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Viele Gläubige sind der Ansicht, dass die Bibel sich selbst als „irrtumslos“ bezeichnet. Dabei setzen sie voraus, dass die Feststellung der Irrtumslosigkeit der Bibel sie am besten vor dem Verlust des Glaubens schützt.
Bibelstellen, die zum Beweis zitiert werden, sind z.B.
Das Gesetz des Herrn ist vollkommen. (Ps. 19,8)
Dein Wort ist nichts als Wahrheit. (Ps 119, 160)
Alle Reden meines Mundes sind gerecht – es ist nichts Verkehrtes darin. (Spr 8,8)
Die Schrift kann nicht gebrochen werden (Joh 10,35)
Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. (Mt 5,18)
Ich glaube allem, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht. (Apg 24,14)
Wir reden nicht in Worten, die menschliche Weisheit lehrt, sondern in Worten, die der heilige Geist lehrt. (1.Kor 2,9)
Alle von Gott inspirierte Schrift ist nützlich. (2.Tim 3,16)
Die genannten Bibelverse verwenden sehr oft das Wort „alle„, weshalb bibeltreue Gläubige sie als Beweis für die ausnahmslose göttliche Qualität „aller“ Sätze in der Bibel zitieren.
Da steht es doch – klar und deutlich. Aber sind das wirklich zwingende Argumente, „Beweise“?
Jeder Bibelleser sollte sich schon die Mühe machen und prüfen, ob andere Bibelworte eine noch passendere Deutung nahelegen. „Andererseits steht geschrieben…“ (Luk 4,4). Das ist die indiskutable Grundlage jeglicher Bibelauslegung.
Oder ist Gott verpflichtet, uns die Bibel so zu präsentieren, wie wir sie uns wünschen?
Machen sich die Verteidiger der Irrtumslosigkeitsdoktrin nun die Mühe dieser Überprüfung? Eben NICHT.
„Haben sie denn nie gelesen“ (Mt 21, 16 + 42), dass das „Zeugnis über sich selbst“ als Beweis nichts taugt? Jesus sagt es so gar über sich selbst: „»31 Wenn ich mein eigener Zeuge wäre, dann wären meine Worte nicht glaubwürdig. 32 Aber es gibt einen anderen Zeugen, der für mich spricht“ (Joh 5,31-32) Es geht hier darum, was „vor Gericht“ bewiesen werden kann, sodass es in Gegensatz zur Behauptung tritt. Entsprechend taugen Aussagen der biblischen Dokumente über sich selbst nicht als Beweis. Das gilt für alle Dokumente auf der Welt.
Nehmen wir doch das Beispiel einer Versicherungspolice, die verspricht, beim Eintritt eines Versicherungsfalls den Schaden auszugleichen. Das steht schwarz auf weiß im Vertrag. Dem Inhaber der Versicherungspolice kommen plötzlich Zweifel. Wird die Versicherung wirklich zahlen oder sich drücken? Man hat so einiges gehört. Dann dreht er das Schriftstück um und findet auf der Rückseite noch einen weiteren Vertragspunkt. Da steht geschrieben: „Hiermit wird bescheinigt, dass diese Versicherungspolice zuverlässig ist.“ Sind dadurch seine Befürchtungen beseitigt? Ist die Zuverlässigkeit der Urkunde dadurch größer geworden? Tatsächlich? Natürlich nicht. Auch wenn er die Urkunde an die Versicherung schickt und sie sich dreimal abstempeln lässt. Es gilt unverändert der Satz: das „Zeugnis über sich selbst“ ist kein Beweis. Anders ist es, wenn man Leute trifft, die bereits gute Erfahrungen mit der Versicherung gemacht haben, und bezeugen, dass die Vertragspflichten tatsächlich erfüllt worden sind.
Kann ein Mensch für die Bibel ein solches Zeugnis abgeben? Ganz gewiss nicht, denn niemand deckt alle Aussagen der Bibel mit seiner Erfahrung bzw. Beobachtung ab.
Deshalb besagen die Aussagen zur Zuverlässigkeit des Wortes Gottes lediglich, dass ihr Verfasser Vertrauen zum Wort Gottes hatte. Er kann und will andere zum Vertrauen aufrufen und ermutigen. Auch will er Gott dafür danken und loben, für das Vertrauen, das ihm geschenkt worden ist. Das ist alles. Einen Beweiswert haben seine Aussagen nicht. Die genaue Auswertung weiterer Bibelstellen legt vielmehr – wie leicht zu zeigen ist – den Gedanken nahe, die die Irrtumslosigkeitsdoktrin nicht stimmen kann – sondern lediglich das Ergebnis einer kurzschlüssigen religiösen Verlustangst ist.
