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Ein Mensch, der sich in einer Glaubensgemeinschaft für den Glauben an Jesus Christus entscheidet, wird oft mit einzigartigen Erlebnissen beschenkt, die er zuvor nie gekannt hatte: völlige Befreiung von Schuldgefühlen, Gefühle der Privilegierung und Erwählung zum Freund Gottes, Verschwinden jeglicher Zukunftsängste.
Das ist eine bisher nie gekannte Anhäufung von Glückserlebnissen, die eine ungeheure Erleichterung, geradezu einen Rausch des Glücklichseins erzeugen können. Die innere Befreiung, die damit verbunden ist, lässt die eigenen materiellen Bedürfnisse zum ersten Mal nebensächlich erscheinen. Eine ganz neue Welt tut sich auf, in der die Fixierung auf eigene Bedürfnisse als Verlust erscheint und mit dem Bedürfnis konkurriert, empfangene Liebe an den Nächsten weiterzugeben. Eine unglaublich schöne und für das ganze Leben sinnstiftende wertvolle Erfahrung. So einzigartig ist dieses nie gekannte Befreiungserlebnis, dass es nicht schwerfällt, hierin eine Berührung mit Göttlichem, eine wahrhaft spirituelle Erfahrung zu sehen.
Dieses Glückserlebnis ist mit einem Entschluss verbunden, von nun an den Heilsverheißungen Gottes zu vertrauen. Diese Heilsverheißungen gelten im Rahmen einer freundschaftlichen Vertrauensbeziehung zu Gott. Um den Erhalt dieser Beziehung hat sich der Gläubige fortan zu bemühen, um die geschenkte Glaubensfreude zu bewahren. Er ist aufgerufen, sich auch in Zukunft von falschem, schuldhaften Verhalten zu distanzieren („Nachfolge„), um Gottes Vergebung immer wieder neu in Anspruch zu nehmen, wodurch die ursprüngliche Glaubensfreude wiederhergestellt wird.
Bei oberflächlichem Bibelwissen fällt diese Verpflichtung nicht schwer. Der evangelikale Mainstream heute lehrt und beachtet eine Minimalethik, die sich eher am Niveau der Zehn Gebote orientiert als an der Bergpredigt Jesu. Nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht betrügen, dem Nächsten nicht schaden, Gottes Namen nicht missbrauchen – noch ergänzt um das alttestamentliche Gebot, den Zehnten zu spenden sowie die Verbote der Abtreibung und Pornografie, Verbote indes, die nicht in Bibeltexten explizit formuliert werden, sondern durch Auslegung von Ps 139,15-16 sowie Mt 5,28-29 begründet werden.
Das ist wahrlich nicht allzu viel verlangt. Der Gläubige ist davon überzeugt, dass die Freude, die Liebe und die Geborgenheit bis an sein Lebensende fortbestehen wird. Eine wunderbare Perspektive. Begeistert liest er die Bibel, macht Bibelkurse, schreibt Predigten mit, beschafft sich Bibelkommentare, ja lernt vielleicht sogar noch die Sprachen, in denen die Bibel geschrieben ist, um das Feuer der Liebe am Brennen zu halten.
Doch ach – nach etlichen Jahren stellt er fest: es ist ist nicht mehr wie früher. Die Freude, die Liebe, das Vertrauen… alles scheint zu schrumpfen. Je eifriger man liest, desto gründlicher und tiefer leuchtet das Wort Gottes in die Seele hinein und scheint in seinem Urteil immer strenger zu werden. Eine Minimalethik gibt es längst nicht mehr. Auch lassen manche Bibeltexte bis her nie geahnte Befürchtungen und Zweifel aufsteigen. Viele Gläubige versuchen diesen Prozess umzukehren, indem sie die Bibel immer selektiver lesen, sich dabei auf die guten, ermutigenden Stellen, „die Rosinen“ beschränken. Man sieht es gerne, wenn auch die Predigt diesem Rezept folgt. Auf einmal erscheint manchem zu viel Bibelkenntnis eher von Nachteil zu sein.
