Alternativen

Gegen eine durch perfektionistisches Bibelverständnis verursachte Depression gibt es eine evangeliumsgemäße Therapie, die das höchstrangige Ordnungskriterium der Bibel, die Qualitätsmaßstäbe Jesu, zur Interpretation aller biblischen Aussagen verwendet.

Wenn dieser Schlüssel nicht angewendet werden kann oder darf, dann stehen üblicherweise die folgenden (u.U. wenig tauglichen) Alternativen zur Verfügung:

1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht
2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als Werkgerechtigkeit betrachtet
3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen
4. Heilssicherung mittels Ritual
5. Glauben an den Glauben anderer
6. Allversöhnung
7. Entkernung des Christentums



1. Eine optimistische Einstellung ist Pflicht.
Argumentation: Die Güte Gottes gegenüber jedem Menschen hat grundsätzlich ein viel höheres Gewicht als alle Warnungen und Strafen. „Sein Zorn währt nur einen Augenblick, aber lebenslang seine Gnade.“ (Ps 30,6) Auch bei strengsten Warnungen gilt: es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Warnungen sind gutgemeinte Übertreibungen, um gleichgültige Menschen zum Zuhören zu bewegen. Deswegen darf der Gläubige grundsätzlich optimistisch sein. Damit ehrt er Gott am besten.

Vorsichtige Beurteilung: Zweifellos sind die Ansichten Gottes grundsätzlich gut. „Gott will ja, dass alle Menschen gerettet werden und die Wahrheit erkennen können.“ (1.Tim 2,4).

Auch seine Strenge ist Güte: „Mein Sohn, denke nicht schlecht über die strenge Hand des Herrn, verliere nicht den Mut, wenn er dich straft! Denn wen der Herr liebt, den erzieht er streng und wen er als Sohn annimmt, dem gibt er auch Schläge. Was ihr ertragen müsst, dient also eurer Erziehung. Gott behandelt euch so wie ein Vater seine Söhne. Oder habt ihr je von einem Sohn gehört, der nie bestraft wurde? Wenn Gott euch nicht mit strenger Hand erziehen würde, wie er das bei allen macht, dann hätte er euch nicht als Kinder anerkannt.“ (Hebr 12,5-8)

Wenn der Mensch sein Unrecht ehrlich bereut und lässt, vergibt ihm Gott gerne und verzichtet auf die Bestrafung. (Jona 3,10 + 4,11)

Gott straft nicht gleich, sondern versucht zunächst den Menschen mit Güte zu überzeugen: „Begreifst du denn nicht, dass er dich mit seiner Güte zur Umkehr bringen will?“ (Rö 2,4)

Strafe und Gnade stehen in einem zeitlichen Verhältnis: „Einen Augenblick nur dauert Sein Zorn, aber lebenslang seine Gnade.“ (Ps 30,6) Wieviele Sekunden hat das Leben! Dem Zorn wird gerade eine einzige Sekunde zugestanden. Das sind die Relationen Gottes.

Dies alles erlaubt eine ermutigende und zuversichtliche Betrachtung der Bibel.

Optimistisch sein gelingt Gläubigen mit einer positiv verlaufenden Biografie in der Regel sehr gut. Da sich bei ihnen fast alles „zum Besten“ gefügt hat, fällt es ihnen nicht schwer an die Liebe und Großzügigkeit Gottes zu glauben. Ihre seelische Stärke lässt sie glauben, dass sie vorsichtigen Gläubigen überlegen sind. Wie oben gezeigt, kann das aber eine Selbsttäuschung sein. (siehe auch „Sorgfaltsparadox„)

Selbst wenn ihre positive Sicht berechtigt ist, so ist es dennoch naiv, zu glauben, dass dieser Optimismus von Gläubigen, die durch schwere Schicksalsschläge geprägt sind, einfach übernommen werden könnte. Eine negativ verlaufende Biographie liegt die Befürchtung nahe, dass das Unglück die Antwort Gottes auf eigenes Versagen sein könnte.

Zudem gibt es auch einen Optimismus, der leichtsinnig ist. Die Bibel warnt an manchen Stellen davor. Es werden nicht alle, die zu mir „mein Herr“, sagen, in den Himmel kommen, sondern nur die, die den Willen meines Vaters im Himmel tun.“ (Mt 7,27) „Wehe denen von euch, die sagen: „Möge doch bald der Tag des Herrn kommen“. Für euch wird dieser Tag die Finsternis bringen und nicht Licht.“ (Amos 5,17) Die fünf törichten Jungfrauen gingen dem Bräutigam entgegen, mussten aber draußen bleiben, weil sie „kein Öl mehr“ hatten. (Mt 25,1ff)

Mit dem „Tun des Willens“ kann keine zufriedenstellende Erfüllung des Gesetzes gemeint sein. (Werkgerechtigkeit) Aber die Freundschaft des Gläubigen mit Gott, seinem Herrn (Jak 2,19) soll an seinem Lebensstil zu erkennen sein. Die Bibel nennt diese Einstellung „Heiligung„. Sie ist unbedingt notwendig ! „Ohne Heiligung wird niemand den Herrn sehen.“ (Hebr 12,14)

