Kleine Charakter-Skizze
des im Glauben gereiften Christen
Der im Glauben gereifte Christ erkennt, dass 2.Tim 3,16 wesentliche Bedeutung für das Schriftverständnis hat und dass dieser zentrale Vers die Notwendigkeit einer „Erziehung in der Gerechtigkeit“ (προξ παιδείαν τήν εν δικαιοσύνη) besonders hervorhebt und dass Gerechtigkeitsliebe zu den wichtigsten Maßstäben (βαρυτερα του νομον) des Neuen Testamentes gehört (Mt 23,23).
Entsprechend ist er daran interessiert zu verstehen, was das Neue Testament mit „Erziehung in der Gerechtigkeit“ meint. Dabei wird er sich nach bestem Wissen und Gewissen der Frage stellen, was denn als unbefriedigende oder gar missglückte Erziehung bzw. Charakterbildung anzusehen ist.
Das Ziel der Erziehung ist die Bildung einer in der Liebe gegründeten Persönlichkeit (Charakter) – entsprechend dem Vorbild Jesu und der Apostel. Gläubige, die diesem Vorbild nacheifern, werden immer den Qualitätsmaßstäben Jesu – „Barmherzigkeit, Liebe zum Recht, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit“ die größte Bedeutung zumessen. Deswegen ist er gewöhnt, zuerst sich selbst zu prüfen, ob er barmherzig, fair und ehrlich mit seinen Mitmenschen umgeht. Niemand soll durch ihn verletzt oder geschädigt werden. Umgekehrt zeigt sich Unreife im Glauben und Charakterschwäche darin, dass diese Maßstäbe als zweitrangig angesehen werden.
„Wer sich nach dem Willen dessen richtet, der mich gesandt hat, der wird feststellen, ob meine Lehre von Gott kommt…“ (Jo 7,17). Keine Glaubensgewissheit ohne Respekt vor dem heilsamen Willen Gottes ! Deswegen wird ein Christ, der statt Illusionen Gewissheit haben und im Glauben „auf eigenen Füßen stehen“ möchte, geistliche Übungen fleißig praktizieren, um eine starke Verbindung mit der unsichtbaren Welt Gottes herzustellen.
Er weiß, dass man nicht andere Menschen zur Umkehr auffordern sollte, wenn man selbst Anweisungen, die allen Jüngern Jesu gegeben sind, ignoriert. (Rö 2) Eine Gemeinde, die ihren Glauben bezeugen will, muss sich um die praktische Anwendung der Qualitätsmaßstäbe Jesu „Barmherzigkeit, Liebe zum Recht, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit“ (Mt 23,23) bemühen.
So wie Jesus als gutem Hirten die Sorge für ein einziges verlorengegangenes Schaf am Herzen lag (Mt 18,12), so ist es auch für den gereiften Gläubigen ein wichtiges Anliegen, sich für verletzte und vergessene Menschen in seiner Nähe verantwortlich zu fühlen. Wie ein guter Hirte hat er für Menschen, denen es schlimm ergangen ist, tiefes Mitgefühl. Er wird es unerträglich finden, wenn solchen Menschen in der Gemeinde durch gedankenlose, hochmütige oder rücksichtlose Menschen noch mehr Schaden zugefügt wird. Ihm wird deshalb ihr Schutz nicht gleichgültig sein.
Das Vorbild Jesu zeigt, dass ein starker, gesunder Glaube sich nicht abhängig macht von dem, was andere Gläubige glauben. (Jo 6,67)
Lebendige Fische schwimmen GEGEN den Strom …
tote oder halbtote Fische treiben mit ihm …
Jeder muss seine Überzeugung selber bilden nach bestem Wissen und Gewissen (Rö 14,5) – allein auf der Grundlage der Heiligen Schrift. Dass viele Leute dasselbe glauben, ist überhaupt keine Garantie für die Richtigkeit dessen, was geglaubt wird. Keine Gemeinde ist gegen sektiererische Tendenzen automatisch immun. (Mt 24,24 / Apg 20,29)
Seien wir uns der Tatsache bewusst, dass theologische Rechthaberei und Bevormundung bestenfalls vor prüfendem Nachdenken schützt, aber keine echte Glaubensgewissheit erzeugt. Deshalb wird sich der gereifte Gläubige auch Versuchen selbstherrlicher Lehrer widersetzen, Christen auf die eigene Person zu fixieren und ihre Glaubensgewissheit von der eigenen abhängig zu machen. (2.Kor 4,5) Wenn der Gläubige über seinen Glauben nur mit geliehenen Worten sprechen kann, ist dies ein starkes Indiz dafür, dass er noch sehr unselbständig im Glauben ist und Anschauungen seiner Lehrer ungeprüft übernimmt.
Wenn echte Glaubensgewissheit fehlt, dann wird sie durch Leichtgläubigkeit ersetzt, die den notwendigen Seelenfrieden liefert. In der Regel werden einfach die religiösen Vorstellungen der Eltern oder der Gemeinde, in der man sich bekehrt hat, ungeprüft übernommen, weil sie mit einer eindrücklichen Nestwärmeerfahrung verbunden sind.