Noch schwieriger, ja quälender kann es für Gläubige werden, wenn schweres Leid zu tragen ist und auch unablässiges Gebet daran nichts ändert. Die entmutigenden Bibelstellen erhalten unversehens ein viel größeres Gewicht. Diejenigen, für die es immer schwerer wird, am früheren Optimismus festzuhalten, sehen sich irgendwann vor die Frage gestellt, ob es nicht eine konstruktivere Möglichkeit gibt als die Verdrängung, mit verstörenden Bibelstellen umzugehen.
Es ist nachvollziehbar, dass das unbegrenzte vorbehaltlose Vertrauen, das Glaubensanfänger gelernt haben, Gott entgegenzubringen, auch auf die Bibellehrer übertragen wird, die das Bekehrungserlebnis durch ihre Predigt vermittelt haben.
Durch viele Bibellehrer, die ihre Ausbildung in einer bibeltreuen Einrichtung erhalten haben, werden Glaubensanfänger nun traditionell belehrt, dass all diese wunderbaren Gefühle des Bekehrungserlebnisses aufs engste mit dem Glauben an eine unfehlbare, irrtumslose Bibel verbunden sind. Wer nicht allen Bibelworten zustimme, sei als Zerstörer und Feind des Glaubens, als Verführer und Bote Satans unterwegs.
Ist der Glaube an die Fehlerlosigkeit der Bibel tatsächlich der sicherste und vom Geist Gottes autorisierte Weg zur Glaubensfreude? Wenn man die Frage stellen darf und nicht von vornherein verbietet, dann lässt sich leicht zeigen, dass dieser Weg die Glaubensfreude sowohl stärken als auch erheblich abbremsen kann. (Hierüber berichtet anschaulich und interessant der Beitrag: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht„)
Offenbar lässt sich die lebendige Kraft der Gottesworte auch ganz unabhängig vom Dogma biblischer Fehlerlosigkeit erfahren. (Ps 107, 20 / Joh 15,3 / 1Kor 1,18). Missionare haben die Erfahrung gemacht, dass lebendiger Glaube bereits durch die gläubige Annahme von fünf grundlegenden Informationen entsteht: den „Heilstatsachen„.[1] Ein Christ kann diese Informationen mit Hilfe eines kleinen Buches, das fünf verschiedenfarbige Seiten enthält, an einen anderen Menschen weitergeben, sodass dieser ebenfalls Christ werden kann. Es enthält eine schwarze, eine rote, eine weiße, eine grüne und eine goldene Seite, die jeweils eine geistliche Bedeutung haben. Buchstaben braucht es in diesem Buch nicht zu geben.
Um diesen Glauben kräftig und gesund zu erhalten und die Nähe Gottes zu spüren, genügt es, die empfangene Liebe weiterzugeben. Wer gerne selbstlos für einen anderen Menschen da sein kann, der ihm konkret wenig nützt, hat ein großes Geschenk von Gott erhalten. Und wer sich von dieser Liebe leiten lässt, gewinnt geistliches Urteilsvermögen und erkennt auch die Autorität der biblischen Aussagen, die seinem spirituellen Wachstum dienen können.
Was sind nun die Vorteile des Dogmas einer fehlerlosen Bibel, das evangelikalen Gläubigen heute ganz selbstverständlich als unentbehrlich präsentiert wird? Es dient vor allem dazu, die Hierarchie enorm aufzuwerten, die sich nun als Verteidiger des „rechten Glaubens“ profilieren kann. Zwar ist echter Glaube unzerstörbar (Joh 10,28 / 1Joh 4,4 / 5,18), doch durch die ständig geschürte Angst, den Glauben zu verlieren, werden Gläubige blind gemacht für die materiellen Interessen der Hierarchie und auch blind für charakterliche Fehlentwicklungen, die mit dieser Sichtweise verbunden sind.
