Kann man die Bibel „ohne Brille“ lesen? Ohne eine vorgefasste Meinung über sie? Schwer vorstellbar. Denn wir alle benutzen – bewusst oder unbewusst – Bibelbrillen und Bibelverständnisse, die prägen, wie wir Gott und die Bibel sehen. Wenn man schon durch eine Brille schauen muss… dann sollte man verschiedene Brillen vergleichen und die am besten passende nehmen dürfen…
Aber das ist nicht so einfach, wenn man in einer Glaubensgemeinschaft integriert ist. Dort wird es gern gesehen, wenn alle die gleiche Brille tragen…
Die geistige Brille für das Bibellesen heißt „Schriftverständnis“ oder „Bibelverständnis“. Damit werden grundsätzliche Annahmen über qualitative Eigenschaften der Bibel bezeichnet, an denen Menschen festhalten, damit ihr Glaube stabil bleibt.
Wir stellen euch hier 6 typische Sorten von „Brillen“ vor. Welche Vorteile und Nachteile mögen sie haben? Unsere Leser sind eingeladen, hierzu ihre Erkenntnisse mitzuteilen…
1. Selektives, kindliches Bibelverständnis („Kinder-Bibel“ ist unfehlbares Gotteswort)
2. Buchstabenorientiertes Bibelverständnis (Verbalinspiration, Irrtumslosigkeit der Bibel, „Bibeltreue“)
2a. Buchstabenorientiertes Bibelverständnis ohne Hebräerbrief (lutherische Version der „Bibeltreue“)
3. Beziehungsorientiertes Bibelverständnis („Christustreue“)
4. Provisorisches Bibelverständnis (Spirituelle Resonanz)
5. Prioritätenorientiertes Bibelverständnis („Bibeltreues Update“)
6. materialistisches Bibelverständnis
1. Selektives, kindliches Bibelverständnis („Kinder-Bibel“ ist unfehlbares „Gotteswort“)
Gläubige stellen im Bewusstsein ihrer seelsorgerlichen Verantwortung Texte der Bibel zu einer „Kinderbibel“ zusammen, die geeignet erscheinen, zum Glauben an die wesentlichen Inhalte des christlichen Glaubens („Heilstatsachen„) hinzuführen. [1]
Stärken: ermöglicht jedem Gläubigen – ungeachtet seiner intellektuellen Fähigkeiten – einen vollwertigen Zugang zum Glauben. Missbrauchsgeschädigten Gläubigen, für die das Lesen der Bibel eine Überforderung ist, wird durch betendes Lesen der Kinderbibel der Zugang zu neuer Glaubensfreude erleichtert.
Schwächen: Abhängigkeit der Gläubigen von der Fähigkeit des Auswählenden, evt. Destruktivität in einem problematischen Text wahrzunehmen und zu entschärfen.
2. „Buchstabenorientiertes“ Schriftverständnis, Verbalinspirationsdoktrin oder Irrtumslosigkeitsdoktrin („Bibeltreue“)
(u.a. beschrieben in der „Chicago-Erklärung“ von 1978). Die ganze Bibel ist das Wort, das Gott an den Menschen richtet (ausgenommen die Stellen, die ausdrücklich als Meinung oder Zitat gekennzeichnet sind). Weil Gott ohne Fehler ist, deshalb hat auch die Bibel die göttliche Eigenschaft der Fehlerlosigkeit. Die Bibel selbst bezeuge vielfach, dass sie selbst unfehlbar und irrtumslos sei…
Enthielte die Bibel einen einzigen Fehler oder Widerspruch, so wäre ihre göttliche Herkunft zweifelhaft. Der Glaube würde durch Zweifel untergraben. Der Gläubige ist verpflichtet, sich zur Fehlerlosigkeit der Bibel zu bekennen, um Zweifel und Unglauben einzudämmen. Andernfalls entfernt er sich von Gott bzw. missachtet seinen Willen. Zweifel an (selten vorkommenden) destruktiv erscheinenden Bibelstellen ist nicht erlaubt – selbst wenn sie heute nicht mehr gültig sein sollten, waren sie doch zu einer früheren Zeit Ausdruck des „vollkommenen“ (Ps 19,8), irrtumslosen Gotteswillens. [2]
Stärken: erzeugt schnell Sicherheits- und Geborgenheitsgefühle, sowie []ein Bewusstsein der Privilegierung und Exklusivität (Erwählung), ist ohne tiefergehende Erklärung vermittelbar, erspart gedanklichen Aufwand durch Einübung von Vermeidungsstrategien der selektiven Wahrnehmung, des Gedankenstopps und der Ablenkung, erzeugt eine ökonomische Nische, d.h. Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten für Führungspersonen, die sich verpflichten, die speziellen Bedarfe nach einem geschützten Raum für „bibeltreue“ Belehrung abzudecken.