Eine Gemeinde, deren Theologie das Thema der „Heiligung“ vernachlässigt, wird sorgfältigen Bibellesern keine Heimat sein können. Sie machen sich dann auf die Suche nach einer „besonders entschiedenen“ Gemeinde, wobei sie in Kontakt mit der perfektionistischen bzw. werkgerechten Variante giftiger Theologie kommen können. In der früheren Gemeinde haben sie nicht lernen können, den Missbrauch der Bibel mit der Bibel abzuwehren, da dort die biblische Autorität in wichtigen Punkten nicht anerkannt wurde.

Sowohl optimistische als auch pessimistische Gläubige benötigen für eine realistische Selbsteinschätzung die klare Unterscheidung zwischen Heiligung und Werkgerechtigkeit. Ohne diese Unterscheidung bleibt unklar, ob der verunsicherte Gläubige die Heilsversprechen Gottes auf sich beziehen kann oder nicht. Mit Hilfe dieser Unterscheidung kann sich der Gläubige vor leichtfertigem Optimismus schützen.

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2. Den Spieß umdrehen: Der Aufruf zur Heiligung wird als Werkgerechtigkeit betrachtet

Argumentation: Der Aufruf zur Heiligung ist nichts anderes schädliche Werkgerechtigkeit ! Es ist nur Unglaube in die allumfassende Gültigkeit des Sühneopfers Jesu.

Kritische Beurteilung: Tatsächlich ? In der lutherischen Volkskirche ist leider diese irrige Ansicht weitverbreitet. Zweifellos macht man sich beliebt, wenn man einen Glauben verkündet, der nichts mehr verlangt und nichts mehr kostet (Wert des Glaubens): vergeudete Gnade! (Das Wort von der „billigen Gnade“ (Bonhoeffer) ist sehr missverständlich, denn billig oder teuer ist etwas, was man bezahlen muss. Der Gläubige muss aber nicht für seine Errettung bezahlen – auch nicht nachträglich.)

Luther hat in einer Tischrede später durchblicken lassen, dass er mit der Unterscheidung von“Gesetz und Evangelium“, d.h. von Heiligung und Werkgerechtigkeit immer noch Probleme hatte und hat dieses Unvermögen kurzerhand jedem Menschen unterstellt. “Kein Mensch auf Erden ist, der da kann und weiß das Evangelium und Gesetz recht zu unterscheiden. Wir lassen es uns wohl dünken, wenn wir hören predigen, wir verstehen es; aber es fehlet weit, allein der heilige Geist kann diese Kunst. … Ich hätte wohl auch gemeint, ich könnte es, weil ich so lange und so viel davon geschrieben habe; aber wahrlich, wenn es ans Treffen geht, so sehe ich wohl, dass es mir es weit, weit fehlet! Also soll und muss allein Gott der heiligste Meister und Lehrer sein!” (Martin Luther, Tischreden, ausgewählt von Karl Gerhard Steck, München 1959, S.42.)

Das wäre wahrlich ein bitteres Resultat, wenn lebensgefährliche (!) Werkgerechtigkeit und lebensnotwendige (!) Heiligung so schwer auseinanderzuhalten wären ! Wie kann dann ein vernünftiger Mensch verlangen, dass der Gläubige sich mit diesem Thema überhaupt befasst ? Es kann dann doch nur ein skuriles Hobby theologischer Spezialisten sein und der Gläubige tut gut daran, wenn er sich mit seinem Eifer und Fleiß ganz auf irdische Dinge konzentriert.

Ist das wirklich so ? Auch der einfache Gläubige ist in der Lage, zwischen „Gesetz und Evangelium“, zwischen Heiligung und Werkgerechtigkeit klar zu unterscheiden, indem er sich nämlich hütet, eine einzige Bibelstelle so auszulegen, dass die Deutung gegen die Qualitätsmaßstäbe Jesu „Barmherzigkeit, Liebe zum Recht, Verlässlichkeit“ verstößt. Nur wenn man ihre absolute Priorität respektiert, entsteht eine klare Rangfolge biblischer Aussagen.

Doch wie kann man den absoluten Vorrang dieser Qualitätsmaßstäbe erkennen, wenn man sich wie Luther der fürstlichen Macht bedient, um seinen theologischen Einfluss gewaltig zu vermehren und dabei unschuldige Menschen in großen Mengen – Juden, christliche Bauern und täuferische Glaubensgeschwister – zu Schaden kommen lässt ?

Dies muss man realistisch sehen, auch wenn Luthers Lebensleistung Christen bis heute in vielerlei Hinsicht zu Recht großen Respekt abnötigt.

