Wie will ich werden?

Es wird viel gesprochen über die innere Erneuerung, das „neue Herz“, das Gott dem Gläubigen schenken will. Aber was ist das? Ist es das Glücksgefühl, dass das Erlebnis der Vergebung aller Schuld wird besonders am Anfang des Glaubenslebens auslöst? Mit dem Entschluss, „wie ein Christ zu leben“ hoffte ich wie viele Gläubige auf immer neue Auffrischung dieses Erlebnisses.

Bei mir wurde indes dessen Intensität immer schwächer – trotz eifrigster Bemühung um die Erneuerung der Glaubensfreude. Etlichen meiner Glaubensgeschwister erging es ähnlich. Es dauerte einige Zeit, bis wir die Ursache erkannten. Mit wachsender Bibelkenntnis wuchs auch die Einsicht in eigenes Versagen, erzeugte die Dogmatik bald ungeahnte seelische Konflikte, Zweifel und Befürchtungen. Das Gefühl, Gott nahe zu sein, eine „liebevolle Beziehung zu ihm zu haben“ schrumpfte, obwohl wir uns bemühten, diesen Prozess aufzuhalten. Innerlich waren wir immer mehr mit uns selbst beschäftigt, auch wenn wir uns in der Gemeinde zugunsten anderer engagierten. Ich fühlte, dass eine ungesunde Entwicklung im Gang war, die mir die Lebensfreude raubte, die meine seelischen Reserven aufzehrte.

Das, was ich in jahrelanger Bibellehre gelernt hatte, bot mir keinen Standpunkt, der eine hilfreiche Beurteilung von außen ermöglichte. Psychologie war in den 70er Jahren in der evangelikalen Glaubensgemeinschaft verpönt als unerlaubtes Heilsangebot, mit der „die Welt“ dem Heilsangebot Christ Konkurrenz machen wollte. Deswegen konnte es ein psychologisches Verständnis dessen, was in der Glaubensgemeinschaft ablief, nicht geben. Die Unfähigkeit seelische Prozesse zu verstehen charakterisiert bis heute viele Leitfiguren der frommen Szene.

Da lobte doch tatsächlich ein altgedienter Pastor das mosaische Gebot, das einen Vergewaltiger zwang, sein Opfer ohne die Möglichkeit einer Entlassung zu heiraten (5Mose 22,28-29), da „hierdurch die materielle Versorgung des Opfers gesichert sei“. Zweifellos hat er sich durch diese Behauptung bei denen, die Gott ihren „Verstand zum Opfer dargebracht“ haben, als besonders glaubensstark profiliert.

Kann man die Unfähigkeit, mit traumatisierten Opfern mitzufühlen, nicht deutlicher bekunden? Leider ist nicht nur Unfähigkeit, sondern auch mangelnde Bereitschaft zu beklagen. Denn es gab ja die Alternative, solche Frauen unter den Schutz des Priestertums zu stellen, das auch ledige Frauen beschäftigte. (1Sam 2,22)

Viele Gläubige entziehen sich einer Stellungnahme und greifen auf das Standard-Argument zurück: „wir können es nicht verstehen, deshalb sagen wir nichts dazu sondern warten, bis an das Ende aller Tage, bis Jesus wiederkommt und uns den Sinn des Gebotes erklärt.“ Macht dieser Satz tatsächlich Sinn? Wir können nicht verstehen? Unlängst wurde im türkischen Parlament eine ganz ähnliche Regelung als Gesetzesvorschlag eingebracht: ein Vergewaltiger bleibt straffrei, wenn er das Opfer heiratet. [1] Und das können Christen angeblich heute nicht verstehen, warum dieser Vorschlag grauenvoll ist? Wer das nicht versteht, versteht nichts in der Seele!

Hinter diesen Absurditäten steckt Methode. Immer wieder haben es Bibellehrer verstanden, den Gläubigen weiszumachen, dass der Glaube kraftlos in nichts zusammensinkt, wenn man gelegentliche Fehler in der biblischen Überlieferung für möglich hält. Dann wäre man gezwungen, allen Bibelworten nur menschliche Qualität zu unterstellen. Die Autorität der Bibel ginge angeblich verloren. Stimmt das? Der Gläubige hätte den Auftrag erhalten, die Autorität der Bibel durch Denkverbote und unglaubwürdige Argumente zu „retten“?     Tatsächlich?

Warum ist das „neue Herz“, „Christus in uns“ (Gal 2,20) kein Beweis, der uns Gewissheit gibt, dass Gott da ist, dass er uns liebt und uns durch seinen Geist in alle Wahrheit leitet? Oder ist das „neue Herz“ so schwach, dass es genauso gut Illusion sein könnte? Jeder Herzkranke weiß eigentlich, ob er ein neues Herz eingepflanzt bekommen hat oder ob noch das alte drin ist.