Schwächen: schützt mangelhaft vor überfordernder Bibellehre („Giftige Theologie„), die das „tötende Potential des Buchstabens“ (2Kor 3,6b) unterschätzt, fördert irrationale Ängste vor korrigierenden Informationen und damit die Neigung zur Abschottung und Ignoranz, Lähmung des Urteilsvermögens durch Ignorieren und Leugnen von widersprüchlichen Aussagen,.
Diese Sicht erzeugt eine soziale Distanz gegenüber allen, die aus gedankenlos übernommenen Vermeidungsstrategien keine Sicherheit gewinnen können. Sie kann im ungünstigsten Fall für die charakterliche Entwicklung hinderlich sein: übersteigerte Selbstwahrnehmung, selbstgerechtes Pharisäertum, Neigung zur Ideologisierung, Manipulation, Bevormundung und Täuschung zwecks Mehrung religiösen Einflusses.
Oft führt sie dazu, dass sich ein Mitgefühl für missbrauchsgeschädigte Gläubige nicht entwickeln kann. Auch diskreditiert sie damit den christlichen Glauben bei vielen Außenstehenden.
Ein gravierender Mangel ist die Begründbarkeit nur durch Zirkelschluss: Die Zeugnisse über die Vollkommenheit der Schrift in der Bibel (Ps 19,8 / 119,160 / Spr 30,5) werden als „Beweis“ für ihre Unfehlbarkeit gewertet. Ein Beweis? Woher wissen wir denn, dass diese lobenden Worte als Feststellung einer logischen Grundlage der Dogmatik d.h. im juristisch-mathematischen Sinne gemeint sind? Wodurch wird denn die Möglichkeit zwingend ausgeschlossen, dass sie nicht vielmehr wie ein Lob gemeint sind. So etwa gemeint wie ein Lob, das ein Liebender begeistert über seine Geliebte ausspricht, ein Liebender, der nur auf ihre Vorzüge schaut und über ihre weniger ins Auge fallenden Mängel hinwegsieht?
2a. „Buchstabenorientiertes“ Schriftverständnis, lutherische Version der Bibeltreue, bezogen auf einen Bibelkanon ohne Hebräerbrief
Annahmen wie unter Punkt 1. Die ganze Bibel ist das Wort, das Gott an den Menschen richtet – ausgenommen die Stellen, die ausdrücklich als Meinung oder Zitat gekennzeichnet sind. Weil Gott ohne Fehler ist, hat auch die Bibel die göttliche Eigenschaft der Fehlerlosigkeit.
Der erst sehr spät (frühestes erst nach 140 n.Chr.!) zum Kanon hinzugefügte Hebräerbrief gilt entsprechend Martin Luthers Warnung nur als teilweise inspiriert. Insbesondere seine Ankündigung im 3.und 4. Kapitel, dass bei vorübergehendem Unglauben trotz tätiger Reue das Heil verloren gehen kann, ist eine exzessive Drohung, die für sensible, sorgfältige Christen immer wieder eine schwere Anfechtung war und ist. Luther hat diese Drohung als unvereinbar mit den Verheißungen Gottes, als Verfälschung des ursprünglichen Evangeliums bezeichnet. [3]
Paulus hatte vor der Möglichkeit einer späteren Verfälschung des ursprünglichen Evangeliums eindringlich gewarnt (Gal 1,8 ff). Er betonte, dass die Gemeinde sogar bei den höchsten Autoritäten des Christentums wachsam bleiben müsse (übles Beispiel des Apostels Petrus in Gal 2, 11 ff)
Stärken: erzeugt Sicherheits- und Geborgenheitsgefühle durch Anknüpfung an simple und bereits eingeübte Vermeidungsstrategien der selektiven Wahrnehmung, des Gedankenstopps und der Ablenkung. Entscheidender Gewinn: Vermeidung der völligen Verzweiflung von Gläubigen, die befürchten, in irgendeiner Weise „zu viel“ gesündigt oder zu wenig geglaubt zu haben.
Schwächen: wie oben.