Wenn nun aber „bibeltreue“ Theologen uns weismachen wollen, dass ihre kurzschlüssige Sicht über alle Prüfung erhaben sei, wenn sie behaupten, dass der Gläubige bei den oben genannten Aussagen nicht das Recht hätte zu prüfen, was andere Bibelstellen dazu sagen, so missachten sie das Gebot „Prüfet alles!“ (1.Thess 5,21), ein Gebot, über das man sich schon gar nicht hinwegsetzen sollte, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die bisherige Deutung Schaden verursachen könnte.
Es waren fehlbare und sündige Menschen, die die Artikel der Chicago-Erklärung formuliert, haben. Artikel, die entweder hochrangigen Bibelworten direkt oder klar ersichtlichen Zusammenhängen widersprechen. („Sollte Gott gesagt haben…) Schon das Vorwort dieser Erklärung missachtet das Gebot Jesu, dass Bibellehrer sich nicht mit theologischen Titeln schmücken sollen.
Wieso haben sie dann solchen Einfluss? Weil sie den Gläubigen blinde Angst einjagen mit der Behauptung, dass eine Prüfung noch größeren Schaden anrichten würde, nämlich den Verlust des eigenen Glaubens zur Folge hätte. Als ob es keinen lebendigen Gott gäbe, der sich heute bezeugt, der auf Vertrauen antwortet und Menschen innerlich erneuert!
Als ob der Glaube stehen und fallen würde mit der Frage, ob man genau hinguckt! Kinder, die von frühester Jugend an lernen können, dass Gott seine unfehlbare Wahrheit in die Hände unvollkommener Menschen gegeben hat und diese Wahrheit durch mitgelieferte Reparaturinstrumente vor Verfälschung schützt, haben diese Angst nicht, obwohl Liebe zur Heiligen Schrift und Glaubensfreude vorhanden ist.
Die Befürchtung der evangelikalen „Schriftgelehrten“ mag auf eingebildeten Glauben sicher zutreffen Auf jemand, der auf biblische Worte mit Vertrauen reagiert, danach handelt, und den Segen und die Qualität dieser Bibelworte erfährt, sicher nicht. Für das lebendige Gotteswort reicht der Qualitätsbeweis völlig aus!
Welches Ergebnis hat nun die gründliche Prüfung mit Hilfe anderer Bibelstellen?
Wir finden wenigstens drei unwiderlegbare Gegenbeweise in der Heiligen Schrift!
1. Verfechter der Irrtumslosigkeitsdoktrin nehmen an, dass das biblische Wort „alle“ gleichbedeutend ist mit „mathematisch genau 100%“. Beweisbar ist hingegen das Gegenteil: Der biblische Pauschalstil lässt bei quantitativen ausschließlich erscheinenden Angaben (alles, nichts, jeder, alle) grundsätzlich seltene Ausnahmen zu (Beispiele) Das heißt: die biblische Überlieferung hat einen hohen Grad an Zuverlässigkeit. Es gibt jedoch auch seltene Ausnahmen, die der Übung des Urteilsvermögens dienen können.
2. Nachweislich gibt es auch im Alten Testament „Übungstexte“, d.h. Texte mit offensichtlichen Mängeln zum Üben der Urteilskraft. Jesus selbst kritisiert ja die Scheidungsregelung im als Zugeständnis an die Hartherzigkeit der Menschen (Mt 19,8). Aber nicht nur Jesus. Maleachi macht den Gläubigen des alten Bundes klar, dass schon von Anfang an jeder Gläubige sein Urteilsvermögen zu gebrauchen hatte, um zu erkennen, wie übel das Verstoßen der Ehefrau war. „Nicht einer von euch hat das getan, in dem noch ein Rest von Geist war“ (Mal 2,15) Obwohl Mose für die Erfüllung seines Gesetzes Segen verheißen hatte, warnte Maleachi, dass sich jeder, der die „Erlaubnis“ zur Scheidung (Deu 21,14 / 24,1-3) nutzt, sich damit unter einen Fluch begeben würde. Wie kann man da die Erlaubnis zur Scheidung „irrtumsloses und vollkommenes Gotteswort“ nennen? Dennoch wird im Art. V der Chicago-Erklärung unverfroren behauptet, dass eine spätere Offenbarung nicht einer früheren widersprechen könne.
Luther hat das hebräische Wort „tamim“ in Ps 19,8 mit „vollkommen“ übersetzt. Es kann aber ebenso gut bedeuten: „für seinen Zweck vollständig geeignet„. Das passt gut zu einer Bibel, die einerseits und überwiegend zuverlässige Information und Wegweisung liefert, andererseits aber auch manche Texte enthält, die mangelhaft sind, damit der Gläubige hieran sein geistliches Urteilsvermögen üben kann. Weiter kann das Wort „tamim“ auch bedeuten, dass die Heilstatsachen mehrfach und daher mehr als zuverlässig bekräftigt worden sind. Diese Eigenschaft der Redundanz könnte man als „betriebssicher“ übersetzen)
3. Der Satz „Alle Schrift ist von Gott inspiriert und …nützlich“ (2.Tim 3, 16) spricht nicht für die Irrtumslosigkeitsdoktrin, sondern gegen sie. Es gibt – wenn auch nur selten vorhanden – sehr problematische Aussagen in der Bibel, die in der Kirchengeschichte immer nur schädlich gewirkt haben, ohne dass es jemals gelang, eine nützliche Wirkung überzeugend nachzuweisen.