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3. Quantitative Lösung: die Bibel grundsätzlich nur in Auswahl lesen.
Argumentation: Der Gläubige soll es so machen, wie es ihm viele Pastoren in der Predigt vormachen: er soll sich auf die Verheißungen konzentrieren und nur über sie nachdenken anstatt über die angstmachenden Stellen der Bibel. Dann wird das Gute und Heilsame seine Seele allmählich ausfüllen und das Negative überdecken. Verstehen könne die angstmachenden Stellen ohnehin niemand. Sie gehen den Gläubigen daher auch nichts an.

Kritische Beurteilung: Das Ausmaß der Zerstörungskraft hängt nicht von der Menge der Worte ab. „Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig.“ (Gal 5,9) Man kann zweifellos Gläubige daran gewöhnen, die Bibel nur in Auswahl zu lesen. So wird es in der Regel gemacht. Doch es dürfte wenig Erfolg haben, jemanden, der die Bibel kennt, aufzufordern, sich nur in Auswahl zu erinnern.

Haben warnende Stellen der Bibel wirklich keine Bedeutung für den Gläubigen ? Wenn man eine inhaltliche Analyse für überflüssig hält, wie kann man dann behaupten, dass jedes einzelne Wort der Schrift „völlig zuverlässig“ sein soll (Credo der Evangelischen Allianz) ?

Dieses zu behaupten und gleichzeitig besonders eindringliche Texte (Warnungen) willkürlich außer Kraft zu setzen, kann man nur als schizophrene Betrachtungsweise bezeichnen ! Braucht der Mensch tatsächlich schizophrenes Denken, um die Bibel verkraften zu können ? Wirklich Schizophrenie oder Unehrlichkeit? Wird die Autorität der Heiligen Schrift auf diese Weise tatsächlich gestärkt oder wird sie nicht vielmehr aufgeweicht ?

Wer bestimmt, was ausgewählt wird und was ignoriert werden muss? Ohne ein allgemein überzeugendes Ordnungskriterium ist die Quintessenz, dass sich der sorgfältige Gläubige vor dem seelischen Absturz nur mit Hilfe des blinden Vertrauens auf Gläubige retten kann, die ihm dank ihres Vorbildes oder ihres Erfolges im „Menschenfischen“ überlegen erscheinen ? Etwas mehr seelische Stabilität wird auf diese Weise mit dem Verlust der persönlichen Würde erlauft. Der Ratsuchende bleibt ein abhängiges, allein nicht lebensfähiges, kleines religiöses „Würstchen“, während die Bedeutung des Seelsorgers als Garant der Heilsgewissheit enorm zunimmt.

Auch für die weniger Ängstlichen bleibt es schwierig, ohne glaubwürdige Begründung selbst zu bestimmen, was ignoriert werden darf. Am besten ist es, wenn die Tradition die betreffende Aussage schon immer ignoriert hat. Was die Mehrheit der Gläubigen schon immer machte und dachte, kann ja nicht falsch sein – und bedarf deshalb keiner Erklärung.

Wenn die Verdrängung nicht durch die Tradition abgesegnet wird, so kann sie durch einen überlegenen Gläubigen legitimiert werden. Indem die Gläubigen ihn in das Amt wählen, anerkennen sie seine geistliche Überlegenheit und gestehen ihm nicht nur das Intepretations- sondern auch das Auswahlmonopol zu. Er organisiert mit anderen zusammen ein reichhaltiges Informationsprogramm, das die geistige Aktivität der Mitglieder weitgehend absorbiert und sich von allen Tabuthemen fernhält. Wer dennoch ein unerwünschtes Thema anspricht, der erfährt sehr schnell von der Mehrheit der Zuhörer, dass dafür überhaupt keine Zeit zur Verfügung steht und dass eine Programmänderung von allen als Friedensstörung gesehen und nicht geduldet wird.

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4. Heilssicherung mittels Ritual
Argumentation: „Wer einmal das Bekehrungsritual vollzogen und ein Übergabegebet gesprochen hat, kann nicht mehr verlorengehen.“ Eine schwächere Variante dieser Auffassung ist das Vertrauen auf die Rettung durch die Taufe oder durch die Gabe des Heiligen Abendmahls. Bekehrungsritual, Taufe oder Abendmahl werden als „Heilsmittel“ gesehen, die von Gott nicht mehr in Frage gestellt werden (können).

Vorsichtige Beurteilung: Eine Geschichte im Alten Testament zeigt uns, dass man es sich mit dieser Anschauung vielleicht doch etwas zu einfach macht.

