauenerregend, daß ich um seinetwillen nicht gezaudert hätte, bis ans Ende der Welt zu gehen, — ein Mensch, der bei lebendigem Leibe bereits ein Abgrund der Hölle ist: so zeigt er sich dem, der ihn betrachtet. Und wiewohl er sich in diesem überaus elenden Zustand befindet, was für süße und eindringliche Worte hat er doch bisweilen an uns gerichtet! Denn ich kann in Wahrheit sagen, daß ich noch nie liebreichere und verständigere Ermahnungen gehört habe, als aus seinem Munde, zumal wenn er vom christlichen Wandel sprach.

Wir stehen nicht an zu bekennen, daß wir alle Erklärungsversuche des eigenthümlichen Zustandes Spiera’s nach seiner Abschwörung theils für vergeblich, theils für unnütz halten. Vergeblich erscheinen sie, weil es für unsere menschliche Erkenntniß, welcher in Bezug aus das Walten der geheimnißvollen geistigen und göttlichen, auch dämonischen Kräfte innerhalb der menschlichen Persönlichkeit bestimmte und unüberschreitbare Grenzen gezogen sind, unmöglich ist, einen Zustand wie den Spiera’s vollständig zu verstehen und in allen seinen Einzelnheiten zu begreifen. Unnütz aber, weil nicht der Zustand an und für sich, sondern die tiefern Gründe und besondern Ursachen dieses Zustandes für uns lehrreich sind, und ihre Betrachtung allein für unsern innern Menschen fruchtbringend wirken kann.

So viel wir wissen, hat Spiera’s entsetzlicher Zustand von den Hunderten, welche längere oder kürzere Zeit das Krankenzimmer besuchten, nur einen Einzigen für das Evangelium gewonnen. Es war zwar überall, in Padua, in Cittadella und den umliegenden Orten viel Aufregung, und in unzähligen Briefen wurde das furchtbare Strafgericht Gottes über Spiera in Italien und den angrenzenden Ländern bekannt gemacht.

Aber nur Vergerins, der bereits zur evangelischen Wahrheit hinneigte, wurde von Spiera’s Elend so in seinem Innersten ergriffen und so erschüttert, daß er nicht eher die Ruhe seiner Seele wiederfand, als bis er der römischen Kirche den Absagebrief geschrieben hatte. Darinnen stehen die herrlichen Worte: »Was der Wille des guten Gottes für gut findet, das geschehe! Wenn auch Trübsal aller Art über mich kommen sollte, ich werde darum nicht zurückschrecken, sondern Alles fröhlich hinnehmen. Wollt ihr mich für den Kerker oder Scheiterhaufen bestimmen, so sträube ich mich nicht dagegen. Jedenfalls bin ich gewiß, daß das Blut und die Asche der Gläubigen die Saat des Evangeliums und die Ehre Gottes gerade so mehrt, wie der Thau oder der Regen oder das Düngen den Saaten des Feldes reichliches Gedeihen schafft. O daß durch mein Blut und meine Asche jenes Saatfeld getränkt und befruchtet würde, welches der Herr in dieser gesegneten Zeit durch so vieler Arbeiter Hände ohne Unterlaß anbaut. Bisweilen ist ein so heißer Drang in mir, daß ich fast nicht umhin kann, vor des Legaten Stubenthür in· Venedig zu treten und in die Worte auszubrechen: Wo sind eure Kerker? wo ist euer Feuer? Hier bin ich! Sättigt euer gierigstes Verlangen, verbrennt mich um Christi willen, weil ich hingegangen bin, den unglücklichen Spiera zu trösten und das bekannt gemacht habe, was Gott selbst bekannt gemacht haben will, damit nämlich die erkannte Wahrheit nicht verheimlicht, nicht verläugnet, nicht verdunkelt werde.«

Woher kam denn diesem Bergerius und den vielen andern evangelischen Glaubenszeugen jener Zeit solcher Muth und Eifer, solche Freude, um ihres Heilandes willen für die erkannte Wahrheit Alles aus sich zu nehmen, ja auch einen martervollen Tod zu dulden?

Die einfache Antwort lautet, weil sie wirklich ihren Heiland und sein Verdienst in persönlichem Glauben sich angeeignet hatten. Jeder wahre Christ kann mit einem Paulus sprechen: »Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschonet, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja Vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert?« und wie es weiter Römer am achten heißt.