Von dem umfassenden Prüfungsrecht, das die Bibel jedem Christen auch heute zugesteht (1Kor 2,15-16) [2], und das Jesus seinen Jüngern zugestand (Joh 8,46), erfahren evangelikale Gläubige nichts. Wie sollen es die Gläubigen je erfahren, wenn bereits die Überprüfung als Versuchung gelten soll? Wie soll sich dann geistliches Urteilsvermögen entwickeln?
Leider ist es in evangelikalen Gemeinde der Normalzustand, dass Gläubige sowohl in der Bibelkunde als auch im Fach Kirchengeschichte traditionell auf einem äußerst schlechten Informationsstand sind und auch bleiben sollen.
Es gibt zu denken, dass dieser schlechte Informationsstand von der Mehrzahl der Gläubigen als wünschenswert angesehen wird. Das passt doch mit der Verkündigung, dass jeder Satz in der Bibel wertvolles und hilfreiches Gotteswort ist, sehr schlecht zusammen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Denn wenn Gläubige im Laufe der Jahre die Bibel doch gründlicher lesen sollten, dann ist damit zu rechnen, dass Verunsicherung und Befürchtungen aufsteigen, ob man nicht vielleicht selbst hinter den Normen, die das Neue Testament dem Gläubigen setzt, zurückbleibt und Bestrafung zu fürchten hat. So mancher ahnt, ja befürchtet eines Tages, dass die anfängliche Auffassung von „Nachfolge“ als Minimalethik nicht ausreichen könnte [3] und dass man dann zu den Leuten gehört, die nur „Herr, Herr“ zu Jesus sagen, die aber vom Eintritt in den Himmel ausgeschlossen werden, weil „sie nicht alles getan haben, was Jesus verlangt hatte.“ (Mt 7,22)
Mit diesen Befürchtungen kommen Gläubige in die Seelsorge – in der Erwartung, dass diese von theologischen „Fachleuten“ entkräftet werden. Doch wie zuverlässig sind solche beruhigenden Auskünfte, die ja voraussetzen, dass der Seelsorger die strafende Reaktion Gottes auf längeres Fehlhalten sicher voraussagen kann? Wer biblische Texte gründlich liest, der weiß, dass exzessive schwere Strafe unversehens auch für kleine Sünden möglich ist (2Kö 1,13-14 / 2,24 / 2Sam 6,6 / Rö 14,15 / Apg 5,5 ), und dass – wie der Hebräerbrief im zehnten Kapitel feststellt – die Strafen im neuen Bund für wiederholte „mutwillige Sünde“ um ein Vielfaches härter und grausamer sein können als alles was im alten Bund an Strafe vorstellbar war (Hebr 10, 26-31).
Auf die ursprüngliche Glaubensfreude wirkt dieser Eindruck natürlich stark bremsend. Wie kann der Gläubige aus diesem Dilemma herausfinden? Durch sorgfältiges, widerspruchsfreies Nachdenken? Die Behauptung, dass es keinen lebendigen Glauben ohne die Annahme einer fehlerlosen Bibel gäbe, erzeugt so große Verlustängste, dass für die Entwicklung von Selbstreflexion und Urteilsvermögen kaum noch Raum ist. Um so großer ist die emotionale Abhängigkeit von Behauptungen des religiösen Umfelds, deren gedankenlose Übernahme schnelle Gefühlsberuhigung verspricht. Die weitgehende Abwertung des Verstandes hat zur Folge, dass Widersprüche und Ungereimtheiten in der Gemeindetradition nicht mehr stören, sie geben keinen Anreiz mehr, nachzuprüfen, werden sogar gar kaum noch wahrgenommen.