3. Beziehungsorientiertes Schriftverständnis. („Christustreue“)
Die Bibel enthält das Wort, das Gott an den Menschen richtet. In Angelegenheiten der Beziehung zwischen Gott und Mensch wurde die Information zuverlässig übertragen. Zugleich hat Gott zeitbedingte Anschauungen toleriert, die späteren Erkenntnissen nicht standhalten müssen. Der Gläubige ist aufgerufen, seinen Glauben an den Beziehungswahrheiten festzumachen. [4]
Stärken: Sinnvolle Prioritätensetzung: Beziehung zu Jesus wichtiger als der Streit um Detailfragen.
Schwächen: Verleitung zu Überbewertung und zur unkritischen Akzeptanz von vorläufigen Ergebnissen der Wissenschaft, unklare Abgrenzung zu selbst definierter Ethik, die ohne gründliche Qualitätsprüfung auskommt.
4. Provisorisches Bibelverständnis (spirituelle Resonanz).
Ein angemessenes Bibelverstehen ist nur möglich, wenn der Gläubige bereit ist, seine eigene religiöse Prägung auf den Prüfstand zu stellen, und zwischen religiöser Prägung und der Orientierung am ewiggültigen Maßstab der Liebe und Wahrheit zu unterscheiden.
4.1. Die Einwirkung von Existenzangst auf die frohe Botschaft
Wieviel Bibelverstehen ist möglich ohne Selbstreflexion? Offenbar wenig! So erfahren wir es jedenfalls aus der Bibel, die berichtet, dass der Apostel Petrus nicht nur ermahnt sondern sogar öffentlich bloßgestellt werden musste, weil er aus Menschenfurcht faule Kompromisse einging. (Gal 2,11 ff) Und das geschah kurze Zeit nach seiner einzigartigen Pfingsterfahrung ! Was also gibt uns Grund zu der Annahme, dass ähnliches Versagen bei den Verfassern biblischer Texte ausgeschlossen werden kann? Was gibt uns Grund zu der Annahme, dass die Verfasser trotz bester Absichten nicht von einem ähnlichen Mangel an ehrlicher Selbstreflexion betroffen waren? Hat die Angst, Mitglieder und Einfluss zu verlieren, wirklich nicht auf Erinnerung und Verständnis der ursprünglich mündlichen und verlässlichen Gottesoffenbarung eingewirkt? Durch die Jahrhunderte ist ein ähnliches Verhalten bei so ziemlich allen Gläubigen Normalität.
Die Urzelle der Christenheit war über Jahrhunderte mit stärkster Repression und Bedrohung konfrontiert. Sie war ständig der Versuchung ausgesetzt, den Mitgliederschwund durch schärfste Drohungen (ewige Höllenqual!) etwas einzudämmen (Mt 10,28!). Dafür liefert der frühestens ca. 140 n.Chr. verfasste Kanon Muratori den Beweis, der damals noch die sadistische (und gottlob später wieder entfernte) Pseudo-„Offenbarung des Petrus“ noch zum Neuen Testament hinzufügte.
Mitgliederschwund ist auch heute der Alptraum der Vertreter einer fehlerlosen Bibel. Auch sie haben oft bei der Wahl ihrer Gegenmaßnahmen wenig Skrupel. Auch sie erzeugen Angst vor dem Schwund des Glaubens und der Gemeinde. Wieder und wieder behaupten sie, dass schon der kleinste Zweifel an einem Satz der Bibel einen „Dominoeffekt“ hätte, wie eine Lawine anschwellen und den Glauben immer fragwürdiger machen würde.
Haben sie recht? Wer genauer hinschaut, stellt fest: diese Befürchtung trifft nur auf liberal-materialistische Hochschulen zu. Dort ist ein Bezug zum lebendigen Glauben gar nicht erwünscht. Dozenten stehen unter der Erwartung, sich mit Bibelkritik profilieren zu müssen. Menschen dagegen, die echte Glaubensfreude erfahren haben, sind sehr daran interessiert, keinen Segen zu verpassen, der durch Bibelworte vermittelt werden könnte. Sie stellen allerdings mit der Zeit auch fest, dass es vereinzelt Bibelworte gibt, die nie irgendwelchen Segen vermittelt, sondern – im Gegenteil – im Laufe der Geschichte – verheerende Auswirkungen gehabt haben.
4.2. Die Notwendigkeit der Rekonstruktion der ursprünglich mündlichen Botschaft
Ein starkes Indiz für eine nachträgliche Glättung und Verformung der ursprünglichen Aussagen ist die Tatsache, dass sich Jesus im überlieferten Text zu destruktiv erscheinenden Bibelstellen nicht äußert. Es erscheint nicht vorstellbar, dass die Jünger ihn dazu nicht befragt haben. Der Apostel Johannes weist darauf hin, dass die Evangelien nur eine Auswahl, ja nur einen Bruchteil der tatsächlichen Ereignisse und Gespräche mitteilen (Joh 21,25). Es existiert also eine riesige Überlieferungslücke – gerade in dieser sehr wichtigen Frage.