So oder so ähnlich konnte Spiera nie sprechen’, denn er stand weder im rechten Glauben noch in der rechten Liebe, weil es ihm mit seiner Bekehrung nie rechter Ernst gewesen ist.

Darin liegt der Schlüssel zum Verständniß der Geschichte Spiera’s. Wenn nach den Worten eines Gottesmannes die Wurzel des geistlichen Lebensbaumes, die Buße, der Stamm der Glaube, die Aeste und Zweige die Liebe zu Gott und dem Nächsten, der Saft aber, der sich aus der Wurzel durch den Stamm und die Aeste ergießt, das neue Leben der Wiedergeburt ist: so fehlte dem Spiera von vorn herein das Nothwendigste, die Wurzel alles geistigen Lebens, wahrhaftige aufrichtige Herzensbuße. Versuchen wir dies in Folgendem kurz nachzuweisen.

Wird ein Mensch durch das Wort Gottes berufen und erhält er, diesem Ruf Folge leistend, Einblick in den ganzen Reichthum der unsichtbaren Welt, in die Offenbarung ·und die Heilsthaten Gottes in Christo Jesu, so geht nicht blos in seiner Erkenntniß, sondern auch in seinem Willen, Thun und Handeln, kurz in seinem ganzen Wesen eine Veränderung vor, welche nach ihrer negativen Seite hin sich als Abkehr von der Sünde, nach ihrer positiven Seite hin als Hinkehr zu Gott kund thut. Das negative (negirende) Moment ist die Buße, das positive der Glaube und aus diesen Beiden besteht der Vorgang, welchen man Bekehrung nennt. Johannes der Täufer wie auch Christus selbst, also der Vorläufer ebenso gut wie der Messias, predigen übereinstimmend: ,,Thut Buße und glaubt an das Evangelium (Matth. Z, 2; Marc. I, 15; of. Luc. 24, 47).« Und die Jünger und Apostel stehen in solcher Predigt dem Meister nicht nach. »Ich habe — sagt Paulus — bezeuget beiden, den Juden und Griechen die Buße zu Gott und den Glauben an unsern Herrn Jesum Christum (Apostg. 20, 21).« Kann man nun auch Buße und Glauben in der Bekehrung unterscheiden, so lassen beide in Wahrheit sich nicht von einander scheiden, denn sie sind die mit einander verbundenen Pole eines und desselben Lebensaktes. Man kann sich von der Sünde nicht abwenden, ohne sich gleichzeitig Christo zuzuwenden, und man kann sich Christo nicht zukehren, wenn man nicht in demselben Moment sich von der Sünde abkehrt.

Die Buße ist ein Abnehmen, der Glaube ein Wachsen; dort sterben wir der Sünde ab, hier leben wir in Christo wieder auf; dort welkt unser früheres, hochmüthiges Selbst dahin, hier gewinnt Christus Gestalt in uns und nimmt immer mehr zu, so daß wir mit dem letzten Israeliten sprechen: ,,Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.« (Joh. Z, 30.)

Von hier aus wird uns der verhängnißvolle, folgenschwere Irrthum Spiera’s klar. Er wollte Glauben ohne Buße haben. Er meinte einen Heiland und Erlöser besitzen zu können, ohne daß er sich vorher mit der Sünde gründlich auseinandergesetzt hatte. Mit großer Freude nahm er die Botschaft von der Versöhnung Gottes durch den Tod Christi auf, empfand wunderbaren Frieden, Trost, Süßigkeit und Wonne, fühlte sich sogar gedrängt, das Evangelium Anderen mitzutheilen: aber bei alledem kam ihm nicht in den Sinn, die durch Christum vollbrachte Versöhnung sich selbst sittlich anzueignen. Luther stellte in seinen 95 Thesen als ersten Satz den hin, daß das ganze Leben des Christen eine fortwährende Buße sein solle.