Es gab damals zwei Priester, Hophni und Pinehas, deren Leben von Respektlosigkeit gegenüber Gott geprägt war. Sie stahlen von den Opfergaben (1.Sam 2,13-14) und schliefen mit den Frauen, die im Tempel dienten. (V.22) Diese Sünden waren dem ganzen Volk bekannt. (V.14) Nachdem die Israeliten von den Philistern in einer Schlacht besiegt worden waren, ließen die Ältesten des Volks die Bundeslade holen, um sie – als Zeichen der Gegenwart Gottes – in die Schlacht mitzunehmen. Als Hophni und Pinehas die Lade brachten, jubelte das Volk, das nun den Sieg sicher glaubte. (1.Sam 4,5) Doch diese Hoffnung wurde grausam enttäuscht. Israel erlitt eine vernichtende Niederlage und die Bundeslade war weg. Nun hatten sie die Philister. (V.10-11)

Es scheint eine törichte Hoffnung zu sein, Gottes Segen mit einem Ritual erzwingen zu können, obwohl man sich einen bösen und unbarmherzigen Lebensstil erlaubt. Es scheint töricht zu sein, auf den Himmel zu hoffen, wenn man anderen das Leben zur Hölle macht! Deshalb auch die eindringlichen Warnungen in der Bibel: „Wisset ihr nicht, daß ungerechte Menschen das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasset euch nicht verführen! Weder die Hurer, noch die Verehrer der Götzen noch Leute, die die Ehe kaputtmachen, noch die Pädophilen, noch die Diebe noch die Habgierigen noch die uneinsichtigen Trunkenbolde noch die Lästerer noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben.“ (1.Kor 7,9)

(Auch diese strenge Mahnung ist allerdings bereits wieder mit Verheißungen Gottes „durchlöchert“ und abgeschwächt, denn all diese Fehlverhaltensweisen werden ja gerne von ihm vergeben, wenn man sie bereut.)

Leider halten sich immer wieder hartherzige Menschen zur Gemeinde, an denen diese Warnungen, die eigentlich auch abgebrühte Naturen beeindrucken sollten, wirkungslos abprallen. Umgekehrt beziehen sorgfältige und eifrige Christen, die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes empfinden, ausgerechnet diese Warnungen, die sie gar nicht betreffen, auf sich. Sie haben Mühe zu verstehen, dass sich die Warnungen an „die Starken“, an rücksichtslose Gläubige, richten und nicht an „die Schwachen“, die gewissenhaften Gläubigen. (Sorgfaltsparadox)

Infolgedessen wird für manche der Glaube zu einer ständigen „Zitterpartie“, einem ständigen Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung. Sie finden nie zum Frieden und zur Glaubensfreude – da Tröstung und Bedrohung immer in schizophrener Gleichzeitigkeit vorhanden sind. Diese Situation macht die Erlösungsbotschaft unglaubwürdig. Kann man dann noch Menschen zum Glauben einladen? Muss man ihnen nicht rechtgeben, wenn sie sich auf diese Schizophrenie, auf dieses Pseudo-Heil nicht einlassen wollen ?

Man kann daraus nur einen Schluß ziehen: die Heilsverheißungen haben ein unvergleichlich größeres Gewicht als alle Warnungen. “Selbst wenn wir untreu sind, so bleibt er doch treu – er wird nicht widerrufen, was er zugesagt hat.” (2.Tim 2,13) Es ist undenkbar, dass der Gläubige aus Schwäche eine Sünde zuviel begeht und deshalb verlorengeht. „Denn der Herr verstößt nicht auf ewig. Selbst wenn er dunkelste Zeiten für einen Menschen bestimmt hat, so erbarmt er sich doch eines Tages wieder über ihn – denn seine Güte ist groß und es macht ihm keine Freude, Menschen in Not und Traurigkeit zu lassen.” (Klgl 3,32-33) Schwache Menschen hat Jesus nie bedroht, nur selbstgerechte und gewalttätige.

Wäre es anders, gäbe es überhaupt keine Heilsgewissheit. Dann würde sich der Gläubige wieder abrackern und mit frommen Werken mühen müssen, um sich etwas weniger bedroht zu fühlen. Die „Freiheit“ des Geistes (2.Kor 3,17) wäre übelste Propaganda, denn das Neue Testament wünscht sich vom Gläubigen unendlich viel mehr mehr als das Alte, nämlich Vollkommenheit. (Mt 5,48) Ist das wirklich noch Grund zum Jubeln, wenn man „vom Regen in die Traufe gekommen“ ist ? Wohl kaum! Es ist ein fataler Fehler, wenn man die Gebote des Neuen Testamentes in alttestamentlicher Weise missversteht!

C.H. Spurgeon lernte in seinem Dienst viele treue Gläubige kennen, die sich mit der Angst herumplagten, das Heil wieder zu verlieren. In seinen „Kleinoden“ legte er immer wieder dar, wie unsinnig und unwürdig diese Befürchtung ist. Er selbst war der Ansicht, dass das einmal geschenkte Heil unverlierbar sei. Der Gläubige hat ja eine unzerstörbare, geistliche Natur geschenkt bekommen, die niemals sterben kann. Jesus sagte: „ich gebe ihnen das ewige Leben; und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen.“ (Joh 10,27+28)

Die Auffassung, dass das einmal geschenkte Heil unverlierbar ist, mag im Ergebnis richtig sein. In der unsichtbaren Welt angekommen, werden die Gläubigen sicherlich staunen, wem Gott noch die Treue gehalten hat. Da werden viele sein, denen Menschen keine Chance mehr gegeben hätten.