Besonders der letztgenannte Beweis ist ein sehr zuverlässiges Gegenargument, dessen Widerlegung äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich sein dürfte.
Auch für die Lehrsätze der Irrtumslosigkeitsdoktrin, die Bibel und Gott geradezu gleichsetzen, gilt dasselbe: sie sind nicht nur sehr leicht zu widerlegen, sondern – was auch leicht nachzuweisen ist – sie schaden dem Glauben!
Der Hinweis auf berühmte Kirchenlehrer, irgendwelche Väter der Glaubens, bewährte Glaubenshelden in der Kirchengeschichte, die auch an das Ideal der Irrtumslosigkeit aller Sätze in der Bibel geglaubt und es vertreten und vehement verteidigt haben, schließt nicht zwingend aus, dass sie trotz aller ihrer Verdienste über diesen Punkt zu wenig gründlich nachgedacht und sich deshalb geirrt haben.
Auch der Hinweis, dass Jesus stets das AT bestätigt und nie offen kritisiert habe, ist kein Beweis. Ob das wirklich so war, können wir nur wissen, wenn uns alles, was er sagte, bekannt ist. Joh 20,25 räumt an, das weitaus der größte Teil der Worte Jesu nicht aufgeschrieben wurde und so sind überraschende Aussagen durchaus möglich. Paulus wusste z.B., dass „die Gläubigen die ganze Welt, ja sogar Engel richten werden“ (1.Kor 6,2-4), obwohl das nirgends in der Bibel erwähnt wurde. Wir wissen auch, dass Jesus manche Dinge nur im engsten Kreis (Joh 14-17) besprach, manches sogar nur mit den dreien (Mt 17,2 ff), die auch in Gethsemane bei ihm blieben. Vieles sollten die Jünger erst viel später (nach dem Pfingstwunder? oder noch später?) erfahren, weil sie es noch nicht verkraften konnten. (Joh 16,12) Wenn wir dabei gewesen wären, wie hätten wir Jesus mit unseren Fragen gelöchert! Es ist auffällig, wie viele der sinnvollen Fragen, die Gläubige heute haben, nicht in der Bibel beantwortet werden.
Warum wird Jesus nicht zu einer einzigen der Bibelstellen befragt, deren Destruktivität so offensichtlich und für den Gläubigen verstörend ist? Hat man darüber wirklich nie gesprochen? Wer soll das glauben? Offensichtlich war es den Verfassern des neutestamentlichen Kanons ein Anliegen, gegenüber der jüdischen Konkurrenz möglichst geschlossen aufzutreten, um wenig Angriffsfläche zu bieten. Die Evangelien bieten deshalb den Eindruck einer rigorosen und stark verkürzten Auswahl.
Dennoch tauchen vereinzelt immer wieder Indizien für einen Gegensatz zwischen Jesus und der biblischen Überlieferung auf: „Sie kamen in ein Dorf der Samariter… doch man nahm ihn nicht auf, weil er die Absicht hatte, nach Jerusalem zu ziehen. Als die Jünger Jakobus und Johannes das sahen, fragten sie: »Herr, willst du, dass wir aussprechen, es solle Feuer vom Himmel fallen und sie verbrennen, so wie es auch Elia getan hat?« Er aber verbot es ihnen mit den Worten: Wisst ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?“ (Luk 9,52-55) Und der Apostel Johannes stellt fest: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben worden, aber die Gnade und Wahrheit ist erst durch Jesus Christus gekommen.“ (Joh 1,17) Es ist auffällig, wie oft er diesen Gegensatz betont. Die Gegner Jesu benennt er in fast jedem Kapitel ganz pauschal als „die Juden“ (Joh 1,19 / 2,18 / 5,10 / 6,41 / 7,1 / 8,22 / 9,18 / 10,19 / usw.), so als ob er sich selbst gar nicht mehr als Jude betrachtet. So völlig hat er mit der früheren Prägung abgeschlossen, so streng ist dieser Gegensatz, dass heute die theologische Wissenschaft es für gesicherte Erkenntnis hält, dass der Jünger Johannes trotz der ausdrücklichen Erwähnung in Joh 21,24 gar nicht der Verfasser des Evangeliums sein könne, sondern dass dieses eine spätere antijudaistische Gemeindebildung sei. Welche Gründe es für die Auswahl gab, die wir heute in Form des NT vor uns sehen, ist uns also gänzlich unbekannt. Deswegen hat eine Aussage, was „Jesus stets getan“ haben soll, keinen Beweiswert. Es bleibt eine Behauptung.