Savonarola, der berühmte Prior von Sau Marco in Florenz, strafte in seinen Predigten unverblümt und ungescheut die Sünde, wie sie sich damals in mannigfacher Gestalt in allen Ständen der Republik vorfand und mahnte mit solchem Ernst zur Buße und Bekehrung, daß die erschütterte Menge seiner Zuhörer oft in lautes Schluchzen ausbrach. Spiera dagegen predigte gar keine Buße, aus dem einfachen Grunde, weil er sie selbst nicht kannte, geschweige persönlich erfahren und durchgekämpft hatte. »Jch bin barmherzig — spricht der Herr beim Propheten Jeremias 2, 13 — und will nicht ewiglich zürnen, allein erkenne deine Missethat, daß du wider den Herrn, deinen Gott gesündigt hast.« Wir sehen hier deutlich, daß als eine Bedingung für Gottes Barmherzigkeit zunächst die Erkenntniß der eignen Sünde gilt. Aller aufrichtigen Erkenntniß der Sünde aber folgt nothwendig der Schmerz über die Sünde. »Ihr werdet — heißt es beim Propheten Hesekiel 20, 43 — gedenken an euer Wesen und an all euer Thun, darinnen ihr verunreinigt seid und werdet Mißfallen haben über aller eurer Bosheit, die ihr gethan habt.« Wer beten kann wie David (Ps. 51, 5. 6.) ,,Jch erkenne meine Missethat, und meine Sünde ist immer vor mir. An dir allein habe ich gesündigt und Übel vor dir gethan,« wer mit einem geängsteten Geiste, mit einem geängsteten und zerschlagenen Herzen Gott gegenüber tritt und mit Esra bekennen kann: »Mein Gott ich schäme mich und scheue mich, meine Augen aufzuheben zu dir, mein Gott, denn unsere Missethat ist über unser Haupt gewachsen und unsere Schuld ist groß bis in den Himmel,« der weiß und hat von jener göttlichen Traurigkeit etwas, welche zur Seligkeit eine Reue wirket, die Niemand gereut. Er steht der Sünde mit klaren Augen und vollem Bewußtsein gegenüber, und weil er ihre Verwerflichkeit und Häßlichkeit erkennt und die Anklage und Verurtheilung des eigenen Gewissens ihr gegenüber erfährt, faßt er den Vorsatz und Entschluß, der Sünde für immer den Abschied zu geben.

Von alle dem ist, wie gesagt, bei Spiera keine Rede. Er wollte wohl im ,,Scheine der Wahrheit eine kleine Zeit fröhlich sein,« aber sich nicht voll Selbstverleugnung in den Gehorsam der Wahrheit begeben. Er wollte seine Erleuchtung und Erweckung als einen Raub nehmen, anstatt im stillen Gehorsam sich zur Bekehrung führen zu lassen. Die Beweise hierfür bringen seine eigenen Geständnisse in genügender Anzahl bei. Wir wissen, daß Spiera von unmäßiger Geldgier beseelt in gewissenlosester Weise die schlechtesten Advokatenkünste gebrauchte, um sich ein ansehnliches Vermögen zu erwerben. Er unterschlug die Gelder, die man ihm in Verwahrung gegeben, verrieth die eignen Klienten, deren Prozesse er ihren Gegnern verkaufte u. s. w. U. s. w. Und was geschah, als er das Evangelium von der freien Gnade Gottes in Christo hörte und annahm? Er setzte sein Leben der Sünde in derselben Weise fort wie früher. Durch seine Gewissenlosigkeit und Diebereien reich geworden, hatte er nicht den Muth und die sittliche Kraft, das, was er auf so schlechte Weise erworben hatte, wieder zu erstatten. Wie ganz anders beträgt sich da ein Zachäus (Luc.19,1 ff.)! Der erklärt noch an demselben Tage, als der Herr bei ihm eintrat, daß er die Hälfte seiner auf unrechte Weise erworbenen Güter den Armen geben und daß, so er jemanden betrogen habe, er es vierfältig wiedererstatten wolle. Das war mehr als das mosaische Gesetz verlangte. Denn dieses bestrafte nur das diebische Schlachten eines Schafes mit vierfachem Ersatz (2. Mose 22, 1), Von demjenigen aber, der wie Zachäus seine Verschuldung selbst anzeigte, verlangte es zur schuldigen Summe nur noch ein Fünftel mehr. Der Bußfertige will eben seinem Gewissen und Gottes Gesetz reichlich genügen.« [1]