Die ursprüngliche Gottesoffenbarung als historische Tatsache wird dadurch nicht in Frage gestellt. Aber biblische Aussagen müssen nun grundsätzlich eine Prüfung an dem Maßstab der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit durchlaufen, ehe sie als Orientierung weitergegeben werden können. Der Gläubige sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die ursprünglich mündliche Botschaft zu rekonstruieren. Immer wieder ist die Frage zu stellen: „Wie hätte Jesus in dieser Situation gehandelt?“
Vertreter der fehlerlosen Bibel behaupten, dass dieses Vorgehen keine Klarheit schaffe, sondern willkürlicher Spekulation Raum verschaffe. Missachten sie nicht damit die Tatsache, dass derselbe Geist, der Worte der Bibel inspiriert hat, auch im Gläubigen heute wirken kann?
Hatte Jesus, als er sagte „ Mein Geist wird euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh 16,13) etwa die Absicht, die theologische Tradition heilig zu sprechen, die sich erst im 4.Jahrhundert nach Chr. für den schlussendlich gültigen Inhalt des Neuen Testamentes entschied?
Oder hat er damit eine Wirkung gemeint, die Korrektur biblischer Inhalte auch heute noch ermöglicht? Diese Sicht wird eindrucksvoll durch die Verheißung bestätigt, dass jeder Gläubige mit dem „Sinn Christi“ ausgestattet wird, einen Sinn für das Göttliche erwerben kann (1.Kor 2,16). Er braucht dann keine bevormundende Belehrung mehr (1Joh 2,27). Insofern müsste der Satz in Joh 16,12 – realistischer formuliert – eigentlich lauten: „Mein Geist will euch (ihr alle bis heute, die ihr mir vertraut), in alle Wahrheit leiten.“
Er will – zweifellos! – aber diese Absicht kann auch durch eigene theologische Interessen gründlich vereitelt werden – denken wir nur an die blutigen Exzesse der Theologiegeschichte. Diese Exzesse gab es sogar bei tiefgläubigen Menschen (!), begangen im Wahn, man habe mit seiner Sichtweise der Bibel schon das vom Geist beabsichtigte Ergebnis in Form absoluter Wahrheit erhalten.
In einer traditionell buchstabenhörigen Theologie hat die Verheißung in 1Kor 2,16 überhaupt keine Bedeutung. Geistesleitung setzt bescheidene und vorsichtige Selbstreflexion voraus. Je mehr sich der Gläubige in tätiger Liebe bewährt, desto sensibler wird sein Sinn für die Qualität von biblischen Aussagen, desto klarer wird sein spirituelles Urteilsvermögen (1Kor 2,15). Der Geist Gottes in ihm bringt Bibelworte hoher Qualität zum Leuchten, sodass es nicht schwerfällt zu erkennen, welche Bibelworte dem spirituellen Wachstum dienen und welche nicht (spirituelle Resonanz)
4.3. Die tötende Macht des Buchstabens wird entschärft.
Damit fällt der quasi päpstliche Autoritätsanspruch des „tötenden“ Buchstabens weg, auf den die fromme Hierarchie zu allen Zeiten so großen Wert gelegt hat, um ihren Einfluss zu sichern. Das ändert sich auch dadurch nicht, dass der buchstäbliche Text von ihren Verfassern mit quasi göttlichen Attributen versehen wird. Damit haben sie den Fokus ganz auf die Qualität der ursprünglichen – mündlich vermittelten – Offenbarung gesetzt, während ihnen der eigene subjektive Beitrag vernachlässigbar gering erschien. So wie ein Verliebter von seiner Geliebten restlos begeistert ist und kleine Mängel als vernachlässigbar gering betrachtet oder gar nicht mehr sieht, so kann und darf auch der Gläubige seine Bibel als unbestreitbar „vollkommen“ ansehen.
Dieser Denkansatz ermöglicht es dem gutwilligen und ehrlichen Bibelleser, sich von Bibelstellen in einer glaubwürdigen Weise innerlich zu distanzieren, die Gottes Charakter bösartig oder unzuverlässig erscheinen lassen. Zugleich wird die Erpressung des Gewissens durch den Missbrauch von Bibelworten unwahrscheinlicher, da Gott eine eindeutig liebevolle Persönlichkeit zugetraut wird.