Leider ist auch das erwünscht. Je unselbständiger die Gemeinde im Urteilen, desto abhängiger und beeinflussbarer wird sie. Das Nachdenken über wichtige Fragen, insbesondere über die Frage der Heilsgewissheit wird nahezu vollständig an die Bibellehrer, „die es ja studiert haben“, delegiert. Es schmeichelt dem Selbstbewusstsein mancher Gemeindeleiter, wenn die Gläubigen sie als eine über jeder Kritik stehende Autorität ansehen und ihnen quasi „alles aus der Hand fressen“.
Je klarer die Wahrnehmung der eigenen Defizite in der „Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird“ (Hebr 12,14), umso größer wird das Bedürfnis, sich gegenüber Nichtchristen und Gottlosen zu profilieren. Indem man sich deutlich zum Glauben an die Unfehlbarkeit der Bibel „bekennt“, kann man einen „Heiligkeitsvorsprung“ gegenüber allen anderen, besonders gegenüber den Nichtgläubigen erwerben, die diese „Leistung“, dieses „Vertrauen“ nicht aufzuweisen haben.
Dem Neuen Testament ist dieser Gedanke fremd. Die herzliche Liebe ohne Berechnung, eben das Wunder, das am Beginn des Glaubenslebens stand, ist das Kennzeichen echten Glaubens und soll es auch bleiben (Joh 13,34 / 1Joh 4,7+12 / Offb 2,4).
Ein Bibelzitat wird jedoch gerne gebraucht, um diese fragwürdige Strategie zu bestätigen: „Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, …, so wirst du gerettet.“ (Rö 10.9)
Die rettende Wirkung scheint noch größer zu sein, wenn man nicht nur an die Totenauferweckung Jesu glaubt, sondern an „ausnahmslos alles, was in der Bibel steht.“ Diese Behauptung ist der Grund, warum es so viele unehrliche Bekenntnisse zur Unfehlbarkeit aller Bibeltexte gibt, warum Gläubige sich entsetzt die Ohren zuhalten, sobald bessere Argumente kommen.
Hätte Jesus auch so auf gute Argumente reagiert? Oder die Apostel? Wären sie dann noch glaubwürdig geblieben?
Dass bessere Argumente kommen, ist unvermeidlich, da es aus irgendeinem Grundein der Bibel nicht nur hilfreiche, sondern auch – gottlob nur selten – eindeutig destruktive Sätze gibt, Sätze, die so destruktiv sind, dass Bibellehrer vermeiden, sie in der Gemeinde bekannt zu machen. Folge: Sofern Gläubige die Bibel nicht gründlich und vollständig durchlesen, haben sie auch nach jahrzehntelanger „bibeltreuer“ Belehrung mit der Bibel davon nicht die leiseste Ahnung.
Wenn das Vertrauen in die Liebe Gottes und die Glaubensfreude nicht schrumpfen sollen, wäre hier eigentlich – unter Berufung auf die Qualitätsmaßstäbe Jesu in Matth. 23,23 [4] – eine überzeugende Einstufung, ja Distanzierung und Korrektur mit Hilfe der Gedanken Jesu notwendig.
Die Bibel liefert zu Übungszwecken hierzu eine Reihe praktischer Anwendungsbeispiele: die „No comment“ – Texte..
Doch Überzeugendes ist nicht in Sicht. Die Lehre einer fehlerlosen Bibel hat dem Gläubigen hier nur den „Ausweg“ der Verdrängung oder Ignoranz anzubieten: besser nicht dran denken. Evangelikale Christen haben gelernt, so zu reagieren und bemerken gar nicht mehr, dass dieser „Ausweg“ keiner ist (was von etlichen erst in schlimmen Notzeiten bemerkt wird) und der Glaubensfreude eher schadet als nutzt. (Anschaulich beschreibt das der Beitrag; „Ich bringe eine gute und eine schlechte Nachricht„)
Er schadet selbstredend auch der Glaubwürdigkeit und dem Glaubenszeugnis.