Spiera dagegen nimmt mit Freuden die Vergebung der Sünden, als er davon hört, an, aber er will nichts wieder gutmachen. Er will zu gleicher Zeit die göttliche Gnade und die Früchte seiner Verbrechen genießen. »Jch glaubte einmal— gesteht er selbst-— daß Gott mir alle meine Sünden um Jesu Christi willen vergeben hatte, aber mein Leben entsprach nicht meinem Bekenntniß; denn selbst als ich das Evangelium angenommen hatte, beging ich, wissend und wollend, zahlreiche große Sünden. Ich beschäftigte mich eifrig mit dem Evangelium, ich wollte es bekennen und Andre lehren; zugleich verwickelte ich zu Gunsten meiner Freunde sowohl die peinlichen als bürgerlichen Rechtshändel. Das hieß aber mit der That verläugnen, was ich mit dem Munde bekannte. — Ich, der ich Vorgab, die Vollkommenheit im Glauben erreicht zu haben, und alle Stellen der heiligen Schrift von der Erlösung genau kannte, führte ein unreines Leben und that meinem Gewissen Zwang, lebte Gott und der Religion zuwider. — Den Glauben an das Evangelium gebrauchte ich als Vorwand für die Freiheit des Fleisches. Ich mißbrauchte diesen Glauben, um freier sündigen zu können.«

Hiernach ist nicht zu zweifeln, daß der unglückliche Spiera glauben wollte ohne vorherige aufrichtige wahre Herzensbuße und wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn er, statt rechtschaffene Früchte der Buße zu wirken, den Glauben an das Verdienst des Leidens Christi als ein Ruhekissen für die Sünde mißbrauchte. Indem er die Lüste des Fleisches vollbrachte, wandelte er natürlich nicht im Geist. Er säete auf das Fleisch, statt von sich abzulegen nach dem vorigen Wandel den alten Menschen, der durch Lüste im Irrthum sich verderbet, statt sich im Geiste seines Gemüthes zu erneuern. Und doch hatte er sicher Römer am achten gelesen, wo es heißt; Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.

Da ist es denn nur zu erklärlich, warum er in dem Kampfe, welcher sich in seiner Seele erhob, als er nach Venedig zitiert war, nicht siegte, daß bei dem innern Streit zwischen Geist und Fleisch letzteres die Oberhand behielt, obschon er sich selbst sagte, daß es sich hier um die Entscheidung zwischen ewiger Seligkeit und ewiger Verdammniß handelte.

Spiera’s Abschwörung und darauf folgende Verzweiflung beweist, daß in ihm ein Anfang des Glaubens war. »Ich weiß, sagte er einmal — daß ich die Wahrheit erkannt hatte, wenn ich sie auch nicht hinlänglich ergründete.« Nur fehlte seinem Glauben das Fundament, die Buße. Darum schwand denn später dieser Glaube derart, daß der Arme nicht nur gar nichts mehr glaubte und alle Hoffnung wegwarf, sondern auch sich einbildete, nicht glauben zu können, ob er wohl möchte. »Jch habe Christum mit Wissen und Willen verläugnet« dies sein Geständnis faßt die Schuld in sich, deren Bewußtsein ihn in seine Verzweiflung stürzte. Wie aber für Petrus, so gab es auch sicher für Spiera noch eine Vergebung und Aufhebung dieser Schuld (Röm.11, 23) wenn er nur nicht — und das steht mit seinem früheren Glauben ohne Buße in innerm Zusammenhang — wegen der Folgen der Sünde und des Schadens, den er sich damit persönlich zugefügt hatte, Gewissensbisse empfunden, sondern die Sünde selbst als eine schwere Beleidigung gegen den heiligen Gott bereuet hätte. Nur dieses letztere hätte ihn zu der göttlichen Traurigkeit, Von welcher die Schrift spricht, führen können.

Obwohl Spiera wußte, daß es für seinen Zustand nur Einen Arzt, Christum und nur Ein Mittel, das Evangelium gab, nahm er doch seine Zuflucht weder zu diesem Arzt noch zu diesem Mittel, weil er statt die Sünde selbst nur ihre Folgen im Auge hatte und nun über dem Bewußtsein, daß die Folgen sich nicht ändern ließen, vergaß, daß es eine Vergebung der Sünde gab. Ja auch nach seiner Verleugnung hätte er, wie so mancher Andre nach ähnlichem schweren Falle, wieder aufstehen können, wenn er aufrichtige und wahre Buße gethan hätte.