Nicht zuletzt ist ein großer Gewinn, dass nicht mehr gelogen, geheuchelt und verdrängt werden muss, um die Relativierung und Schwächung der Heilszusagen durch destruktive Bibelstellen zu verhindern. Inwiefern Heuchelei und Verdrängung? Haben grauenhafte Befehle, wie Frauen die Hände abzuhacken (Deu 25,11-12), Vergewaltigungsopfer zwangszuverheiraten (Deu 22,28-29), brutale Sippenhaft zu vollstrecken (Ri 7,24 ff), Frauen und Kinder wegen ihrer schlechten Verwertbarkeit abzuschlachten (Num 31), unversehens für immer und ewig Vergebung zu versagen bei „Sünde zum Tode“ (was immer das ist… 1Joh 5,16-17) oder bei „mutwilliger Sünde“ (was immer das ist… Hebr 10,26), nun einen stärkenden oder einen hemmenden Einfluss auf das Vertrauen?
Ist diese Frage zweitrangig? Wo doch alles mit dem Vertrauen steht und fällt?
Den Behauptungen der Irrtumslosigkeitsdoktrin folgend, ist der Gläubige verpflichtet, auch Aktionen, die ungerecht, bösartig und willkürlich erscheinen und der Vernunft widersprechen, als gutes und richtiges – wenn auch unverständliches – Handeln Gottes einzustufen? Wie soll dann aber eine Einschätzung der Reaktion Gottes auf gravierend erscheinendes Fehlverhalten des Gläubigen heute überhaupt möglich sein? Wer will denn allen Ernstes behaupten, er könne sich in diese Art „Charakter“ zuverlässig „hineindenken“ oder „hineinfühlen“?
Bibeltreuen Seelsorgern bleibt gar nicht anderes übrig als so zu tun als könnten sie es, wenn sie die seelische Katastrophe nicht mit ansehen wollen. Eine Überprüfung oder gar Distanzierung von der Irrtumslosigkeitsdoktrin ist ja tabu. Damit werten sie sich selbst als Vermittler der Heilsgewissheit auf. Sie machen sich selber zum Papst, um eine eigene Follower-Gemeinschaft zu gründen. Fakt aber ist, sie müssen eine Gewissheit vortäuschen, die es auf dieser Basis nicht gibt. Ihre Beteuerungen sind Appelle zu verdrängen. Sie sind widersprüchlich und so fragwürdig, sodass das Gottvertrauen bestenfalls Optimismus bleibt.
Gehen wir aber davon aus, dass die Sammler biblischer Texte sich aus falscher Pietät gescheut haben, augenscheinlich verdorbenes Textmaterial auszusortieren, genau so wie sie sich auch heute scheuen, zB den Hebräerbrief am Evangelium zu prüfen (wie es Martin Luther schon in seiner ersten Bibelausgabe empfohlen hat), so bleibt die Gottesvorstellung vor jeglicher Monstrosität bewahrt und etliche Christen haben es viel leichter, an die Zuverlässigkeit der Liebe Gottes zu glauben.
Auch die Außenwirkung (das „Zeugnis“) der Gemeinde verbessert sich erheblich, denn das Verharmlosen der genannten Abscheulichkeiten als Aktionen, deren liebevoller und gerechter Sinn „zur Zeit noch niemand verstehen könne“ wirkt so gründlich abstoßend wie die erbärmliche Unterwürfigkeit bildungsresistenter Menschen, die sich von einem übermächtigen Diktator die Liebe zur Wahrheit haben abkaufen lassen.
Stärken: Bildung von Glaubensgewissheit durch Einsicht in die unbedingte und ausnahmslose Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Fundamente der Liebe und der Wahrhaftigkeit, auf dieser Basis Bildung von Vertrauen in die unzerstörbare Liebe des Vaters im Himmel, auf dieser Basis Förderung des Urteilsvermögens und Sensibilität für die Leitung des heiligen Geistes sowie Orientierung an Bibelworten mit dem Ziel der Bestätigung ihrer nachvollziehbaren Qualität und ihrer heilsamen Wirkung auf Charakterbildung und Lebensführung, leicht handhabbare Entschärfung destruktiv wirkender Bibelstellen und Erleichterung der Bibellese ohne detaillierte Untersuchungen.
Schwächen: Keine bekannt.
5. Prioritätenorientiertes Schriftverständnis. („Bibeltreues Update„)
Ein angemessenes Bibelverstehen ist nur möglich, wenn die Rangfolge biblischer Aussagen ausnahmslos und konsequent beachtet wird.