Zweifellos ist es ein wunderbares Erlebnis, anderen den Weg zu einer ähnlich beglückenden Gotteserfahrung zu zeigen, wodurch sich zugleich auch ein intensives Gefühl der Verbundenheit herstellt.
Dieses „Geschenk“ wird jedoch in seiner Qualität stark gemindert, wenn es durch Eigennutz verunreinigt wird, etwa durch die Absicht, Verunsicherung in der Heilsgewissheit abzubauen oder gar frommes Selbstbewusstsein zu ernten. Was hat es mit Liebe zu tun, wenn zugleich die durch die Tradition andressierte Verlustangst und die damit verbundenen Denkverbote in gutgläubiger Naivität mit übergeben werden, Denkverbote, deren destruktive Wirkung auf den Charakter sich erst allmählich dem aufmerksamen Beobachter zu erkennen gibt?
Zunächst werden zweifellos Verlustängste gemildert, Verlustängste, die aber gar nicht sein müssten, wenn man das im Neuen Testament verbriefte umfassende Prüfungsrecht (1Kor 2,15-16 / 1Joh 2,27 [2] ) in Anspruch nehmen würde. Zweifellos: Wer (gottlob selten vorkommende) destruktive Bibelstellen entschuldigt, wer die negativen Aspekte im Glaubensdokument verschweigt oder verharmlost, der darf sich einigermaßen sicher fühlen.
Die Unehrlichkeit wird dabei positiv gesehen: Wer wider besseres Wissen redet, ja wer sogar lügt für Gott und für die Glaubensgemeinschaft, der bringt ja Gott seinen Verstand und seinen Gewissen als „Opfer“ dar – so wie es auch Diktatoren von ihren Günstlingen erwarten – und darf deshalb bei Gott deutlich mehr an Anerkennung erwarten als jemand der dieses Opfer nicht erbringt. Soviel „Hingabe“ kann doch nicht unbelohnt bleiben. Somit ist die Lüge, die Manipulation und der Selbstbetrug zu einem unverzichtbaren Bestandteil der evangelikalen Verdrängungskultur geworden.
Ist aber die Lüge unverzichtbarer Teil der etablierten evangelikalen Glaubenslehre, so hat man sich von Anfang an – ohne es zu wollen – den Satan mit an Bord geholt, den die Bibel den „Vater der Lüge“ nennt (Joh 8,44). „Ihr wisst, dass keine Lüge aus der Wahrheit kommt.„ (1Joh 2,21). Wissen das evangelikale Christen auch? Es sieht so aus, dass etablierte evangelikale Bibellehrer das leider immer noch nicht wissen, sondern offenbar davon ausgehen, dass der „heilige Zweck“ die Lüge, ja auch bisweilen Verleumdung und Geschichtsfälschung rechtfertigt.
Man will nicht wahrhaben, dass auf diese Weise vielfach das Gegenteil erreicht wird – man schreckt viele Menschen, insbesondere gründlich denkende Menschen vom Glauben ab, der ihnen unter diesen Voraussetzungen als Form der Gehirnwäsche und des Selbstbetrugs erscheinen muss.
Auch viele Christen geraten dadurch eines Tages unversehens in schwere Glaubenszweifel, da zu guter Letzt Gott als jemand erscheint, der seine eigenen guten Ordnungen sabotiert, der einerseits ein Bemühen um Wahrhaftigkeit fordert, andererseits seiner Gemeinde eine Glaubenslehre zumutet, die auf Lüge und Selbstbetrug nicht verzichten kann. Denen, die allmählich erkennen, dass die anfangs propagierte Minimalethik nicht ausreicht, können in einer Glaubenslehre, die sich mit Verdrängung angstmachender Bibelstellen behilft, immer weniger Trost finden, zumal eine ehrliche Aufklärung über glaubensstörende Bibelstellen, insbesondere über Texte im Hebräerbrief. vor denen schon Martin Luther eindringlich gewarnt hat, in evangelikalen Kreisen tabu ist.