 

Freilich wäre davon unzertrennlich gewesen eine Zurücknahme des geleisteten Widerrufes, wie es kurz nach Spiera’s Tode von einem gewissen Fanino aus Faenza geschah. Derselbe hatte das Evangelium kennen gelernt. Als er aber in heiligem Eifer daran ging, dasselbe öffentlich zu verkündigen, fiel er in die Hände der Inquisition. Die Furcht vor dem Tode, die Rücksicht auf Frau und Kinder bewegen ihn zum Widerruf. Aber kaum ist er aus dem Gefängnisse entlassen worden, wird er von quälenden Gewissensbissen gefoltert. Was thun? Siehe! — sagte er bei sich selbst, ich will mich aufmachen, wie der verlorne Sohn, zu meinem Vater und sprechen: »Vater ich habe gesündigt in den Himmel und vor dir.« Ich will mit David seufzen: »Meine Sünde ist immer vor mir, Gott sei mir gnädig nach deiner Güte, wasche mich, daß ich rein werde, laß die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast; gieb mir einen neuen, gewissen Geist und verwies mich nicht von deinem Angesicht. Tröste mich wieder mit deiner Hülfe, und der freudige Geist enthalte mich. Denn ich will die Uebertreter deine Wege lehren, daß sich die Sünder zu dir bekehren. Herr! thue meine Lippen auf, daß mein Mund deinen Ruhm verkündige.« Nun, Gott erhörte sein Gebet, und Fanino that nach seinem Gelübde. Offen. und ohne Rückhalt verkündete er die Wahrheit des Evangeliums. In Bagnaeavallo wurde er festgenommen, ihm sogleich der Prozeß gemacht, und er zum Feuertode verurtheilt. Das Urtheil aber sollte in Ferrara vollzogen werden, und darum schickte man ihn nach dieser Stadt. Dort legte er vor allen denen, die ihn besuchten, ein fröhliches Glaubensbekenntniß ab. Für die Bitten von Weib und Kindern hatte er nur die Antwort: Der Herr will nicht, daß man ihn zum Besten der eignen Familie verleugne. Als man ihm seinen bevorstehenden Tod ankündigte, sagte er: »Für Christi Sache erdulde ich mit Freuden den Tod,« und als man ihn fragte, wem er seine Gattin und Kinder anvertrauen wollte, antwortete er: Ich befehle sie dem besten Hüter, unserm Herrn Jesus Christus. Einem andern aber, welcher wissen wollte, warum er so heiter und ruhig seinem Tode entgegengehe, während doch Christus selbst getrauert und gezagt habe, entgegnete er: »Christus erduldete in Gethsemane und auf Golgatha die Strafen, zu denen wir verdammt waren. Nachdem er aber unsere Sünden auf sich genommen hat, kann ich nichts anderes thun als mich freuen in der festen Zuversicht, daß der leibliche Tod mir der Eingang zum ewigen Leben ist. Als er zum Richtplatze geführt wurde, reichte man ihm. ein Crufisix dar. Er aber wies es mit den Worten zuriick: ,,Laßt mich in Frieden! was soll ich mit einem hölzernen Christus, wenn ich den lebendigen im Herzen habe?« Darauf kniete er nieder, empfahl seine Seele dem Herrn und bat voller Andacht und Inbrunst für seine Umgebung, bereitete selbst den Strang, der ihn erdrosseln sollte, und starb mit dem Namen Jesu auf den Lippen.

Daß Francesco Spiera es diesem Märtyrer nicht gleich that, war die furchtbare und traurige Consequenz seines Sündenlebens nach der Erweckung, wo er mit Gottes Gnade gleichsam spielte, den Schein eines gottseligen Lebens hatte, aber seine Kraft verleugnete. Dieser Leichtsinn in göttlicheu und sittlichen Dingen rächte sich dann so schwer, daß er der Thatsache der Vergebung der Sünde in Christo Jesu theilnahmslos, ja feindlich gegenüber stand. Unaufhörlich klang des Herrn Wort in seinen Ohren: »Wer mich Verleugnet vor den «Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater (Matth. 10, 33).« Auf sich bezog er Stellen der heiligen Schrift wie: »Es ist unmöglich, daß die, so einmal erleuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und theilhaftig worden sind des heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen und wiederum ihnen selbst den Sohn Gottes kreuzigen und für Spott halten, daß sie sollten wiederum erneuert werden zur Buße (Hebr. 6, 4—6). Oder: »So wir muthwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, haben wir fürder kein Opfer mehr für die Sünden, sondern ein schrecklich Warten des Gerichtes und des Feuereifers, der die Widerwärtigen verzehren wird (Hebr. 10, 26. 27). Wir wollen auch noch darauf achten, daß Spiera sich zu den Verworfenen zählte, ja zu den von Ewigkeit her Verworfenen zählte, weil er die Sünde wider den heiligen Geist begangen habe. Mehr als zehnmal wiederholte er den Spruch: »So erbarmet er sich nun, welches er will, und verstocket, welchen er will (Röm. 9, 18).« Alle Trostgründe der Schrift, alle Sprüche, worin Gott durch Christum den Sündern Gnade anbietet, wies er auf’s Entschiedenste mit dem Bemerken ab, daß Solches, überhaupt Alles, was Jesus für die Erlösung der Menschen gethan, nur den Erwählten gelte.