5.1. Die Wechselwirkung zwischen dem lebendigem Wort und dem Leser
Die Bibel ist ein Buch, das Information über die Fakten der unsichtbaren Welt auf einzigartige Weise übermittelt. „Gottes Buch“ wird nicht passiv gelesen und verstanden wie andere Bücher, sondern es ist „lebendiges Wort„. (Joh 6,63) Das lebendige Wort reagiert auf die Einstellung des Lesers. Pflegt der Gläubige sein geistliches Leben, so beginnt es zu sprechen. Lässt er das geistliche Leben verkümmern, bleibt die Bibel stumm, deckt die Wahrheit wie eine „Decke“ (2.Kor 3,15-16) zu. („Selbstverstärkung„) „Der natürliche Mensch aber versteht das, was der Geist Gottes will, nicht. Er hält es für eine Dummheit. Er kann den Wert nicht erkennen, was durch geistliches Urteilen möglich ist. Ein Mensch, der vom Geist Gottes geleitet wird, kann den Text richtig beurteilen und muss nicht befürchten, dass sein Urteil später von jemandem als Irrtum verworfen werden muss.“ (1.Kor 2,14-15)
Die Buchstaben im „Lebensbuch“ der Schöpfung, d.h. in der Erbsubstanz DNA, zeigen dieselbe Gesetzmäßigkeit. Die Erbsubstanz liefert nur dann steuernde Informationen, wenn sie in eine lebendige Zelle eingebettet ist. Aus der lebendigen Zelle erst kommen die Impulse, die eine sinnvolle Funktionsweise ermöglichen. Ohne die lebendige Zelle bleiben die „Buchstaben“ des „Lebensbuches“ totes Eiweiß – bedeutungslos und nichtssagend. Ähnliches lässt sich über die Wirkungsweise der Bibel sagen. Ihre Steuerungsfunktion setzt eine geistlich gesunde innere Einstellung voraus, Der bloße Buchstabe ist mausetot, ja er kann sogar den Tod statt Leben bringen. (2.Kor 3,6b)
5.2. Die Bibel kann ihren Sinn verschließen oder mitteilen
Menschen interpretieren die Bibel nicht automatisch richtig, weil sie gläubig oder weil sie evangelikale Theologen geworden sind. Durch eigennützige Motive, mangelnde Reife, Bequemlichkeit, Furcht unangenehm aufzufallen, schwach entwickelte Wahrheitsliebe usw. kann der Heilige Geist stark „gebremst“ (1. Thes 5,19) und die Urteilskraft entsprechend eingeschränkt sein. Insbesondere Selbstgerechtigkeit sowie Unfähigkeit zur Selbstkritik werden immer zu einer Verkürzung und Verfälschung biblischer Aussagen führen (Selbstverstärkung, , Giftige Theologie, Blinder Fleck ). Aus biblischer Wahrheit wird Propaganda.
Die Eigenschaft der Bibel, sich zu verschließen, lässt sich nicht durch theologische Auslegungskunst kompensieren. So ist es möglich, dass Gläubige Aussagen der Bibel falsch interpretieren, ohne die Schwächen ihrer Interpretation zu erkennen. Es ist zu beachten, dass Gott „Laienboten“ autorisieren kann, denen theologische Experten widersprechen. Das heißt auch, dass die Methoden, mit denen üblicherweise Literatur erschlossen wird, hier nur teilweise – in Einzelfällen gar nicht – anwendbar sind. Eine möglichst eng am Wortlaut orientierte Interpretation kann in manchen Fällen falsch sein. Über die angemessene Art, mit der Bibel umzugehen, informiert uns diese selbst. Wenn wir die biblische Arbeitsweise akzeptieren, erkennen wir den hilfreichen und guten Sinn ihrer Aussagen.
Auffällig ist, dass eine hilfreiche und lebensfördernde (Mt 4,4) Interpretation des biblischen Textes schwierig bis unmöglich wird, wenn alle Sätze im biblischen Kanon gleiches Gewicht haben, weil destruktive Bibelstellen die Aussagen über die Barmherzigkeit Gottes relativieren. Konkurrieren zwei Aussagen miteinander, so muss ihre Rangfolge festgestellt werden („Polarität der Bibel). Die unterschiedliche Rangfolge biblischer Aussagen darf nicht willkürlich festgelegt werden. Zu einer eindeutigen, zuverlässigen Festlegung bedarf man eines höheren, von der Heiligen Schrift autorisierten Ordnungsprinzips. Insofern sind viele biblischen Sätze den Gläubigen nur als eine „Vorform“ letztgültiger Wahrheit gegeben.