Es ist sicherlich auch angemessen, wenn gutwillige Gläubige, die nicht brutal mit ihren Mitmenschen umgehen, von diesem Standpunkt aus alle anderen Bibelstellen, insbesondere die Warnungen interpretieren.

Bei Warnungen ist immer der lebensfördernde Sinn herauszuarbeiten: „der Mensch lebt von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ (Mt 4,4) Bei der Betrachtung der Heilsversprechen ist zu berücksichtigen, dass viele Verheißungen nur im Rahmen einer „Freundschaft mit Gott“ gültig sind, d.h. nur dem Gläubigen gelten, der sich eines freundschaftlichen Verhaltens gegenüber Gott befleißigt. (Jak 2,23)

Auch die zitierte Heilszusage Jesu stellt das ganz klar heraus: „Denn meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben (Joh 10,27) Die „Schafe“ sind charakterisiert als solche, die auf Jesus „hören“ wollen.

Das bloße Negieren und Ignorieren von Warnungen ist mit dem Odium willkürlicher Verdrängung behaftet und wird bei sorgfältig lesenden Gläubigen schwerlich zu stabiler Heilsgewissheit führen.

Deshalb ist für Heilsgewissheit ein konsistentes Konzept der „Freundschaft mit Gott“ nötig („Heiligung„), das durch bleibende Unvollkommenheit des Gläubigen nicht in Frage gestellt wird.

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5. Glauben an den Glauben anderer
Argumentation: Der geängstete Gläubige darf sich auf die optimistische Prognose von Gläubigen verlassen, die im Glauben gereift und anderen ein Vorbild sind. Diese Gläubigen haben viel mit Gott erlebt und können seinen Charakter und seine Reaktionen besser einschätzen.

Kritische Beurteilung: Sicherlich kann ein solcher Zuspruch sehr wertvoll und auch unbedingt notwendig sein, um den Absturz in dauernde Panik und schwere Schädigung der Seele abzuwenden.

Doch ist diese Lösung unbefriedigend. Es kann keine Dauerlösung sein, dass der Glaube des Betroffenen verkümmert und krüppelhaft bleibt und ohne Stützung von außen kraftlos in sich zusammensinkt. Einen solchen Gläubigen ist ja das frohe Zeugnis des Glaubens weitgehend unmöglich. Sein ganzes Leben lang wird er sich als fragwürdiger Gläubiger vorkommen, den Gott vielleicht gerade noch duldet, und neidisch auf die privilegierten Gläubigen blicken, die mit Glaubensfreude und Geborgenheit überschüttet werden.

Eine seelische Abhängigkeit vom Seelsorger ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass es der Theologie erheblich an Selbstkritik mangelt und dass inkonsequente und fragwürdige Bestandteile nicht ausgeräumt wurden. (Verdrängung) Es gibt Gemeindeleiter, die seelische Abhängigkeit und blindes Vertrauen in ihre Person geradezu kultivieren, um ihr übersteigertes Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Diese Vermutung liegt besonders nahe, wenn die Gemeindeleitung die Autorität der Gemeindeversammlung nicht respektiert.


6. Allversöhnung

Argumentation: Es gibt wohl kaum einen Christen, der nicht froh wäre, wenn es keine Hölle gäbe. Vielen Menschen erscheint es unangemessen, selbst einem notorischen Verbrecher unaufhörliche Qual zuzufügen. Wenn man ihm das Doppelte, Dreifache, ja das Fünffache allen Leides aufbürden würde, das er anderen zugefügt hat – all das könnte man noch als fairen, wohlverdienten Ausgleich ansehen. Aber ewige Qual ?

Eine uferlos grausame Bestrafung steht im Widerspruch zu menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, sodass deshalb vielen Menschen die Botschaft eines liebenden Gottes nicht mehr als glaubwürdig erscheint. Aus diesem Grund wird angenommen, dass es eine Hölle nicht geben kann. Jesus verwendete einfach nur ein besonders starkes Bild, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen.

Menschen, die allen Worten Jesu glauben wollen, behelfen sich damit, dass sie über diesen Punkt möglichst nicht tiefer nachdenken. Die Existenz der Hölle ist aber gewöhnlich auch für sie ein unangenehmes, weil unaufgelöstes Problem.

Kritische Beurteilung: Es gibt keinen Beweis, dass es sich bei der Hölle nur um ein starkes Bild handelt.

Es gibt aber Hinweise darauf. Im Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus kommt der reiche Mann nach seinem Tod an einen Ort der Qual. Er bittet Abraham, seinen Finger in Wasser zu tauchen und ihn mit ein paar Tropfen zu erfrischen, da er „Qual in dieser Flamme“ leide. (Luk 16,20) Das ist zweifellos Bildersprache.