Gewiß nun wäre es falsch, hieraus den Schluß zu ziehen, daß in Spiera’s Verzweiflung die praktischen Konsequenzen der Prädestinationslehre sich verwirklicht hätten, wie dies schon im sechzehnten Jahrhundert von evangelischen und katholischen Schriftstellern geschehen ist. Ganz abgesehen davon, daß Spiera ausdrücklich als Lutheraner verurtheilt wurde, also schwerlich Anhänger der Calvinistischen Lehre von der Gnadenwahl war, ist zu beachten, daß Spiera alle Aussprüche der Schrift, womit man ihn trösten wollte, ohne Ausnahme mit einer an Raffinement grenzenden Geschicklichkeit gegen sich anwendete.

Wir stimmen in dieser Beziehung Herzog bei, welcher mit Recht darauf hinweist, daß, wenn man den Grund für Spiera’s Verzweiflung in der calvinistischen Lehre Von der Erwählung Gottes finden will, man ihn eben so gut in der ganzen Lehre der heiligen Schrift Von der Erlösung finden und vielleicht den Herrn Jesum Christum am Ende als Urheber der Verzweiflung anklagen müßte. Die heilige Schrift redet allerdings klar von einer Erwählung auf Seiten Gottes, aber ebenso klar von der freien Willensentscheidung auf Seiten des Menschen, ohne daß eins das andere aufhöbe. Wie wir uns das zu denken haben, ist eines der größten Probleme. Gott beruft alle Sünder zum Heil (1. Tim 2, 4; Matth. 18, 14), und Jesus Christus ist ein Heiland aller Menschen (Tit. 2, 11;Col. I, 28. 1. Joh. 2, 2).

Für Gottes erbarmende Liebe giebt es nur eine Schranke, die Zurückweisung und Verwerfung der dargebotenen Gnade auf Seiten des Menschen. Die Ursachen der Berufung Vieler und Erwählung Weniger (Matth. 22, 14) liegen nicht in Gott, sondern im Menschen, und zwar auf Grund seiner freien Willensentscheidung. Nicht alle glauben, und nicht alle Gläubiger: bleiben im Gnadenstand (Röm. 9, 32; 10, 16), und diese sind die zwar durch Gottes Gnade Berufenen, aber durch eigne Schuld nicht Auserwählten. Gerade Röm. 9, das Kapitel, auf welches sich die Anhänger der Prädestinationslehre am meisten stützen, beweist, daß Israel wegen seines Jagens nach eigner Gerechtigkeit verworfen wurde (v. 30 -33); Cap. l0, 12. 13 hebt aber der Apostel ausdrücklich hervor: Es ist Aller zumal Ein Herr, reich über Alle, die ihn anrufen, denn wer den Namen des Herrn wird anrufen, soll selig werden. Demnach ist Calvin’s Prädestinationslehre nicht schriftgemäß, aber die Schuld an Spiera’s Verzweiflung trägt sie auch nicht. Bei Spiera, welcher behaupten konnte, ob auch ein Mensch mehr sündige, als der andere, werde er doch selig, weil er erwählt, während der andere verworfen werde, hatte offenbar eigne persönliche Willkür mehr die Hand im Spiele, als die Lehre Calvin’s.