Denn der Geist im Gläubigen reagiert doch auf den Geist in der Heiligen Schrift, wo immer er gesprochen hat. Er kennt sich doch selbst. (1.Kor 2,10-16) Eins ist auch sicher: auf die unsägliche Geschichte mit der Zwangsehe mit einem Vergewaltiger reagiert er nicht positiv wie der fragwürdige Pastor. Wer sich die ganze Situation vor Augen führt,  erkennt die Unbarmherzigkeit und kann doch nicht mit Zustimmung oder gar Jubel reagieren.

Oder sollen Gläubige lernen Unbarmherzigkeit in ihrem Denken zulassen? Ist das das pädagogische Ziel der Bibel?

Wer das „glauben“ kann, der sollte sich vielleicht einmal fragen, ob er nicht die falsche Brille auf der Nase hat. Wäre es da nicht angebracht, einmal zu prüfen, welche „Bibelbrille“, welche Art und Weise die Bibel zu lesen, ihrem Auftrag besser entsprechen würde? Was ist die Absicht der Bibel? Welche „Bibelbrille“ wird dieser Absicht am besten gerecht? Vergleiche doch einmal die Stärken und Schwächen unterschiedlicher Bibelbrillen!

Wie will ich werden? In welche Richtung soll sich mein Empfinden, mein Denken, mein Urteilsvermögen entwickeln? Sollte ich mir diese Frage nicht schon am Anfang meines Glaubensweges stellen? Oder genügt es, wenn ich sie am Ende meines Weges stelle?

Ist an dieser Stelle Zustimmung und Applaus nun eine kranke oder eine gesunde Reaktion? Welche Frage! Wird jemand, der bereit ist, solchen Unsäglichkeiten das Etikett „heilig und richtig“ umzuhängen, je verstehen, was für die Seele „gesund“ ist? Die Vorstellung von einem Gott, der mal testen will, ob wir Ihm zuliebe unbarmherzig denken können…  ist das nicht krank? Von schädlich gar nicht zu sprechen. Gesund ist doch das Gegenteil!

Ist es nicht viel heilsamer und glaubwürdiger, wenn Gottes Freunde Urteilvermögen haben und üben? Hat Gott nicht zu diesem Zweck Menschlich-Abgründiges in der Bibel zugelassen? Und die Reparaturinstrumente gleich mitgeliefert, damit seine Gläubigen das Unsägliche im Sinne Jesu korrigieren können. Wer will ihm das verbieten?

Das bibeltreue Establishment will es! Denn die Lehre von der irrtumslosen Bibel ist ihr Geschäftsmodell, das ihnen auf unabsehbare Zeit Beschäftigungsmöglichkeiten, Pöstchen, Professoren- und Pastorenstellen und Einkommen garantiert. Ein wahrer Geldsegen. Gläubige, die panische Angst haben, den Glauben durch einen einzigen Fehler in der Bibel zu verlieren, bezahlen alles gerne.

Vor allem bezahlen sie mit etwas, was wertvoller ist als Geld: mit ihrer Glaubwürdigkeit und Selbstachtung. Treten wir doch einen Schritt zurück! Was soll es wert sein, wenn wir den Glauben durch Verdrängung und faule Ausreden „retten“ müssen? Ist er schon dadurch nicht längst kaputt gegangen? Haben wir nicht genug erbärmliche Beispiele in der Geschichte, wo Menschen zugunsten ihrer Weltanschauung ihren Mitmenschen dreist ins Gesicht lügen?

Ich möchte an die ewige Gültigkeit von Güte und Wahrheit glauben können. Ich möchte an der Hoffnung festhalten, dass sie die maßgebliche Motivation und Antriebskraft in meinem Leben werden können. Ich möchte mir ehrlich über meinen innerlichen Zustand Rechenschaft geben. Und genauso wenig, wie ich belogen, manipuliert und mit faulen Ausreden abgespeist werden will, so will ich es auch anderen zumuten. Im Gegenteil: weil ich im anderen kein Missionsobjekt sehe, das mir Sinn-  und Erfolgsgefühle und Teilhabe am religiösen Machtrausch bescheren soll, sondern meinen Bruder- weil mir seine Menschenwürde wichtig ist, will ich ihm auch das gleiche Recht zugestehen, seinem Gewissen zu folgen und alles – frei von den Erwartungen anderer – an den ewiggültigen Maßstäben der Güte und Wahrheit zu prüfen.

Das ist das Recht, das die Bibel jedem Gläubigen zugesteht (1.Thess 5,17). Hat nicht Gott seinen Gläubigen versprochen, sie durch seinen Geist dazu zu befähigen(1Kor 2,10-16)? Und wenn wir dieses Recht wahrnehmen, werden wir feststellen: es wird unserer Beziehung zu Jesus und der Treue zur Bibel nicht schaden. Im Gegenteil: es wird sie stärken. Wir sind auf dem richtigen Weg! Auf dem Weg zu einer inneren Erneuerung.


[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/frauenorganisationen-befurchten-straffreiheit-fur-vergewaltiger-4141732.html

Artikel aktualisiert am 30.04.2025

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