5.3. Wie der Sinn des Bibelwortes aufgeschlossen wird
Um die Bibel richtig zu lesen; d.h. bis zur letztgültigen Wahrheit durchzudringen, ist der Gläubige verpflichtet und aufgerufen, sich um spirituelle Disziplin zu bemühen und alle Aussagen der Bibel in das Licht der höchsten Maßstäbe Jesu zu stellen, um ihren Rang festzustellen. Spirituelle Disziplin befindet sich ständig im Einklang mit den ausnahmslos gültigen (!) Qualitätsmaßstäben Jesu „Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit“ (Mt 23,23). Nur auf diese Weise, im Zusammenwirken von biblischem Wort und geistlichem Leben, entsteht eine lebensfördernde, zuverlässige und verbindliche Interpretation der Bibel mit letztgültiger Autorität („Wahrheit“). Auf diese Weise ist der Gläubige nicht mehr auf theologische Meinung angewiesen (1.Jo 2,27) und muss sie nicht mehr zur Grundlage seiner Glaubenssicherung machen.
Dieses Verfahren wird uns im Neuen Testament selbst vorgestellt. Ursprünglich war es im Gottesdienst so, dass mehrere Brüder eine Botschaft von Gott empfingen. Obwohl es sich hier um mündliche Inspiration handelte, sollte die Botschaft von den anderen sogleich geprüft werden. “Von den Brüdern, die Gottes Weisungen empfangen, sollen nur zwei oder drei sprechen; die anderen sollen das Gesagte deuten und beurteilen (και οί άλλοι διακρινέτωσαν).” (1.Kor 14,29) Dies zeigt uns, dass die Übertragung von Information aus der unsichtbaren in die sichtbare Welt in irgendeiner Weise schwierig war. Paulus redet von „unaussprechlichen Worten“ (2.Kor 12,4). Er sah reale Dinge, aber es schien ihm unmöglich, es so zu formulieren, dass es nicht missverstanden wurde. Deswegen sollte auf den Vortrag des Geschauten noch eine Beurteilung durch die Gemeinde folgen, um die Botschaft anhand der Maßstäbe Jesu zu überprüfen.
Wer genau hinsieht, stellt fest, dass Texte der Bibel unterschiedlichen Rang und verschiedene Funktion haben. Texte können einen gleich hohen Rang haben wie die Maßstäbe Christi, z.B. Aussagen über die fünf fundamentalen Heilstatsachen, die zur Begründung lebendigen Glaubens genügen. Viele Texte haben aber auch einen geringeren Rang wie z.B. Texte mit vorläufiger Aussage, die später in der Bibel korrigiert oder neugefasst werden („Schatten-Texte“). Es gibt auch Texte mit dem Rang „Null“, die eigentlich nur zeigen, wie der Gläubige nicht handeln darf. Diese Texte dienen nicht als „Nahrung“ der Seele, sondern als „Impfstoffe“, die eine korrigierende Reaktion im Sinne Jesu hervorrufen sollen bzw. sie dienen zur Übung des Urteilsvermögens des Gläubigen (No-comment-Stil).
Dieser Denkansatz ist ein „Modell“, eine Denkmöglichkeit, für das gute Argumente sprechen, und kein Dogma. Mit diesem Modell ist es möglich, an der Vertrauenswürdigkeit der Heiligen Schrift festzuhalten und gleichzeitig offen zuzugeben, dass man bestimmte negativ wirkende Aussagen der Schrift kennt, sie nicht ignoriert, verschweigt oder verharmlost, aber sie mit niederem Rang einstuft, nicht eigenmächtig, sondern weil ein höherrangiges biblisches Prinzip den Gläubigen dazu autorisiert. Damit kann der Gläubige eine klare Grenze zur Propaganda ziehen – was ihn im Gespräch mit Andersdenkenden erheblich glaubwürdiger macht.
Ehrlichkeit ist aber kein Freibrief für Eigenmächtigkeit. Nach wie vor ist der Gläubige gut beraten, wenn er sorgfältig Distanz zu einer eigenmächtigen Entwertung biblischer Texte hält. Wir wissen genau, dass Jesus diese Entwertung, die in der materialistischen Theologie üblich ist, nie akzeptiert hätte. Der Gläubige kann sich davor schützen, indem er in seinem Denken die Grundsätze spiritueller Disziplin beachtet.