Man könnte wohl sagen, daß Spiera, der vor seiner Abschwörung nur einen Glauben ohne wahre Buße kannte, nach derselben umgekehrt nur Buße ohne Glauben hatte. Bloß dürfte man dies nicht mißverstehen und nach allen Seiten hin streng durchführen wollen. Jedenfalls kannte und bekannte Spiera seine schwere Schuld: Abfall von Gott, Verleugnung Christi, Widerstreben gegen den h. Geist. Gleichzeitig aber erklärte er stets: Ich glaube nicht, ich kann nicht glauben, wenn ich auch möchte. »Ich sehe – sagte er ein ander Mal, – meine Verdammniß und erkenne das in Christo dargebotene Heil und kann es demungeachtet nicht erfassen.«

Der tiefere Grund hierfür liegt, abgesehen von seiner nur weltlichen Traurigkeit, die sich lediglich nur auf die Folgen seiner Sünde, nicht aber auf diese selbst bezog, darin, daß er trotz seines Elendes sich nicht demüthig unter Gottes gewaltige Hand beugen und unter den Gehorsam des Wortes Gottes stellen wollte. Als Gribaldus meinte, gerade daraus, daß Gott ihn so schwer hienieden züchtige, schöpfe er die Hoffnung, daß er ihn noch bekehren und dort zu Gnaden annehmen wolle, antwortete ihm Spiera auf diese sehr richtige Bemerkung: »Gott hat mir seine Gnade entzogen und die Kraft zu hoffen genommen. Wenn er nur meinen Leib geschlagen und meine Seele verschont hätte, dann würdet ihr Recht haben; aber er hat in seinem Zorn und Grimm meine Seele, mein Herz und meinen Geist zu ewiger Verhärtung verurtheilt«

Daraus sieht man, daß er sich der ihm gewordenen Züchtigung Gottes nicht unterwerfen wollte, daß in ihm noch ein ungebrochener Eigenwille fortlebte, der ihn hinderte, gerade seine Traurigkeit, geistliche Dürre und Öde als Anfassung der rettenden Gnade Gottes zu verstehen. Der wahrhaft Bußfertige mißt die Schuld seiner Sünde nicht Gott, sondern sich allein zu und trägt willig und gern die verdiente Strafe dafür, ohne über die Art und Weise derselben zu hadern (ef. Pf. 51,5. G; 3. Mose 26,41). Vielleicht, wenn die Freunde Spiera’s Vor Allem ihn hierauf einfach und nachdrücklich hingewiesen hätten, daß er erkannte, wie sein eigner alter Mensch die Wirkung des göttlichen Gnadenrufes hindere und auf Grund dieser Erkenntniß doch noch den Zugang zur Gnade Gottes fand. Aber so lange nicht in der Buße alleeigne Kraft und Gerechtigkeit gründlich zu Schanden geworden war, so lange konnte es nicht zum Glauben, diesem freien Akt des selbstlosen Vonsichlaffens und des unbedingten Sichüberlassens an den Erlöser kommen.

Ob Spiera einst zu den Verlornen oder Erlösten zählen werde, darauf können wir alle, die wir jetzt noch durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort sehen und nur stückweise erkennen, nicht antworten. Spiera klagte sich zwar an, die Sünde wider den heiligen Geist begangen zu haben. Hätte er dies wirklich gethan, so wäre auf Grund der heiligen Schrift kein Zweifel darüber, daß er zu den ewig Verlorenen gehört. Denn die Lästerung des heiligen Geistes ist  die »Sünde zum Tode« (1. Joh. 5, 16) und findet keine Vergebung weder in dieser noch in jener Welt (Matth. 12, 31. 32). Wir erkennen an, daß Spiera dem Herrn nicht Treue bewiesen hatte, sondern rückfällig geworden war. Wir gehen noch weiter und sagen, daß er »dem heiligen Geist widerstrebt« (Apostgefch. 7, 51), daß er »den heiligen Geist betrübt hat« (Eph. 4, 30).

Aber anzunehmen, daß er die Sünde begangen habe, welche die Schrist »Lästerung des heiligen Geistes« nennt, hindert uns doch Manches. Wie wir z. B. aus seiner Lebensgeschichte wissen, war er »ja dem Unflath der Welt durch die Erkenntnis; des Herrn nnd Heilandes Jesu Christi nicht entflohen (2. Ptr. 2, 20),« hatte schwerlich »geschmeckt die himmlische Gabe und das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt« (Hebr. 6, 4. 5). Die Sünde wider den heiligen Geist kann aber in vollem Sinne nur von einem Wiedergeborenen begangen werden. Sie ist nur möglich, nachdem das böse Prinzip durch einen mehr oder minder langen Prozeß der Verinnerlichung und Vergeistigung zu seinem Gipfelpunkt gelangt ist, und der Mensch, der an sich und in sich die göttlichen Gnadenwirkungen erfahren und erlebt hat, in freier Entscheidung zur bewußten Verwerfung des Lebens aus Gott fortschreitet.