Jemand, der lebendigen Leibes verbrennt, wird nur noch vor Schmerz brüllen und sicher keine Unterhaltung mit irgendjemandem führen können. Schon gar nicht macht es Sinn, um ein paar Tropfen Wasser zu bitten, die in der Hitze des „Feuers“ sofort verdampfen.

Die Aussage, die bleibt, ist diese: der reiche Mann lebte ohne Gott. Er übte keine Barmherzigkeit, die Gott so wichtig ist. Er wurde wiederholt gewarnt, ließ sich aber nichts sagen. Nach dem Tod war es für ihn zu spät. Gott war nicht mehr an ihm interessiert. Er  erkannte nun, wie Gott wirklich war. Abgeschnitten von Liebe und Barmherzigkeit musste er weiterleben – ein äußerst quälender Zustand.

Die Hölle ist die mit Füßen getretene Barmherzigkeit. „Es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat.“ (Jak 2,13)

Die Warnung vor der Hölle ist die Botschaft, dass die Entscheidung eines Menschen gegen die Barmherzigkeit Gottes irgendwann als endgültig akzeptiert werden kann.

Jesus ist der Gottessohn, der aus der unsichtbaren Welt zu uns gekommen ist. Wenn wir an seine Göttlichkeit glauben, dann ist er der einzige, der uns unverfälscht und unfehlbar über die Wirklichkeit dieser Welt berichten kann. Menschen mag die Warnung vor einer endgültigen Trennung von Gott schockieren, sie mögen sie entrüstet ablehnen, doch sind sie schon in der unsichtbaren Welt gewesen ?

Das Konzept der Hölle gehört zum göttlichen Verantwortungsbereich. Das heißt, es ist sinnvoll, über einige wenige Aspekte nachzudenken, soweit sie durch die Heilige Schrift uns erschlossen werden. Die Bibel lässt ansonsten viele Fragen offen.

Die Warnung vor der Hölle ist der lauteste, brutalste Weckruf, der vorstellbar ist. Er spiegelt wieder, wie unvorstellbar taub der Mensch normalerweise gegenüber dem Reden Gottes ist. Die Lebensgeschichte Jesu zeigt uns dasselbe: manche Menschen bleiben stocktaub, obwohl sie nur die Hand auszustrecken und den Sohn Gottes zu berühren brauchten, der tatächlich zu ihnen gekommen ist. Es gibt Menschen, die darauf verzichten, ihn anzurühren, um gesund zu werden und stattdessen lieber seine Feinde werden. Die Barmherzigkeit zum Greifen nah – aber dennoch entscheiden sich Menschen gegen sie.

Wir beobachten manchmal eine paradoxe Wirkung des Weckrufs: Etliche Menschen fern von Gott, die eigentlich aufgerüttelt werden müssten, beachten ihn nicht – gerade weil sie die Warnung vor der Hölle für pervers halten. (Missionsparadox) Etliche Gläubige, die vor den Worten Jesu Respekt haben, werden durch diesen lauten Ruf zutiefst erschreckt und in sinnlose Furcht versetzt. (Sorgfaltsparadox)

Letzteres kann eigentlich nur geschehen, wenn die eigene Unvollkommenheit zum Zweifel am Heil führt, d.h. wenn die Theologie durch Werkgerechtigkeit verunreinigt und vergiftet worden ist.

Dabei wird von Jesus schon jedes ehrliche Bemühen um Barmherzigkeit gewürdigt. „Kommt und ererbt das Reich, das für euch vorbereitet ist, … denn … ihr habt mich gespeist, … getränkt, … bekleidet, … besucht. …was ihr dem Geringsten getan habt, dass habt ihr mir getan.“ (Mt 25,34 ff)

Ein Glaubensbekenntnis wird hier gar nicht abgefragt – erstaunlich. Die Glaubenslehre ist offenbar ein Teil der Barmherzigkeit Gottes, und weniger die Barmherzigkeit ein Teil der Lehre.

Was die Bibel auch sagt: Gott urteilt nicht im Alleingang, sondern beruft barmherzige Gläubige  als „Schöffen“ in sein „Richterkollegium“, damit sie nach dem Maßstab der Barmherzigkeit urteilen und für ihre Mitmenschen bitten. (Abraham bittet für die Heiden von Sodom: 1.Mo 18,23)

Atheistische Theologie kann den Warnruf vor der Hölle nicht ernstnehmen. Wenn Jesus ein Mensch war wie alle anderen auch, und nicht der Sohn Gottes, wie soll er dann etwas Maßgebliches über die unsichtbare Wirklichkeit wissen können? Die Warnung vor der Hölle kann man dann nur als ein zweifelhaftes Werbemittel ansehen. Sie ist eine primitive Maßnahme, um die Zuhörer einzuschüchtern – wobei nur die ganz Naiven und Leichtgläubigen sich beeindrucken lassen.

Die katholische Kirche hat folgerichtig die Angst vor der Hölle noch weiter in ihrer Lehre differenziert und zu einem Ablasssystem ausgebaut, um damit ihr Geschäft zu machen und um Gläubige in seelischer Abhängigkeit von ihrem System „geweihter Priester“ zu machen.