Der im Glauben gereifte Gläubige weiß, dass jeder Christ das gleiche Recht hat, eine glaubwürdige und tragfähige Antwort auf die Fragen zu suchen, die sich aus persönlich erlebten Nöten notwendigerweise ergeben. Er weiß, dass jeder das gleiche Recht hat, eine Antwort abzulehnen, die unglaubwürdig ist, weil sie der Heiligen Schrift oder offenkundigen, beobachtbaren Tatsachen widerspricht. Er weiß, dass niemand das Recht hat, solche Fragen zu verbieten, bloß weil die damit verbundenen Nöte im eigenen Lebenslauf nicht vorgekommen sind. Er hütet sich auch vor der Sünde, über den Glauben anderer Christen „herrschen“ (2.Kor 1,24) zu wollen, sie erbarmungslos in das Schema der eigenen Biographie zu pressen und sie mundtot zu machen.
Die unabdingbare Voraussetzung der Wahrhaftigkeit ist die Möglichkeit, über divergierende Ansichten in einer fairen und liebevollen Weise zu sprechen so wie es Jesus und die Apostel getan haben. Die unabdingbare gemeinsame Basis dieser Gespräche zwischen Gläubigen ist das Festhalten an den in der Heiligen Schrift deutlich genannten Heilstatsachen.
Wenn ein geistlich gereifter Christ feststellt, dass der andersdenkende Gesprächspartner bessere Argumente hat, wird er diesem das Recht, so zu denken, zugestehen und sich niemals unfairer und übler Methoden bedienen, die „unter die Gürtellinie zielen“ – wie z.B. Verachtung, Verleumdung oder üble Nachrede. Ein geistlich gereifter Christ wird sich immer um eine Kultur der Fairness in seiner Gemeinde bemühen, um ein freundliches Klima, in dem ein offener Austausch möglich ist und hier auch eine wichtige pädagogische Aufgabe an Gläubigen sehen, die die Notwendigkeit dieses Niveaus nicht erkennen. Es ist ein alarmierendes Zeichen, wenn Gläubige nur dann freundschaftlich mit Geschwistern umgehen können, solange die eigene religiöse Meinung bestätigt wird.
Der gereifte Gläubige weigert sich, von dem Qualitätsstandard der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit (πιστις) Abstriche zu machen, auch wenn ihn Gläubige dazu mit bösen Blicken und Unfreundlichkeit zwingen wollen. Er hält es für feige und würdelos und erinnert sich daran, dass andere Christen um des Glaubens willen weitaus Schlimmeres ertragen müssen.
Ebenso weigert er sich, von dem Qualitätsstandard der Gerechtigkeit und Fairness Abstriche zu machen und bei Unrecht in der Gemeinde wegzusehen, bloß weil die Mehrheit der Mitglieder ihre oberflächlichen Harmoniebedürfnisse für wichtiger als die Not des Betroffenen hält und vor dem ausdrücklichen Gebot, sich für den Schutz des Schwachen einzusetzen (Jes 1,12 ff / Amos 5,23-24) und sich um die „Erziehung zur Gerechtigkeit“ zu kümmern (2.Tim 3,16), wenig Respekt hat.
Der gereifte Gläubige erkennt, dass er für Menschen, die in der Gemeinde Schaden erlitten haben, um der Barmherzigkeit willen eintreten muss, damit eine Heilung des Schadens stattfindet.
Der gereifte Gläubige weiß, dass die Gemeinde „eine wunderschöne Braut Christi“ sein soll, „ohne ein hässliches Merkmal“ (Eph 5,15) und er gehorcht deshalb der Aufforderung, „das Böse in der Gemeinde aufzudecken“ (Eph.5,11 ff), damit sie Christus vor der Welt glaubwürdiger repräsentieren kann.
Deshalb ist es für den gereiften Gläubigen nicht schwer zu erkennen, dass die Gemeinde nur von geistlich gereiften Persönlichkeiten geleitet werden kann, die sich den wichtigsten Qualitätsmaßstäben Jesu „Barmherzigkeit, Liebe zum Recht, Treue“ (Mt 23,23) verpflichtet sehen.
Er kann erkennen, dass Gläubige, die selber unrecht tun, ungerecht oder unfair handeln und dieses Verhalten nicht korrigieren, nicht andere Gläubige in der „Heiligung“ anleiten und auch nicht das Heilige Abendmahl austeilen können – wenn man nicht will, dass „Gottes Ehre beleidigt“ wird. (Rö 2,24) Ist man hier gleichgültig, dann wird die Gemeindelehre entsprechend dieser Defizite verbogen. Manipulation und Desinformation werden unentbehrlich, um die fromme Fassade zu wahren.
Deshalb muss es möglich sein, jeden Gläubigen in der Gemeinde ohne Ausnahme auf Fehlverhalten hin anzusprechen, ihn zur Umkehr aufzufordern und bei Starrsinnigkeit geeignete Maßnahmen zu treffen, unabhängig davon, welche Funktion oder welchen Rang oder welche früheren Verdienste er hat.
Für den geistlich reifen Gläubigen ist es nicht schwer zu sehen: niemand in der Gemeinde, auch der hauptamtliche Mitarbeiter nicht, steht über dem Recht, sondern alle Gemeindeglieder müssen bereit sein, sich nach dem Scheitern eines Vermittlungsgesprächs einer Untersuchung durch ein unparteiisches Schiedsgericht zu stellen, das im Auftrag der Gemeinde entscheidet – wenn sie denn die Gültigkeit des biblischen Maßstabs „Gerechtigkeit“ respektieren und Wert auf eine Kultur der Fairness legen.