Im Hinblick aus Spiera’s Zustand nach der Abschwörung halten wir uns darum einfach an das schöne Wort des Apostels: »O welch eine Tiefe des Reichthums, beides der Weisheit und Erkenntnis; Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte nnd unerforschlich seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? oder wer ist sein Rathgeber gewesen? (Röm. 11, 33. 34).« Lassen wir uns aber gleichzeitig Spiera’s Geschichte eine ernste, unvergeßliche Jllustration zu dem Worte der Wahrheit (Gal. 6, 7) sein: »Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der «Mensch säet, das wird er ernten,« sowie eine dringende, unablässige Mahnung, »Unsere Seligkeit mit Furcht und Zittern zu schaffen« (Phil. 2, 12), — mit Furcht und Zittern namentlich vor unserer eigenen Schwachheit und Sünde, — und allen Fleiß darauf zu verwenden, unsern »Beruf und Erwählung fest zu machen« (2. Petri 1, 10) durch getreue Benutzung der uns von Gott hierfür dargereichten Gnadenmittel. ,,Denn — sagt das Wort Gottes, — wo ihr solches thut, werdet ihr nicht straucheln, und also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reich unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi (2. Petri I, 10. 11).«

Aufrichtige Buße und lebendiger Glaube müssen nicht ein Mal oder etliche Mal im Leben, sondern immer während unserer irdischen Pilgrimsschaft iim Herzen wohnen. Und dieselben nicht nur fest zu halten, sondern in gegenseitiger Wechselwirkung wachsen und sich vertiefen zu lassen, ist jedes Christen heilige Lebensaufgabe.


[1] Als der schon einmal erwähnte Savonarola an das Sterbebette Lorenzo’s de Medici gerufen wurde, stellte er zwei Bedingungen, die der Fürst erfüllen müsse, ehe ihm Gottes Gnade und Barmherzigkeit zugesichert werden könne. Erstens sagte er, müßt ihr einen starken lebendigen Glauben haben. Der Glaube lebt mächtig in mir, antwortete der Sterbende. Dann müßt ihr alles unrechtmäßig Genommene wieder zurückerstatten oder euren Söhnen befehlen es zu thun. Der bußfertige Fürst versprach auch das willig.

[ENDE des zitierten Textes]

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Artikel aktualisiert am 25.01.2024

4 thoughts on “Franz Spiera”

  1. Hab den Bericht mal nach langer Zeit wieder gelesen. Das ist übelst Schlimm was unserem Leidensbruder widerfahren ist. Ähnlich geht es mir auch wenn ich nicht grade meine Gedanken denke gegen dieses Anklagen und die Höllenvisionen. Immer in der Befürchtung „Jetzt ist es passiert, jetzt bist du draußen“ kommen und gehen diese Gedanken. Am schlimmsten sind die Gedankengänge die sich um das Wiederkehren des Herrn Jesu handeln. „Er kann jederzeit zurück kommen, und du bist nicht fertig.“ oder „Du bist eh nicht dabei.“ Auch so was kam schon mal vor. “ Der Herr wird dich ins Feuer schicken, du bist ein Versager, du hast nicht gehorcht.“ Oder auch das hier, „Gott wird dich verlassen“. Viele solcher Gedanken sind schon länger da, und kehren in bestimmten Abständen wider. Schrecklich diese Quälerei.

  2. Interessanter Bericht, der den eigenen Horizont mächtig erweitern kann, wenn man sich darauf einlässt – im positiven wie im negativen. Hoffentlich können wir daraus gute Lehren für den Umgang mit Menschen in Glaubenskrisen lernen.
    Habt Ihr eigentlich eine Quellenangabe? Vieles klingt wie aus einem Buch aus dem 19. Jahrhundert abgeschrieben.
    Liebe Grüße
    Exing

    1. Lieber Bruder Exing, der Bericht über Franz Spiera samt der fragwürdigen theologischen Auswertung stammt aus dem Buch von Karl Roenneke, Francesquo Spiera – eine Geschichte aus der Zeit der Reformation in Italien, Hamburg 1874. Diese Quellenangabe war bisher unter dem Link „https://matth2323.de/unvergebbare-suende/“ eingestellt.

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