Die Allversöhnungstheologie behauptet, dass die Warnung vor der Hölle ein Schreckschuß war. Jesus hat mächtig mit dem Säbel gerasselt, aber es kommt nie zum Krieg. Es gibt keine Hölle noch irgendwelche Menschen, die ewig von Gott getrennt sein, d.h. verloren gehen könnten. Man kann sich deshalb auch den Aufruf zur Umkehr sparen. Gott führt jeden Menschen heim in sein himmlisches Reich – auch die, die Ihn zeitlebens abgelehnt und Barmherzigkeit mit Füßen getreten haben.

Die Frage bleibt: Wenn Jesus in der Tat der Gottessohn und in der unsichtbaren Welt zu Hause war, woher kann dann ein Theologe, der zweifelsohne nicht dort war, Vollmacht haben, Jesus zu verbessern ? Wie kann das Wort eines Menschen mehr Gewicht und mehr Bedeutung haben als die Worte Jesu, des Gottessohnes? Nicht Jesus spricht dann das mächtigste Wort, sondern der Theologe ist es, der der Menschheit das volle Heil aufschließt. Nicht auf das Wort Jesu, der warnt, sollen sich die Menschen verlassen, sondern auf ihn, den Theologen, der die Warnung für bedeutungslos erklärt.

Es bleibt das mulmige Gefühl, dass ein bösartiger Mensch, der sich auf die beruhigende Spekulation eines Theologen verlässt, am Ende doch der Dumme sein könnte. Der Theologe jedenfalls wird für eine Fehleinschätzung keinen Schadenersatz leisten. Und es dürfte auch keinen Zweck haben, sich am Tag des Gerichts auf ihn zu berufen.

Gott bietet seine Barmherzigkeit hier und heute an: „Heute ist der Tag des Heils.“ (Heb 3,13) Die Warnung vor der Hölle soll das taub gewordene Gewissen aufwecken – mehr nicht. Die Furcht vor ihr darf nicht das Leben des Gläubigen vergiften. Nicht die Angst, sondern Gottes Barmherzigkeit soll das Leben des Gläubigen prägen und verändern („zu„).

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7. Entkernung des Christentums:

Weltliche Lösungsversuche beinhalten alle den Verlust des christlichen Glaubens, der nach dem Neuen Testament unauflöslich an gewisse Grundwahrheiten („Heilstatsachen„) gebunden ist. Es bleibt allenfalls eine christlich scheinende Fassade übrig. Letztlich ist damit aber nicht nur die Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung und Neuschöpfung der Erde aufgegeben, sondern auch die Hoffnung, die biblische Botschaft in einer lebensfördernden Weise verstehen zu können. Gott erscheint nicht die Lösung zu sein, sondern vielmehr das Problem. Es geht nur noch darum, für die restliche Lebenszeit Distanz zu diesem Problem zu halten, um die Lebensfreude, die materielle Dinge bieten, ungetrübt ausschöpfen zu können. Zur Lebensfreude gehören auch religiöse Gefühle (Religiosität), die aber nicht im Rahmen einer Vertrauensbeziehung zu Jesus Christus entstehen, sondern durch Übungen, Rituale usw. hervorgerufen werden.

Das Ursache der Depression wird in der Sünden- und Opfertheologie der Bibel gesehen. Der grausame Tod Jesu wird nicht als Beweis der Liebe Gottes erkannt, sondern als wirksame Methode eingeschätzt, um den Menschen einzuschüchtern und für kirchliche Machtausübung empfänglich zu machen.

Wenn der Mensch so schlecht sei, dass er ohne das sadistische Blutopfer des Gottessohnes am Kreuz nicht von Gott angenommen werden könne, so sei die Fixierung auf das eigene Versagen, Entmutigung durch perfektionistische Normen, Selbsthaß, und Selbstverachtung vorprogrammiert. Deswegen wird angeboten, die Sünden- und Opfertheologie als menschliche Verirrung, als theologischen „Sündenfall“ zu betrachten.

Mängel: Es ist Tatsache, dass die Botschaft vom stellvertretenden Kreuzestod von vielen Gläubigen überhaupt nicht als Belastung, sondern als große Befreiung wahrgenommen wird und deshalb auch die Basis ihrer Glaubensfreude und -hoffnung ist. Eben weil der höchste Preis von Gott bezahlt worden ist, besteht kein Zweifel mehr daran, dass Gott dieses Opfer als völlig ausreichend anerkennen und die Schuld jedes Gläubigen als völlig bedeckt ansehen wird. Würde bei der Frage der Errettung die Güte des eigenen Lebens die entscheidende Rolle spielen, so wäre bei denen, die ehrlich und ungeschönt über sich nachdenken, ein quälender Zweifel kaum zu vermeiden. Besonders in der Todesstunde soll sich der Gläubige auf das stellvertretende Opfer voll und ganz verlassen können.