All das würde nicht passieren, wenn man von Anfang an in Bezug auf die höchst unterschiedliche Qualität von Bibelworten ehrlich gewesen wäre und eine überzeugende Sicht der Bibel vermittelt hätte, die ohne Verdrängung und Bevormundung auskommt und dem Standard ehrlicher Augenzeugenschaft entspricht.
Die Warnung sowohl im Alten wie im Neuen Testament, dass das Lügen „für den Glauben“ BESTRAFT wird, findet kein Gehör mehr. (Hiob 13, 8-11 / Rö 3,7-8)
Wer einen Blick für echte Spiritualität entwickeln möchte, der muss lernen, fleischlich-religiöse Prozesse als solche zu erkennen. Im evangelikalen Mainstream besteht jedoch erfahrungsgemäß sehr wenig Interesse, Gläubige über religiöse Gruppendynamik aufzuklären. Für viele etablierte Bibellehrer ist es ja von Vorteil, wenn religiöse Egozentrik mit Spiritualität verwechselt wird. Sie sind in erster Linie an viel Zulauf, erfolgreicher Neuanwerbung und an frommen Massenevents interessiert, an deren Spitze sie stehen und sich als „Gottes auserwähltes Werkzeug“ profilieren können.
So kommt es zu dem paradoxen Ergebnis, dass diejenigen im Mainstream, die selbstbewusst zu Umkehr und Bekehrung aufrufen, selber unverbesserlich geworden sind. Die Propagierung einer fehlerlosen Bibel hat den Wunsch nach Ehrlichkeit in der Theologie in den meisten evangelikalen Gläubigen erlöschen lassen. Das unbegrenzte Prüfungsrecht des Gläubigen (1Kor 2,15-16) [2] ist bedeutungslos geworden. Das spirituelle Urteilsvermögen ist weitgehend verkrüppelt. Die Warnungen Martin Luthers vor Texten im Hebräerbrief, die dem religiösen Missbrauch und der Werkgerechtigkeit Tür und Tor öffnen, sind unbekannt geblieben. Das „schriftgelehrte“ evangelikale Establishment verbittet sich jede Richtigstellung.
Dass Gott selbst den Glauben des Gläubigen bewahrt (Luk 22,32 / Phil 1,6), dass Gottes Geist den Gläubigen auch heute noch „in alle Wahrheit leiten will“ und kann (Joh 16,13) – so weit geht das Gottvertrauen nun doch nicht – Gott behüte.
Jeglicher Zweifel an der Unfehlbarkeit der Bibel gilt als gottesfeindlicher Versuch, den Glauben kaputt zu machen. Er gilt als Diffamierung der Gläubigen, als Bemühen, ihr großes Opfer von Verstand und Gewissen als in den Schmutz zu ziehen – als rückgratlose Anpassung zu diffamieren. Wer will in einer frommen Gemeinschaft in diesen Verdacht geraten? Wer Interesse an Freundschaft und Unterstützung hat, wird sich also anpassen.
Bibellehrer gar, die irgendein Wort des Zweifels an einer destruktiven Bibelstelle äußern, riskieren in den frommen Netzwerken, die für die eigene Karriere und für Massenevents so wichtig sind, einen erheblichen Vertrauensverlust. Möglicherweise müssen manche Gemeindemitarbeiter sogar um ihren Arbeitsplatz fürchten.
Nicht Glaubensstärke, sondern die Sorge um die eigene Beliebtheit oder gar um die eigene materielle Existenz ist allzu oft der eigentliche Grund dafür, dass evangelikale Bibellehrer mit „unerschütterlicher Überzeugung“ am Dogma der Fehlerlosigkeit festhalten.
Sehr wahrscheinlich wäre es ganz anders gekommen, wenn man den Königsweg des Paulus hätte gehen können (1Kor 9,18), wenn man die materielle Abhängigkeit strikt vermieden hätte, wenn man sein Einkommen aus einem weltlichen Beruf beziehen und den Predigtdienst nur ehrenamtlich ausüben würde.
