Leider hält man in zahlreichen evangelikalen Gemeinden unbeirrt an der Auffassung fest, der Hebräerbrief richte sich nur an Judenchristen, die in Gefahr standen, den christlichen Glauben aufzugeben und wieder zum jüdischen Tempelkult zurückzukehren. Vertreter dieser Sichtweise sind John Darby [1], Adolf Schlatter [2] sowie August Daechsel [3]. Diese weit verbreitete Sichtweise darf als oberflächlich und widerlegt gelten, wird sich aber weiter hartnäckig halten, weil sie die Belastung des Gewissens durch die maßlosen Drohungen des Hebräerbriefes (endgültige Verdammung trotz Reue zu Lebzeiten) ohne tieferes Nachdenken entschärfen hilft. Wie soll es indes einen anderen „Ausweg“ geben, wenn die längst überfällige Kritik an der evangeliumsfeindlichen Werkgerechtigkeit im Hebräerbrief als Angriff auf die Autorität der Bibel eingestuft wird?
Diese Ansicht ist nach den aktuellen Erkenntnissen der Bibelwissenschaft nicht haltbar. Schon die konservative Wuppertaler Studienbibel ist ihr entgegengetreten. Auch Martin Luther zweifelte nicht an der Gültigkeit des Hebräerbriefes für alle Christen.
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Dort heißt es: „Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine heidenchristliche Gemeinde. Der Verfasser warnt nämlich in 3,12 ganz allgemein vor einem Abfall vom Glauben und nicht vor einem Rückfall ins Judentum. Außerdem nutzt er in 6,1ff. Topoi der traditionellen jüdischen Heidenmissionspredigt. Auch der schriftgelehrte Charakter des Briefes spricht nicht gegen eine Einordnung der Adressaten als heidenchristlich. Schließlich war das Alte Testament die Heilige Schrift aller Christen. Auch die Auslegungsmethoden des Verfassers dürften den Adressaten vertraut sein. Letztlich wird man aber sagen müssen, dass das Verhältnis Judenchristen – Heidenchristen im Hebräerbrief keine Rolle spielt. Der Verfasser spricht die christliche Gemeinde als ganze an.“
Die Wuppertaler Studienbibel schreibt [4]:
Ein weiteres Problem entsteht im Hebräerbrief, dass wir seine Absicht und sein Ziel nicht mit Sicherheit benennen können. Ganz gewiss geht es im Hebräerbrief um Christen, die in Müdigkeit und Enttäuschung zum Abfall neigen. Nun hat man gefolgert: Jeder Abfall vom Glauben schlisst die Frage ein „Abfall – wohin?“ Die Antwort scheint klar: zurück ins Judentum! In manchen Kreisen ernster Christen hat man betont, der Hebräerbrief sei ausschließlich an Judenchristen gerichtet. Man meinte, es handle sich in Hbr 8,4 und 9,6 um eine Warnung an rückfällige Juden, die vom sichtbaren Tempelkult in Jerusalem beeíndruckt waren, und sich innerlich von der Gemeinde der Gläubigen lösten; deshalb konnten die Warnungen und Mahnungen des Hebräerbrief für „Christen aus den Heiden” nicht zutreffen.
Wir können dieser Überzeugung aus verschiedenen Gründen nicht folgen: Im Jahre 70 wurde der Tempel in Jerusalem zerstört, der jüdische Staat vernichtet, der jüdische Kult verboten. Aus der Tatsache, dass die Zerstörung Jerusalems im Hebräerbrief nicht erwähnt wird, darf man nicht schlíeßen, der Brief sei vor dem Jahre 70 geschrieben worden. Aus den Worten Hebr 8,4 und 9,6 f, in denen vom Opferdienst in der Zeitform der Gegenwart gesprochen wird, Iässt sich nicht nicht entnehmen, der Verfasser an das Opfer im Tempel denkt, in dieser Art schreibt auch der Presbyter Clemens an die Korinther, wenn er das AT auslegt, obgleich er er doch sicher weiß, dass der Tempel fast drei Jahrzehnte zuvor bereits in Flammen aufging. Die Worte in Hbr 2, 3 und 13, 7 legen uns vielmehr nahe, den Hebräerbrief nach 70 n. Chr. zu datieren. Damit wäre er in einer Zeit entstanden, in der durch die Zerstörung des Tempels jeder Opferdienst unmöglich gemacht worden war. Außerdem – wie schon gesagt – beobachten wir, dass den geschichtlichen Gegebenheiten des jerusalemischen Tempels und seiner Ordnungen keine Bedeutung zugemessen wird. [5]
Es geht im Hebräerbrief offensichtlich gar nicht um den Gegensatz von Judenchristen und Heidenchristen. Sein Thema ist nicht die innere Loslösung rückfälliger Judenchristen vom jüdischen Opferdienst, sondern allein die Herrlichkeit des ewigen Hohenpriesters Jesus Christus. Zudem haben wir in den nicht-jüdischen Quellen keinen einzigen Hinweis darauf, dass gläubig gewordene Juden von Christus abgefallen und wieder wieder zum Opferkult zurückgekehrt sind. Der Hebräerbrief zeigt das Verständnis richtiger Auslegung des AT… Er macht deutlich, dass nur auf dem Weg über das AT Jesus Christus recht verstanden werden kann, aber umgekehrt auch das AT nur durch Jesus Christus seinen wahren Sinn empfängt.
Nach dem Zeugnis des NT darf es in der Gemeinde keinen wesenhaften Unterschied zwischen Judenchristen und Heidenchristen geben, alle sind Glieder des einen Leibes, denen das Wort Gottes in gleicher Weise gilt (Eph 2, 14-15). …..
[1] Vgl. John Darby, Betrachtungen über das Wort Gottes, Epistel an die Hebräer, Elberfeld o.J., S.59 ff.
[2] Adolf Schlatter, Erläuterungen zum Neuen Testament, Die Briefe des Petrus, Judas, Jakobus, der Brief an die Hebräer, Calwer Vereinsbuchhandlung Stuttgart, 1938, 6. Auflage, S,220 ff. Man beachte auch Schlatters völlig verfehlte Erklärung der unvergebbare Sünde, vor der ja im Hebräerbrief mehrfach gewarnt wird. Solche gefährlichen Fehlleistungen kommen zustande, wenn man quasi „vom grünen Tisch aus“ allein auf Dogmen gestützt meint seelsorgerliche Beratung geben zu können, dabei aber von den Lebens- und Leidenswegen der Betroffenen kaum oder gar keine Kenntnis hat. Gelehrsamkeit und theologische Theorie genügt eben nicht.
[3] August Daechsel, Das NT mit in den Text eingeschalteter Auslegung, A.Deichertsche Verlagsbuchhandung Nachf. Leipzig, Vorwort zum Hebräerbrief)
[4] Fritz Laubach Der Brief an die Hebräer, 1983, Wuppertal, S. 21
[5] J. Cambier urteilt: „Wir haben es mit einer christlich-charismatischen Exegese des LXX-Textes und nicht mit historischen Erinnerungen zu tun.“ (bei A.Robert / A. Feuillet, Einleitung in die Heilige Schrift, Bd.2, Wien 1964, S.485.