Destruktiv wird dieser Gedanke erst, wenn der Gläubige sich die Errettung durch zufriedenstellende Beachtung perfektionistischer Normen aneignen muss. (Werkgerechtigkeit).

Ständig schlechtes Gewissen kann nur vermieden werden, wenn Unvollkommenheit unter der Geduld Jesu steht (Mt 19,29) und keine Bedrohung zur Folge hat. Der Gläubige soll das Gute tun, weil es Freude macht, Gutes zu tun (Jo 4,34). Es ist schön, wenn Menschen lieb und brüderlich miteinander umgehen (Ps 133,1). Dies ist nur ehrlich, wenn es in völliger Freiheit und ohne den berechenden Blick auf das eigene Verdienstkonto geschieht. Auch hier hilft die Erkenntnis, dass sich niemand über den anderen stellen muss, sondern genauso wie der andere ganz von der Gnade Jesu lebt. Nicht nur Gott soll der Gläubige lieben, sondern auch „seinen Nächsten und sich selbst„. (Mt 22,26-40).

Auch die „Liebe zu sich selbst“ wird das „wichtigste Gebot“ genannt (V.36). Ist sie das tatsächlich, so müssen alle anderen Gebote so interpretiert werden, dass „die Liebe zu sich selbst“, die Selbstannahme nicht Schaden nimmt. Wenn in der „Beziehung zu Gott“ gar Selbsthaß (s.a. Tilman Moser, Gottesvergiftung, Frankf.am Main, 1980, S.10) oder Selbstverachtung entsteht, so wurde das wichtigste Gebot missverstanden oder nicht angemessen ernstgenommen.

Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft“ klagt Paulus (Rö 7,14). Er stellte fest, dass seine Gerechtigkeit nicht ausreicht, um sich dem gerechten Urteil Gottes zu entziehen. Als Pharisäer hatte er lange Zeit in dem Wahn gelebt, dass sie ausreiche. (Phil 3,9)

Wenn der Gläubige wirklich ganz und gar auf das Opfer Jesu vertrauen kann, dann hat er auch die Freiheit zu tiefster Selbsterkenntnis, ohne davon erdrückt zu werden. Weil er sich und sein Versagen ungeschönt betrachten kann, wird er barmherzig mit anderen dort, wo sie versagt haben. Der Pharisäer dagegen, der über den unglücklichen, in Schuld verstrickten Mitmenschen erhaben die Nase rümpft, hat überhaupt keine angemessene Selbsterkenntnis und daher auch keine Gotteserkenntnis.

Sich selbst realistisch einschätzen können heißt aber nicht, dass der Mensch zum Guten unfähig sei und sich daher selber als Ausgeburt der Hölle hassen und verabscheuen müsse. Es gibt zweifellos dumme und destruktive Theologie, die solches lehrt.

Doch der Wunsch, fair, barmherzig und aufrichtig zu sein, gehört zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen und ist ihm von Anfang an eingeschaffen. (1.Mo 1,27) Deshalb kann auch ein Mensch, der sich noch nicht zum Glauben an Jesus Christus entschlossen hast, Gutes tun und einen guten Charakter haben, was Jesus ausdrücklich lobend anerkennt (Mt 11,42 / 25,40 / Lk 10,33 / vgl auch Rö 2,27-29!) Dann sollten es seine Gläubigen auch lobend anerkennen können.

Alles andere wäre sehr unfair. In der Nazi-Zeit gab es viele an Jesus Christus Gläubige, die sich bei den Nazis anbiederten, dem Führer zujubelten und für das Leid der Juden kein Mitgefühl hatten. Beispiel: In Artikel 7 der Satzung des evangelikalen Mülheimer Verbandes wurde Adolf Hitler gar als Glaubensvorbild gepriesen und mit Moses verglichen: so wie Mose einst die Israeliten aus Ägypten herausgeführt hätte, so würde Hitler die Juden aus Deutschland „herausführen“. (Quelle: Junghardt, Adelheid, et.al., Ruhrfeuer. Erweckung in Mülheim an der Ruhr 1905. 1905 – 2005 Christus-Gemeinde Mülheim, Eine Chronik über die 100-jährige Geschichte der ersten Gemeinde des Mülheimer Verbandes, 2004, hrsg. von der Christus-Gemeinde Mülheim, Uhlandstr.25, 45468 Mülheim an der Ruhr, Seite 146.)

Umgekehrt gab es neben gläubigen Menschen auch Nicht-Christen, die Unrecht und Unbarmherzigkeit nicht ertragen konnten und sich für die Verfolgten unter Lebensgefahr einsetzten. Man kann sich der Auffassung Dietrich Bonhoeffers nur anschließen, dass diese Nicht-Christen – ohne es zu wissen – Jesus viel näher standen als die erste Gruppe mit ihrem christlichen Lippenbekenntnis. „Glücklich sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ (Mt 5,7)

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Artikel aktualisiert am 19.09.2023

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