Das sind die Realitäten, die gewöhnlich hinter frommen Massenevents stehen, die sich gerne das Etikett der „Erweckung“ umhängen. Es wäre wirklich ein Wunder, wenn der fromme Mainstream tatsächlich einmal aufwachen und das biblische Verbot der frommen Lüge (Hiob 13, 8-11 / Rö 3,7-8) respektieren würde, wenn er anfangen würde, sich für ehrliche Rechenschaft zu interessieren und für die Wahrheit, ohne die Liebe nicht lebensfähig ist.
Wenn du deine Glaubensfreude in der ursprünglichen Kraft bewahren willst, dann halte von vornherein zur frommen Lüge Distanz, egal ob sie in der Form der Übertreibung oder Verharmlosung auftritt. Übernehme niemals Anschauungen deines Glaubensumfeldes ungeprüft, selbst wenn sie von vielen sympathisch erscheinenden Menschen vertreten werden. Halte eine gesunde Distanz zu Christen, die dich zu gedankenloser Anpassung verführen wollen. Mache dich niemals von Theologen abhängig, die manipulative Methoden verwenden und taktieren, statt ehrlich Rede und Antwort zu stehen.
Anmerkungen:
[1] https://matth2323.de/heilstatsachen/
[2] „Der vom Geist erfüllte Mensch aber beurteilt ALLES und sein Urteil hält jeglicher Überprüfung stand.“ (1Kor 2,15). „Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehre; sondern wie euch seine Salbung alles lehrt, so ist’s wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt in ihm.“ (1Joh 2,27)
[3] Je fleißiger die Bibel gelesen wird, desto mehr droht die anfängliche Minimalethik durch ethischen Rigorismus verschärft zu werden, sodass der Optimismus immer mehr schrumpft und durch Versündigungsangst verdrängt wird. Insbesondere der Hebräerbrief, der dem Gläubigen bereits zu Lebzeiten mit unumkehrbarer Verdammung droht, sollte er hinter der Forderung, jegliche Sünde zu vermeiden, in irgendeiner Weise zurückbleiben, macht die Abgrenzung zum werkgerechten Perfektionismus und zur Überforderung des Gewissens zu einer kaum lösbaren Aufgabe und hat somit (wie bereits Martin Luther feststellte) das Potential, der seelischen Gesundheit erheblich zu schaden.
Die neutestamentliche Ethik verlangt weit mehr als diese Minimalethik. Sie bezieht auch Unterlassungssünden mit ein ( „wer etwas Gutes zu tun weiß und tut es nicht, dem ist es Sünde“ (Jak 4,17), fordert völlige Selbstlosigkeit („wer nicht aufgibt alles, was er hat, kann nicht mein Jünger sein„(Luk 14,33), „Ihr sollt vollkommen sein, denn ich bin vollkommen“ (Mt 5,48) „Wer sündigt, gehört zum Teufel“ (1Joh 3,8). In allen Jahrhunderten seit der Zeitenwende hat die Versündigungsangst der Gläubigen eine prägende Rolle gespielt (siehe dazu auch die geschichtliche Darstellung in der Broschüre „Bibelwahrheit – Bibelwahn„), die durch Theologen immer wieder gerne neu angeheizt wurde.
Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde „ersatzweise“ eine Profilierung gegenüber der nichtchristlichen Welt durch eine rigorose Sexualethik hergestellt, die unverheirateten Gläubigen durch Verbot der Masturbation eine quasi geschlechtslose Existenz auferlegte. (Siehe „Gift Nr 1 – Sexuelle Verklemmtheit ist heilig„)
[4] „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und betrachtet das Wichtigste im Gesetz als nebensächlich, nämlich das Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und die Verlässlichkeit!“ (Mt 23,23)