Stärken: Auflösung von Widersprüchen im Gottesbild und in der Ethik durch möglichst genaue Untersuchung der Rangordnung biblischer Aussagen, Prüfung der Aussagen an dem wichtigsten Gebot, Identifizierung von unzulässigen Verstößen gegen diese Norm in Theologie und Seelsorge („giftige Theologie„) und Untersuchung der psychischen Folgen. Bildung von Glaubensgewissheit durch Einsicht in die unbedingte und ausnahmslose Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Fundamente der Liebe und der Wahrhaftigkeit … (weitere Stärken wie beim „Provisorischen Bibelverständnis / Spirituelle Resonanz“)
Schwächen: Nicht bekannt aber augenscheinlich vernachlässigbar gering, da die Bewertung einer biblischen Aussage nicht anhand irrationaler Kriterien wie Tradition, Erwartungsdruck, Vorlieben erfolgt, sondern ein Wettstreit um die besseren Argumente durch Vergleich mit der Norm des höchsten Gebotes jederzeit möglich und erlaubt ist. Die Verpflichtung zu einem offenen Wettbewerb ist die optimale Voraussetzung für die Zuverlässigkeit der gewonnenen Erkenntnisse..
6. Materialistisch-atheistisches Schriftverständnis.
Die Bibel ist nur Menschenwort. Sie enthält großartige Ideen der Mitmenschlichkeit, Liebe und Opferbereitschaft und gibt in vielerlei Hinsicht Denkanstöße zum Überdenken und Verbessern von Ethik und Lebensführung. Sie ruft religiöse Gefühle hervor, Gefühle der Hoffnung und des Trostes, aber auch des Staunens und der inneren Ruhe, die zur Bereicherung des Lebens beitragen. An einer Hoffnung auf Transzendenz, auf Geborgenheit und Perspektive in einem Leben nach dem Tod besteht kein Interesse. [5]
Das letztgenannte „Bibelverständnis“ erhebt bisweilen auch den Anspruch, eine Version des „christlichen Glaubens“ zu sein. Man hat guten Grund das zu bezweifeln, da die Heilstatsachen des christlichen Glaubens nicht anerkannt werden.
Stärken: Wunsch nach gerechtem, sinnvollen Handeln in diesem Leben, innere Ruhe, Zufriedenheit.
Schwächen: spirituelle Armut und Trostlosigkeit für Menschen, die an Krankheit und Unglück verzweifeln.
Diese Internetseite befasst sich nur mit christlichen Bibelverständnissen.
Da Verunsicherung in Glaubensdingen schwer erträglich ist, ist eine Würdigung der Plausibilität der Annahmen sowie ein sachlicher Vergleich der Vor- und Nachteile dieser grundsätzlichen Annahmen schwierig. Von den unter Punkt 1 bis 4 genannten christlichen Bibelverständnissen tun sich Vertreter der Irrtumslosigkeit am schwersten mit der Versuchung zu unfairer Argumentation.
Hilfreich wäre es, mehr mit Fragen als mit Behauptungen zu argumentieren.
Um festzustellen, welches Schriftverständnis am besten den Maßstäben Jesu entspricht, muss man Vor- und Nachteile prüfen und offen ansprechen dürfen.
Ist die Irrtumslosigkeitsdoktrin wirklich am besten geeignet, vor Unglauben zu schützen?
Wie ist hier das Zeugnis der Glaubensväter zu bewerten?
Prüfe doch einmal, ob dich das prioritätenorientierte Bibelverständnis nicht viel effizienter und besser schützt!
Quellenhinweise:
[1] www.kathbern.ch/fileadmin/user_upload/Fachstellen/Religionspaedagogik/Dokumente/Kinderbibel_Flyer_def.pdf
diemusikmeinerkirche.de/kinderbiebel/
www.reli.ch/fachliteratur/fachbeitraege/blog-posts/leitsatz-12/welche-kinderbibel-darfs-denn-sein
publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/137555/Adam_221.pdf?sequence=1
www.luther-la.de/wp-content/uploads/2021/06/Empfehlenswerte-Kinderbibeln.pdf
www.evangelisch.de/taufbegleiter/132175/welche-kinderbibel-ist-die-richtige
[2] de.wikipedia.org/wiki/Chicago-Erkl%C3%A4rung
www.gotquestions.org/Deutsch/was-wir-glauben.html
bibelbund.de/2014/12/was-ist-bibeltreue/
[3] stilkunst.de/lutherbibel-1545/Hebr/hebr-vorrede.php
[4] bibelbund.de/2016/07/bibeltreue-und-ihre-grenzgebiete-teil-1/
www.alexanderseibel.de/bibel-treu_oder_jesus-treu.htm
de.wikipedia.org/wiki/Bibeltreue#Bibeltreue_im_Evangelikalismus
[5] hpd.de/node/8060
